Mehr Wissenschaft in der Rechtswissenschaft
Als erste juristische Fachgesellschaft in Deutschland hat die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer auf die Plagiatsaffären der jüngeren Vergangenheit reagiert und auf ihrer letzten Jahrestagung in Kiel in einem Akt der Selbstvergewisserung nahezu einmütig 50 Leitsätze zur guten wissenschaftlichen Praxis im Öffentlichen Recht beschlossen. Diese Leitsätze sind seit kurzem im Internet abrufbar. Das Spektrum des Papiers reicht von Fragen der Autorschaft über Zitierregeln und Details der Promotionsbetreuung bis hin zu Transparenz bei Gutachten und Zweitveröffentlichungen.
Wissenschaftsbetrug wird es immer wieder geben. Keine Disziplin ist davor gefeit. Aber jedes Fach ist gut beraten, Vorkehrungen zu treffen, die sich den disziplinären Eigenheiten fügen – auch, damit nicht plötzlich die häufig meinungsstarke und urteilsarme Schwarmintelligenz der Wissenschaft ins Stammbuch schreiben kann, was fachliche Standards sind.
Der wissenschaftliche Nachwuchs sollte das Papier der Staatsrechtslehrer genau studieren, um Fehler zu vermeiden und sich selbst zu schützen. Hochschulleitung und Professorenschaft sind gefordert, den Fakultätsbetrieb entsprechend auszurichten und wo nötig, neu zu justieren: Die Betreuung von Promovierenden ist zeitaufwändig; mehr als zehn Doktoranden können nicht ernsthaft begleitet werden. Die Gutachten für Dissertationsschriften sind in der Regel innerhalb von drei Monaten zu erstellen. Wissenschaftlichem Nachwuchs ist ausreichend Gelegenheit zu eigener Forschung zu geben. Habilitanden sollen selbständig lehren können. Wer Textentwürfe liefert, hat Anspruch auf Ausweis seiner Autorenschaft. Im Umkehrschluss heißt das auch: Es ist schlechte wissenschaftliche Praxis, Lehrbücher und Kommentare von Mitarbeiter schreiben zu lassen und dann unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Es verstößt gegen das Ethos der Wissenschaft, Promovierende nur zweimal, nämlich bei der Ausgabe des Themas und der Abgabe der Arbeit, zu sehen. Doktoranden müssen nicht hinnehmen, dass die Dissertationsschrift nach Abschluss des Verfahrens nur noch von rechtshistorischem Interesse ist, weil die Gutachter sie liegen lassen. Man mag über den Umfang solcher Erscheinungen streiten. Einig ist sich die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht jedenfalls in einem: Das gehört sich nicht!
Das Papier widmet sich auch Fragen der Organisation und der Verfahren: feste Prüferpaare müssen vermieden werden, um den Kontrolleffekt nicht zu unterminieren. Qualifikationsschriften sollten auch in elektronischer Form eingereicht werden, um Stichproben in Datenbanken und Suchprogrammen zu erleichtern. Bewertungen haben den Beitrag einer Dissertation zum wissenschaftlichen Fortschritt präzise zu benennen. Die mündliche Doktorprüfung soll zu Teilen der Verteidigung der Arbeit dienen, um die intellektuelle Urheberschaft prüfen zu können.
Mit anderen öffentlich diskutieren Vorschlägen mochte sich die Staatsrechtslehrervereinigung nicht anfreunden: obligatorische externe Drittgutachten bei mit der Höchstnote bewerteten Dissertationen sind nicht sonderlich hilfreich. Der Nutzen eidesstattlicher Versicherungen wird gemeinhin überschätzt. Neben Graduiertenschulen soll die Individualbetreuung, neben den an den Lehrstühlen beschäftigten Mitarbeitern sollen externe Doktoranden möglich bleiben. Entscheidend ist mit anderen Worten nicht die Form, sondern die Qualität der Betreuung. Der Ansatz lässt sich hören, wenn er denn konsequent umgesetzt wird.
