Meinungsfreiheit nach Charlie Hebdo: das Phantom des doppelten Maßes
“In Frankreich darf man sich über Muslime lustig machen, aber nicht über Juden – ein Beweis, dass diese heimlich das Land regieren.” Das ist im wesentlichen das Leitmotiv des Komikers Dieudonné und seiner Anhänger, der sich seit einigen Jahren darauf spezialisiert hat, die Vorzugsbehandlung anzuprangern, die angeblich Juden zu Lasten anderer Minderheiten in Frankreich genießen. Je mehr man über ihn herfällt, desto mehr Argumente liefert man ihm scheinbar für seine Position.
Am Abend der ungeheuren Demonstration, bei der Millionen von Menschen “Je suis Charlie” skandierten, behauptete Dieudonné auf Facebook, sich wie “Charlie Coulibaly” zu fühlen, der Name des antisemitischen Mörders von Vincennes. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ihn wegen Verherrlichung eines terroristischen Akts zu verfolgen, schien ein Geschenk des Himmels für alle, die behaupten, dass mit zweierlei Maß gemessen wird: Wieder einmal wird Dieudonné attackiert und die Islamophobie von Charlie Hebdo in Schutz genommen. Angesichts des beunruhigenden Erfolgs dieser These vom doppelten Maß sollte man wohl unterstreichen, dass sie auf einer unzutreffenden Darstellung der französischen Rechtslage und Rechtspraxis beruht.
Im französischen Recht, wie anderswo auch, sind bestimmte Ausdrucksweisen gesetzlich verboten – etwa die Verherrlichung von Terrorismus und Kriegsverbrechen, aber auch die Beleidigung, die Verleumdung und die Aufstachelung von Hass, Diskriminierung oder Gewalt gegen Personen mit bestimmten Merkmalen wie Erscheinung, Nation, Ethnie oder Religion. Hingegen gibt es nichts, das es erlaubt, Positionen zu unterdrücken, die sich darauf beschränken, religiöse Überzeugungen zu verletzen. Das französische Recht kennt keine entsprechende Norm zu § 166 des deutschen Strafgesetzbuchs. Man kann mit guten Gründen streiten, ob es opportun ist, sich über den Propheten Mohammed oder koscheres Essen lustig zu machen, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass es legal ist. Hingegen kann verurteilt werden, wer behauptet, dass alle Juden Diebe sind, wer zur Deportation aller Muslime aus Frankreich aufruft oder wer die während des Algerienkriegs eingesetzten Foltermethoden gutheißt. Die Grenze zwischen erlaubt und verboten hängt von der Bedeutung des Gesagten ab, nicht von der Gruppe der damit gemeinten Personen.
Die These vom Doppelstandard stützt sich insbesondere auf eine scheinbare Ähnlichkeit zwischen Dieudonné und Charlie Hebdo. Beide setzen auf Humor und Provokation. Es stimmt, dass diese Art des Diskurses in Frage kommt, um zu bestimmen, ob die verfolgte Ausdrucksweise eine gesetzlich verbotene Hassbotschaft übermittelt. Es obliegt dem Gericht, die Worte bzw. Zeichnungen in ihrem Gesamtzusammenhang entsprechend zu interpretieren.
Dieudonnés Geschick besteht darin, diese Aufgabe zu erschweren, indem er Positionen einnimmt, die antisemitisch aussehen, es dabei aber meistens schafft, eine harmlose Interpretationsmöglichkeit offen zu halten. Sein Quenelle-Gruß ähnelt dem Nazi-Gruß, aber nicht genug, dass man die Ähnlichkeit nicht abstreiten könnte. “Ich fühle mich wie Charlie Coulibaly” scheint klar Solidarität mit dem Mörder auszudrücken, aber das hindert ihn nicht hinterher zu behaupten, es sei ihm um die Behandlung eines einfachen Provokateurs (Charlie) wie der Staatsfeind Nr. 1 (Coulibaly) gegangen. Dieser geschickte Einsatz von Zweideutigkeit verstärkt sicherlich die Verführungskraft Dieudonnés, während sie ihm ermöglicht zu behaupten, die voreingenommene Deutung seiner Worte beweise nur den Eifer, mit der man ihn verfolge.
Aus Sicht des Richters spielen jedoch solche nachträglichen Erklärungen keine Rolle. Seine Aufgabe besteht darin festzustellen, wie ein gewöhnlicher Mensch die Äußerung verstanden hätte. Dass es sich um “Humor” handelt, ist in dieser Hinsicht nur ein Kriterium unter anderen und keine Möglichkeit, systematisch einer Verurteilung zu entgehen. Ein Komiker kann sich auch ernst äußern, und Dieudonné hat in seinen zahlreichen Videos im Internet darauf nicht verzichtet. Vor allem aber verliert eine Ausdrucksweise nicht jegliche Bedeutung, nur weil sie in einem Rahmen geäußert wurde, die suggeriert, dass sie nicht buchstäblich zu verstehen sein soll. Die Botschaft ist übertrieben formuliert, aber die Botschaft bleibt. Man kann hierfür die sehr deutlichen Erklärungen des Reichsgerichts von 1928 heranziehen:
Es ist der Satire wesenseigen, dass sie, mehr oder weniger stark, übertreibt, deshalb dem Gedanken, den sie ausdrücken will, einen scheinbaren Inhalt gibt, der über den wirklich gemeinten hinausgeht, jedoch in einer Weise, dass der des Wesens der Satire kundige Leser oder Beschauer den geäußerten Inhalt auf den ihm entweder bekannten oder erkennbaren tatsächlich gemeinten Gehalt zurückzuführen vermag, also erkennt, dass tatsächlich nicht mehr als dieser geringere Inhalt gemeint ist. […] Daraus folgt, dass eine satirische Darstellung nicht nach ihrem Wortsinn genommen werden, sondern erst des in Wort und Bild gewählten Gewandes entkleidet werden muss, bevor beurteilt werden kann, ob das, was in dieser Form ausgesprochen oder dargestellt ist, den Tatbestand eine strafbaren Handlung, im besondere eine Beleidigung […] enthält (RGSt 62, 183).
