Wo das Unionsrecht hinreicht, da reicht auch die Grundrechtecharta hin
Verstößt Schweden, wenn es Steuerhinterzieher doppelt bestraft, gegen die Europäische Grundrechtecharta? Wer die Sache unbefangen betrachtet, wird da ins Grübeln kommen. Die GRC ist gegen die Union gerichtet, sie soll verhindern, dass die EU ihre Hoheitsgewalt auf grundrechtswidrige Weise einsetzt. Was hat das schwedische Steuerstrafrecht mit der Union zu tun?
Aber wer so denkt, denkt nicht wie der EuGH.
Der hat heute ein Urteil zu der höchst umstrittenen Frage veröffentlicht, wie Art. 51 I 1 GRC auszulegen ist:
Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
Es ging um einen Schweden, der irgendwas bei der Mehrwertsteuererklärung falsch gemacht hatte und daraufhin erst eine saftige Strafsteuer aufgebrummt bekam und dann wegen Steuerhinterziehung angeklagt wurde. Das Gericht fand in der EMRK und in der GRC das Verbot der Doppelbestrafung und legte dem EuGH die Frage vor, ob das der Bestrafung des Mannes entgegenstehe.
Alle Regierungen, die Stellungnahmen abgaben, sogar die Kommission hielt den EuGH zur Beantwortung dieser Frage für unzuständig: Wieso soll es sich, wenn schwedische Behörden und Gerichte einen Schweden nach schwedischem Strafrecht wegen Verstoßes gegen schwedisches Steuerrecht belangen, um “Durchführung von Unionsrecht” handeln?
Oh, sagt da der EuGH, ganz einfach: Der Mann hatte doch Mehrwertsteuer hinterzogen. Und da gibt es die Mehrwertsteuerrichtlinie. Die verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Mehrwertsteuerhinterziehung effektiv zu bekämpfen. Und das reicht. Denn, so der EuGH
wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.
Allerdings gesteht der EuGH gleichzeitig zu, dass in Fällen, wo “das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird”, die nationalen Gerichte obendrein auch ihre nationalen Schutzstandards anwenden dürfen – soweit sie dabei “weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts” beeinträchtigen.
Was macht nun der EuGH mit dieser Möglichkeit, die Schweden vor sich selbst zu schützen? Nichts.
Zu der Frage, ob das schwedische Sanktionssystem gegen ne bis in idem verstößt, fällt ihm nur ein, dass die Mitgliedsstaaten frei sind in der Wahl der Mittel, Steuerhinterziehung zu sanktionieren, solange sie dabei nicht zwei Mal strafrechtliche Sanktionen verhängen, was das nationale Gericht nach nationalen Standards prüfen müsste.
Zuletzt stellt der EuGH klar, dass die schwedische Regel, bei Verstößen gegen EMRK oder GRC schwedisches Recht nur dann unangewendet zu lassen, wenn der Verstoß ganz klar und deutlich ist, so nicht geht.
Apropos Grundrechtecharta, es gab heute noch ein anderes EuGH-Urteil Melloni, das den EU-Haftbefehl betrifft und die Reichweite von Art. 53 GRC. Das würde sicher eine eingehendere Betrachtung lohnen, aber ich komme hier jetzt erstmal nur dazu, darauf zu verlinken.
[…] EuGH zu Grundrechte-Charta: In einem Fall aus Schweden (AkerbergFransson) hat der Europäische Gerichtshof die Anwendbarkeit derEU-Grundrechte-Charta offensiv weit ausgelegt, obwohl ihn mehrereMitgliedstaaten, die EU-Kommission und der Generalanwalt für unzuständighielten. Konkret ging es um das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis inidem) bei der Ahndung von Mehrwertsteuerhinterziehung. Es berichten dieSZ (Wolfgang Janisch), die taz (Christian Rath) und der Verfassungsblog (Max Steinbeis). […]
Na, ist doch fein. Offenbar war der EuGH hier nicht daran interessiert, den schwedischen Behörden in die Parade zu fahren, sondern nur, sich in der Frage der Zulässigkeit ein bisschen locker zu machen. Das ist nicht gleich der Big Bang einer umgekehrten Solange-Doktrin, wie er in diesem Blog vor einem Jahr ausführlich diskutiert wurde – https://staging.verfassungsblog.de/de/category/schwerpunkte/rettungsschirm-fuer-grundrechte -, öffnet aber dem EuGH die Möglichkeit, in mehr Fällen seine eigene Grundrechtedoktrin anzuwenden, wenn der nationale Grundrechteschutz nicht an das europäische Niveau heranreicht. Wem an einem hohen Grundrechtestandard gelegen ist, der sollte das eigentlich begrüßen…
@Manuel
Also, die umgekehrte Solange-Doktrin scheint mir weniger ein Big Bang als das hier. Bei Reverse Solange ist dafür gesorgt, dass das nur als eine Art Reserve-Notanker zum Einsatz kommt, wenn der nationale Grundrechtsschutz generell versagt. Hier dagegen sind dem EuGH kaum Grenzen gesetzt – außer man versteht diesen Absatz mit dem nationalen Schutzniveau als eine Art Solange-Vorbehalt. Mir scheint aber, das heißt nur, dass der EuGH den nationalen Grundrechtsschutz respektieren kann, aber nicht muss.
Ein Big Bang müsste doch jedenfalls der Anfang von etwas neuem sein. Auf meinen ersten Blick sieht das aber doch eher wie die Fortsetzung von etwas altem aus. Die Anwendung von Unionsgrundrechten auf den gesamten Anwendungsbereich des Unionsrecht ist doch aus den alten Grundrechten der allgemeinen Rechtsgrundsätze bekannt und auch schon zu Art. 51 GRC rechtgesprochen worden (Rs. N. S.)? Dann wäre neu nur, dass auch die Anwendung der strafrechtlichen Sekundärrechtsordnung dann in den Anwendungsbereich fällt, wenn sie die Verletzung unionsrechtlich determinierten nationalen Rechts sanktioniert. Und das ist doch jedenfalls dann konsequent, wenn die oder irgendeine Sanktion ihrerseits vom Unionsrecht gefordert wird. Genau das ist doch offenbar auch der Ausgangspunkt des Gerichtshofes (Rn. 25 ff. d. Urt.). Dann wäre an der Erstreckung auf die Sekundärrechtsordnung eigentlich schon nichts neues mehr.
[…] verdeutlicht der Sachverhalt den Kern des Rechtsproblems. Herr Åkerberg Fransson hatte in den Jahren 2004/05 ca. 74.000 EUR an […]
[…] it gets even more interesting with Pfleger, when we also consider how the CJEU’s recent case-law had provoked bad blood. The CJEU’s Åkerberg Fransson decision constructed the meaning of […]