Mit diesen Leitsätzen der Vereinigung korrespondieren vom Wissenschaftsrat jüngst präsentierte „Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland“. Das Papier analysiert ausführlich den Ist-Zustand der Rechtswissenschaft und empfiehlt strategische Weichenstellungen in der Lehre, der Forschungspraxis und der Forschungsförderung. Nur ein kurzer Abschnitt widmet sich ausdrücklich den Fragen guter wissenschaftlicher Praxis. Doch zeigt der Wissenschaftsrat, wie die von der Vereinigung der Staatsrechtslehrer aufgestellten Regeln und Verfahren eng mit den Herausforderungen innovativer und qualitätsvoller Forschung und Lehre zusammenhängen. Der Wissenschaftsrat fordert eindringlich eine stärkere „Kultur der Wissenschaftlichkeit“ (dazu auch FAZ vom 21. April 2011): Die Internationalisierung und Europäisierung des Rechts betrifft nicht nur Forschungsgegenstände, sondern fordert Anpassungen in der Forschungspraxis: mehr ausländische Gastwissenschaftler an den deutschen Fakultäten, mehr Rechtsvergleichung, mehr Publikationen in englischsprachigen Organen. Die Dominanz der Kommentare, Lehrbücher und praxisnahen Zeitschriftenliteratur in den Publikationsgattungen der Rechtswissenschaft erscheint der Kommission des Wissenschaftsrates als Mangel: neben herausragenden Werken findet sich zu viel oberflächliche Massenware mit zu wenig wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn. Marktinteressen drohen das Erkenntnisinteresse zu dominieren, so die Diagnose. Um der Hyperspezialisierung in immer weiter ausdifferenzierten Teildisziplinen entgegenzuwirken, sollte sich die Rechtswissenschaft stärker mit den gemeinsamen Grundlagen unter Einbeziehung der Nachbarwissenschaften beschäftigen.
Das hat laut Wissenschaftsrat auch Konsequenzen für die Lehre. Das Studium ist zu einseitig auf die Vermittlung von positivem Normwissen und den didaktischen Typus der Falllösung ausgerichtet. Mehr Reflexionswissen, mehr Grundlagenkompetenzen und mehr Methodenbewusstsein sind gefordert. Das Curriculum zum geltenden Recht gehört entschlackt. Die Grundlagenfächer sind zu stärken und in die Lehre des positiven Rechts zu integrieren – nicht als ars gratia artis, sondern um die Fähigkeit der Studierenden zur Systematisierung, Analyse und Kritik zu schärfen.
Die meisten dieser Beobachtungen und Empfehlungen sind richtig, aber nicht neu. Zum Beharrungsvermögen in der deutschen Rechtswissenschaft trägt nicht zuletzt ein beträchtlicher der Teil der Studierenden bei, der allen bisherigen Anstrengungen zur Intellektualisierung der juristischen Ausbildung ausweicht und sich zur Not den Seelentröstern der professionellen Repetitorien anvertraut. Wie diese Studierenden in einem Massenfach (noch dazu bei doppelten Abiturjahrgängen) für eine gehaltvolle Wissenschaft vom Recht begeistert werden können, lässt der Wissenschaftsrat offen.
Schön wäre es, wenn Mitglieder der Staatsrechtslehrervereinigung, die gegen das Regelwerk verstoßen, die Vereinigung verlassen müssten….
” Der Nutzen eidesstattlicher Versicherungen wird gemeinhin überschätzt.”
das sind sowieso keine echten eidesstattlichen Versicherungen weil die Uni keine zur Abnahme einer Versicherung an Eides Statt zuständige Behörde ist, § 156 StGB greift also nicht. ist also ungefähr so brauchbar wie der amtseid, den der bundeskanzler schwört.
@ Faufu: Das ist in der Allgemeinheit nicht richtig:
“Grds dürfte das [die Entgegennahme der e.V., M.] möglich sein, wenn die einschlägigen Ordnungen eine solche Erklärung vorsehen. Allerdings dürfte wohl die allgemeine universitäre Satzungsgewalt zur Regelung von Prüfungsangelegenheiten nicht genügen, um mittelbar eine Strafbarkeit statuieren zu können. Anders ist dies aber, wenn in den (und sei es Landes-) Gesetzen vorgesehen ist, dass die Universitäten solche Erklärungen verlangen dürfen (so etwa in Bayern Art 64 Abs 1 S 1 BayHochSchG) bzw sogar sollen (so neuere Gesetzesinitiativen in Bayern).” (Kudlich, BeckOK StGB, St. 1.12.2012, § 156 Rn. 8.6)
Mit leuchtet es noch nicht einmal besonders ein, weshalb die Satzungsautonomie nicht ausreichen soll, um die Zuständigkeit für die Entgegennahme einer e.V. zu begründen. Aber da mag ich mich irren…
und zack: wir sind beim kern des problems. gratuliere…
” Zum Beharrungsvermögen in der deutschen Rechtswissenschaft trägt nicht zuletzt ein beträchtlicher der Teil der Studierenden bei, der allen bisherigen Anstrengungen zur Intellektualisierung der juristischen Ausbildung ausweicht und sich zur Not den Seelentröstern der professionellen Repetitorien anvertraut.”
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Heinig und Kollegen: Schämen Sie sich für solche Pauschalierung und betreiben sie selbstkritisch Ursachenforschung!