Eine richtig interpretierte Karikatur kann somit eine rassistische Botschaft transportieren. Das war aber bei den von Charlie Hebdo publizierten Karikaturen schlicht nicht der Fall, wie die französischen Gerichte befanden. Genauso können Äußerungen während einer Vorstellung eine Verurteilung nach sich ziehen. Man kann mit einer komischen Darstellung oder mit einem Witz eine Idee kommunizieren. Es obliegt dem Richter zu entscheiden, wie die Äußerung vernünftigerweise zu verstehen ist: Geht es darum, Rassismus anzuprangern, indem man ihn imitiert, oder darum, ihn zu übernehmen? Wenn man den Äußerer von der rassistischen Äußerung nicht trennen kann, ist eine Verurteilung wahrscheinlich. Ein Radiomoderator wurde verurteilt, weil er gesagt hatte, Superman fliege von Haus zu Haus und Musulman von Supermarkt zu Supermarkt (frz. “voler” = fliegen bzw. stehlen). Ein Imitator wurde verurteilt, weil er sich als Jean-Marie le Pen verkleidet und dabei gesungen hatte: “Zerschlagt die Schwarzen”, ohne dass die Zuschauer irgendeine Distanzierung vom Rassismus wahrnehmen hätten können. Dieudonnés zahlreiche ernste und judenfeindliche Äußerungen sprechen nicht sehr für eine wohlwollende Interpretation seiner Worte.
Die beiden besagten Beispiele sind bei weitem nicht die einzigen. Hassäußerungen sind verboten und werden verurteilt, ob sie sich gegen Juden oder Schwarze oder Muslime richten. Das französische Recht erlaubt es nicht, Dieudonné zu verurteilen, wenn er den Staat Israel kritisiert, aber es erlaubt es, wenn er zum Hass gegen Juden anstachelt. Die Mohammed-Karikaturen hatten ein religiöses Dogma im Visier, nicht eine Bevölkerungsgruppe. Die beiden Fälle sind unterschiedlich, der Doppelstandard existiert nicht und man kann ohne jeglichen Widerspruch Charlie sein, ohne Dieudonné zu sein.
Übersetzung aus dem Französischen: Maximilian Steinbeis
Die Unterscheidung zwischen den Hebdo Karrikaturen und der Äußerung Dieudonnés ist doch an den Haaren herbei gezogen. Selbstverständlich richten sich die Karrikaturen gegen eine Bevölkerungsgruppe – gegen wen denn sonst? Was machen denn die Karrikaturen, wenn nicht zum “Hass gegen Muslime anstacheln”? Außerdem: Um welches religöses Dogma sollte es denn den Karrikaturen eigentlich gehen? Dem Dogma Mohammed nicht als Penis darstellen zu dürfen? Zu guter letzt: Wie stachelt die Äußerung Dieudonnés denn zum Hass an?
@ Karl Fleischer
Sie sollten mal nach der Definition von “Karikatur”
und von “Rassismus” schauen.
Zumindest im Deutschen Recht ist für Interpretationen zum Zwecke der Strafverfolgung kein Raum. Wenn etwas zweideutig ist, dann darf dies nicht einfach in der strafbaren Variante ausgelegt werden. Soweit mir bekannt, ist das in Frankreich genauso.
Ansonsten landen wir bei der Scharia, wo man für “Gotteslästerung” ausgepeitscht und 10 Jahre weggesperrt wird, wobei die dortigen Gerichte sehr frei sind einem gerade jene Gotteslästerung in den Mund zu interpretieren.
Es ist schlicht eine Wahrheit, dass man in D und in F negatives über Muslime, Politiker oder Länder sagen darf, jedoch nichts negatives über Juden; dann ist man sofort ein Rechtsradikaler bzw. Nazi. Gerade so, als ob Israel und viele Juden (genauso wie eben alle anderen auch) keinen Dreck am Stecken hätten. Kritik wird unterdrückt, indem man die Kritiker diskriminiert.
Ich habe nichts gegen Muslime, Juden oder Indianer, wohl aber etwas dagegen meine Meinung nur eingeschränkt sagen zu dürfen. Und da macht es eben einen Unterschied, ob sich die Meinung auf Muslime, Juden oder Indianer bezieht.
[…] Thomas Hochmann schreibt im Verfassungsblog über eine vermeintliche Ungleichbehandlung von Religionssatire in Frankreich. […]
@ Scharnold Warzenegger
Dem muss ich wiedersprechen.
http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/linke-verweigern-diskussion-ueber-islam-und-gewalt-13377388.html
[…] Thomas Hochmann schreibt im Verfassungsblog über eine vermeintliche Ungleichbehandlung von Religionssatire in Frankreich. […]
[…] genommen. So wurde auch der Komiker Dieudonné M’Bala M’Bala, dessen Fall bereits auf diesem Blog besprochen wurde, auf der Grundlage von einem erstinstanzlichen Pariser Strafgericht zu 2 Monaten Haft mit […]
[…] raisons. L’humoriste Dieudonné M’bala M’bala, dont le cas avait été évoqué dans un billet précédent, a finalement été condamné par le Tribunal correctionnel de Paris à deux mois de prison avec […]