04 September 2014

Mehr Schutzpflicht wagen? In den USA beschäftigt die Abtreibungsfrage erneut die Gerichte

Fragen nach den Rechten und Pflichten im Zusammenhang eines Schwangerschaftsabbruchs haben die Staatsrechtswissenschaft dies- und jenseits des Atlantiks schon ausgiebig beschäftigt. Da es sich naturgemäß um ein sehr trauriges und auch religiös aufgeladenes Thema handelt, neigt man als säkular sozialisierter Europäer dazu, die vornehmlich US-amerikanische Debatte nur widerwillig zu verfolgen (eine Ausnahme hier). In Deutschland scheint die Abtreibungsfrage kaum noch umstritten. Innerhalb Europas nimmt man eher genervt und am Rande wahr, dass dies vor allem in Irland noch anders ist und auch in Ungarn mit dem Thema noch Verfassungspolitik gemacht wird. Die meisten halten sich sich– wie insbesondere der EuGH aber auch der EGMR – aus der Frage weitgehend heraus. Das heißt nicht unbedingt, dass man in Kauf nehmen will, dass die betroffenen Frauen für eine Abtreibung in andere Mitgliedstaaten reisen müssen, in Suizidgefahr oder in die Hände von medizinischen Amateuren geraten. Man kann aber diesbezüglich im Gegenteil auch nicht von einer europaweiten Empörung sprechen. Vielleicht ist dies ein Indiz dafür, dass der bisherige europäische Weg der nur begrenzten Inkorporation von EU-Grundrechten so falsch nicht war. Die Abtreibungsfrage scheint noch fest im nationalen Verfassungsdiskurs verhaftet. Dies kann man aber natürlich auch genau umgekehrt sehen und darauf setzen, dass einer juristischen Aufarbeitung auf gemeineuropäischer Ebene eine entsprechende politische Öffentlichkeit folgen würde. Oder man verzichtet gleich auf letzteres.

Unabhängig von der problematischen Situation in Irland, sollte man sich auch als deutscher Jurist mit Fragen rund um den Schwangerschaftsabbruch auseinander setzen. Schließlich verdanken wir diesem Thema eine ganze Grundrechtsdimension. In Deutschland hat das BVerfG 1975 anhand dieser Frage entschieden, dass der Staat eine Pflicht zum Schutz des noch ungeborenen Lebens habe. Die Grundrechte verpflichten den Staat des Grundgesetzes auch zum Schutz. Allerdings sollte man sich auch im Rückblick nicht täuschen. Die Rechtsprechung der Karlsruher Richter kann man auch als Antwort auf das sozialliberale Reformprogramm verstehen, das Willi Brandt mit dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ beworben hatte.

Obwohl das BVerfG in seiner Entscheidung sogar den US Supreme Court mit seiner bahnbrechenden Entscheidung in Roe v. Wade aus dem Jahr 1973 zitierte, könnte der Unterschied zum US-Verfassungsrecht hier kaum größer sein. Der US Supreme Court erklärte die Frage zur Privatsache der betroffenen Frau. Der Staat habe hier nichts zu schaffen. Später hat der Supreme Court gewisse Einschränkungsmöglichkeiten erlaubt, die aber nicht zu einer unangemessenen Hürde (undue burden) bei der Wahrnehmung des Rechts führen dürften. Wir haben es hier mit einer der wenigen Stellen im US-Verfassungsrecht zu tun, an der mehr oder weniger explizit eine Art Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt wird. Das Recht der Frau, selbst über ihren Körper zu entscheiden, wurde dabei (nur) als starkes Abwehrrecht verstanden. Mangels Horizontalwirkung der US-Grundrechte stand der Schutz des ungeborenen Lebens gegenüber der Mutter nicht zur Disposition. Bekanntermaßen hat der Supreme Court auch später (1989) in einem anderen Zusammenhang ausdrücklich festgestellt, dass die US-Verfassung keine grundrechtliche Schutzpflicht kenne.

Umso interessanter ist die aktuelle Debatte in den USA. Es geht dabei um neue Auflagen für Abtreibungskliniken, wie sie fast identisch in Texas, Mississippi, Louisiana und Alabama beschlossen wurden. Bisher finden Schwangerschaftsabbrüche dort oft in kleinen spezialisierten Praxen statt. Indem jedoch die Anforderungen an Sicherheits- und Hygienestandards drastisch erhöht worden waren, zwang man viele der Praxen zu schließen, da sie nicht für die über eine Million Dollar teure Aufrüstung zahlen konnten. Das Ganze war Teil einer halbherzig verschleierten Aushebelung des Abtreibungsrechts. In konservativen Staaten gewinnt man als Gouverneur und Abgeordneter dafür an Popularität. In Mississippi hätten die beschlossenen Gesetzesreformen sogar zu der Situation geführt, dass eine Abtreibung innerstaatlich gar nicht mehr möglich gewesen wäre. In Texas wären am Ende nur noch sechs der vor zwei Jahren noch 41 Abtreibungskliniken übrig geblieben.