Ich habe soeben die erste juristische Prüfung abgeschlossen und hatte im Rahmen vorlesungsbegleitender Erst- und Zweitsemestertutorien im ZR, SR als auch ÖR bereits Gelegenheit, selbst Erfahrung in der Lehre zu sammeln. Ich möchte Ihren Beobachtungen beipflichten, was die Norm-, Detail- und Falllastigkeit des juristischen Studiums angeht. In einer gewissen logischen Konsequenz treibt das Gefühl der Überforderung mit den Massen an Stoff sowie die allgemeine psychosoziale Angstmache vor dem Examen schließlich zahlreiche hoffnungsvolle Studierende zum kommerziellen Repetitor, oder “Seelentröster” wie Sie sagen.
Zunächst möchte ich betonen, dass letztere selbst soweit Ihnen tatsächlich eine Rolle als “Seelentröster” zukommt, nach mE zum aller größten Teil hervorragende Arbeit leisten – sowohl im materiellrechtlichen als auch im prüfungspsychologischen und -taktischen Bereich. Letztere Aspekte dürften – soweit ich dies überblicke – an den meisten deutschen Universitäten auch in der Examensvorbereitung wohl sträflich vernachlässigt werden. Dies, obwohl Psychologie und Taktik nach mE für das erfolgreiche Bestehen des schriftlichen Teils eine mindestens ebenso große Rolle wie das materielle Wissen spielen.
Die eigentliche Frage lautet doch aber: Weshalb wirken Sie und Ihre Kollegen, die die Art der juristischen Didaktik an den Universitäten in den Händen halten und zeitlich gesehen lange vor den Repetitoren mit den Studierenden in Kontakt kommen, diesen Tendenzen nicht frühzeitig entgegen? Wieso gibt es – soweit ich dies überblicke – an keiner deutschen Universität eine semesterübergreifende Veranstaltung zur juristischen Methodenlehre, in denen mit Studierenden aller Semester Fragen diskutiert werden wie diese: Wie lernt man Jura “richtig”? Welche Differenzierungen in der Lernweise sind zwischen den einzelnen Rechtsgebieten geboten? Wie schaffe ich es, mich mittels Systematisierung und effektivem Einsatz meines besten Freundes “Gesetz” vor den erdrückenden Massen vermeintlich auswendig zu lernender Details zu wappnen?
Ich stelle mir vor, dass es bequemer ist, den Studierenden die Schuld in die Schuhe zu schieben als eigene eingefahrene Lehrmethoden zu hinterfragen und die Betreuung zu intensiveren – und sei es wie dargelegt mit kollektiven Veranstaltungen zu Prüfungspsychologie, -taktik und allgemeiner Methodik.
Insbesondere verwehre ich mich gegen den Vorwurf, die Studierenden würden den “Anstrengungen zur Intellektualisierung der juristischen Ausbildung ausweich[en]”. Als Inhaber eines Lehrstuhls an einer deutschen juristischen Fakultät sollte Ihnen bereits aufgefallen sein, dass zahlreiche junge Studierende gerade wenn sie die Möglichkeit zur Vertiefung und Grundlagenforschung beispielsweise im Rahmen eines Seminars erhalten, förmlich aufblühen und Begeisterung sowie Forschergeist entwickeln, der im Rahmen der Falllösung der üblichen Arbeitsgemeinschaften mittels der “hM” brutal unterdrückt wird. Kluge, begeisterungsfähige und motivierte Köpfe finden sich zwar in besonderem Maße, aber nicht nur in der Studienstiftung, sondern an jeder deutschen juristischen Fakultät im Gros der Studierenden!
Herr Prof. Dr. Heinig und Kollegen- Kehren Sie vor Ihrer eigenen Tür und suchen Sie die Fehler nicht in erster Linie bei überforderten, schlecht betreuten und neuerdings auch noch minderjährigen Studierenden! Werden Sie ihrer Betreuungsverantwortung gegenüber zahlreichen jungen, hochmotivierten, häufig sogar idealistischen juristsichen Talenten gerecht!
Na ja, wenn man will, dass Methodik für Studenten relevant wird, muss es halt auch was wert sein. Ich versteh jeden der bei der Stofffülle die (potentiell) abgefragt wird, Dinge wie Rechtsphilosophie/Methodenlehre/Rechtsgeschichte ignoriert. Das wird halt im Examen nicht geprüft, ähnlich wie bei Familienrecht (zumindest in Bayern) gut auf Lücke gesetzt werden kann. Gäbe es entsprechende Anreize (und nicht der Grundlagenschein, Kinders), sähe es eventuell anders aus.