Inzwischen wurde das Gesetz in Mississippi vorerst von einem Bundesberufungsgericht in New Orleans gestoppt. Kernfrage war in diesem Prozess interessanter Weise nicht, ob die Neuregelung selbst unangemessene Hürden aufgestellt hatte. Vielmehr war eine vorgelagerte Frage entscheidend: Hätte sich Mississippi nach Schließung aller innerstaatlichen Abtreibungskliniken darauf berufen können, dass noch eine Fahrt in die Kliniken der Nachbarstaaten möglich sei? Das Gericht verneinte dies ganz grundsätzlich. Für die Frage, ob das Recht auf Abtreibung gewahrt sei, könne der Staat nur auf innerstaatliche Praxen abstellen. Wir beobachten hier also das bundesstaatlich bemerkenswerte Ergebnis, dass der Gliedstaat durch Bundesverfassungsrecht von Bundesrichtern dazu gezwungen wird, eigene Abtreibungskliniken bereit zu stellen, um das bundesverfassungsrechtliche Recht auf Abtreibung zu wahren. So ganz fremd scheint dem US-Verfassungsrecht hier eine grundrechtliche Schutzpflicht also vielleicht doch nicht zu sein. Man erkennt dabei auch die strukturelle Verbundenheit von Verhältnismäßigkeit und Schutzpflicht. Grundrechte warten nicht einfach auf Eingriffe, sondern verdanken im regulierenden Staat ihre Existenz immer auch staatlichen Strukturen. Wenn diese nicht gegeben sind, dann ist dies evident unverhältnismäßig.

Auch in Texas hat ein Bundesgericht inzwischen die vollständige Implementierung der Reform gestoppt. Da hier jedoch noch innerstaatlich Abtreibungspraxen erhalten geblieben wären, musste sich der Richter in die Prüfung begeben, ob eine unangemessene Hürde vorlag. Bei sechs Abtreibungskliniken in einem Staat, der knapp doppelt so groß wie Deutschland ist, fiel es allerdings nicht schwer, von einer unangemessenen Beeinträchtigung abtreibungswilliger Frauen auszugehen. Gerade für auf dem Land lebende unterprivilegierte Frauen kreiert es eine Vielzahl von Problemen, wenn sie über 200 Meilen zu einer Abtreibungsklinik fahren müssen.

Natürlich ist dies nicht das Ende der Debatte. Die Verfahren gehen in die nächsten Instanzen. Angesichts der jüngsten religiös-konservativen Phase des US Supreme Courts, erwartet man sich von ihm jedoch kaum neue Impulse für eine grundrechtliche Schutzpflicht. Im Vergleich zum BVerfG begegnet uns hier also die Schutzpflichtfrage unter umgekehrten politischen Vorzeichen.


4 Comments

  1. Peter Camenzind Thu 4 Sep 2014 at 20:22 - Reply

    Der Supreme Court hat doch anscheinend nicht entschieden, dass der Bundesstaat selbst ausreichend Abtreibungsmöglichkeiten bereit zu halten habe, sondern nur, dass er Abtreibungen nicht unverhältnismäßig durch belastende Maßnahmen zu erschweren habe.
    Keine Ahnung und ohne allzu kleinkariert sein zu wollen: das scheint u.U. eine Frage der Zulässigigkeit einer mittelbaren Beschwer durch staatliches Handeln und weniger eine Frage einer staatlichen Schutzpflicht zu sein?

  2. Christopher Fri 5 Sep 2014 at 09:46 - Reply

    Genau.
    Der US Supreme Court hat dem Staat verboten, unangemessene Hürden aufzustellen.
    Und daraus leitet jetzt ein Bundesberufungsgericht ab, dass ein Staat dafür Sorge tragen muss, dass es auch wirtschaftlich möglich ist, eine Abtreibungsklinik zu betreiben.
    Da ist vielleicht dann die Grenze zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht überschritten, oder?

  3. D. Elshorst Tue 9 Sep 2014 at 19:35 - Reply

    Testfrage: Sagt das Gericht, dass Mississippi eine staatliche Abtreibungsklinik einrichten muss, wenn die drei Ärzte in der heute bestehenden Klinik in Rente gehen und sich keine Nachfolger finden ? Antwort: Nein, nirgendwo.

    Es stimmt auch nicht, dass das Gericht sagt, der Staat Mississippi müsse dafür Sorge tragen, dass es wirtschaftlich möglich sei, in Mississippi eine Abtreibungsklinik zu betreiben. Wörtlich: “Nothing in this opinion should be read to hold that any law or regulation that has the effect of closing all abortion clinics in a state would inevitably fail the undue burden analysis.”

    Das Gericht verbietet es dem Staat nur, aus föderalismustheoretischen Gründen, sich bei der “undue burden”-Prüfung auf die Praxis anderer Bundesstaaten zu berufen.

    Also sind wir wohl doch noch recht weit entfernt von der Schutzpflicht im Sinne deutscher Grundrechtsdogmatik.

  4. Christopher Mon 6 Oct 2014 at 13:15 - Reply

    Der Beitrag behauptet ja nicht, dass in den USA nun eine Schutzpflicht im Sinne deutscher Grundrechtsdogmatik anerkannt würde.
    Es geht darum, dass es hier interessante Annäherungen gibt.
    Und in dem von D. Elshorst zitierten Zitat ist das “inevitably” doch spannend. Der Staat muss wohl kaum Ärzte für Abtreibungskliniken abstellen, wenn sich bspw. kein Arzt mehr dafür interessieren würde. Aber ab wann ist der Staat dafür verantwortlich, dass der Beruf nicht mehr wirtschaftlich vertretbar ausgeübt werden kann? Und warum soll sich bspw ein sehr kleiner Staat nicht darauf berufen können, dass es in den angrenzenden Nachbarstaaten Kliniken gibt?
    Und nicht zuletzt sollte man wohl kaum davon ausgehen, dass diese und ähnliche Fragen im Sinne einer “deutschen Grundrechtsdogmatik” “geklärt” wären..

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