Mind the Gap! Schwierigkeiten der Rechtsstaatlichkeit in der EU
Über Gesundheit und Mehrdeutigkeit
Nach Paul Craig, dem britischen Rechtsprofessor, soll gegenüber jedem, der das Betreten der „Welt der Rechtsstaatlichkeit“ riskiert, eine Gesundheitswarnung ausgesprochen werden.[1] Dies ergibt sich unter anderem daraus, dass in den Fachdebatten der Rechtswissenschaft gravierende Meinungsunterschiede in Bezug auf den Begriff der Rechtsstaatlichkeit selbst sowie die rechtlichen und politischen Konsequenzen, die aus der Verletzung der Regeln der Rechtsstaatlichkeit resultieren sollten, existieren.
Seit Ende des Kalten Krieges haben sich sowohl internationale Organisationen als auch nationale Regierungen (auch von undemokratischen Staaten) den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit verschrieben, allerdings oft nur in Form eines Lippenbekenntnisses.[2] Daher genoss zwar die Rechtstaatlichkeit eine breite Unterstützung in der internationalen Politik, aber nur auf der rhetorischen Ebene.
Dies hatte Folgen für das Verständnis der Rechtsstaatlichkeit in der EU, denn auch hier kam es nicht zu einer eindeutigen Herauskristallisierung von Bedeutung und Anwendungsumfang dieser Regel. Natürlich lässt sich auch argumentieren, dass der Gerichtshof der Europäischen Union jederzeit die Definition der Rechtstaatlichkeit hätte präzisieren können. Er tat es nicht und zwar gezielt, denn die Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten zur Ausweitung der Rechtsstaatlichkeit im EU-Recht war möglicherweise gerade dank der konzeptuellen und rechtlichen Vieldeutung möglich.
Daraus allerdings entstand eine besondere Konstruktion des Schutzes der Rechtsstaatlichkeit in der EU. Dieser hat nämlich in der EU eine „Dachfunktion“, und zwar unabhängig davon, dass die Rechtstaatlichkeit durch den Art. 2 des EU-Vertrags und durch die Rechtsprechung des EuGH in das EU-Rechtssystem direkt integriert wurde. Eine bloße Verwendung des Begriffes ohne eine definitorische Klärung, vor allem hinsichtlich der Folgen bei der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit, ist ein ernsthaftes Hindernis bei der Ahndung des Regelbruchs.
Der EuGH hat sich mangels einer klaren Definition der Rechtsstaatlichkeit im EU-Recht immer wieder auf allgemeine rechtliche Regeln berufen, die den Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten gemein sind.[3] Damit verortet der EuGH die definitorischen Quellen der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten selbst. Dadurch folgt das Verfahren bei der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit nach Art. 7 und Art. 49 des EU-Vertrages eher einer politischen und weniger einer rechtlichen Logik. Somit unterliegt die endgültige Entscheidung über etwaige Sanktionen gegenüber den Mitgliedstaaten vor allem EU-politischen, geopolitischen und wirtschaftsutilitaristischen Kriterien.
Konstruktion oder Pfadabhängigkeit?
Politikwissenschaftler weisen darauf hin, dass Regelwerke, und damit auch Rechtssysteme, oft aus einer Reihe von kontextuellen Entscheidungen resultieren, die über Jahrzehnte hinweg additiv zu suboptimalen und widersprüchlichen Entwicklungen führen können. Mit dem Begriff der Pfadabhängigkeit können institutionelle Ineffizienzen und gar Zusammenbruch von Regelwerken erklärt werden.
Bei den heutigen Schwierigkeiten der Rechtsstaatlichkeit in der EU war ein Zusammenspiel zwischen dem EuGH und den Mitgliedstaaten ausschlaggebend. 1986 beschrieb der EuGH die europäische Gemeinschaft in seinem entscheidenden Urteil in der Sache Les Verts folgendermaßen:[4]
„Dazu ist zunächst hervorzuheben, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft [Hervorhebung durch die Autoren] der Art ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen. Mit den Artikeln 173 und 184 EWG-Vertrag auf der einen und Artikel 177 EWG-Vertrag auf der anderen Seite ist ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist.“
Die Mitgliedsstaaten zögerten zunächst, die Rechtsprechung des EuGH in das Primärrecht einzugliedern. Indem sie jedoch den Maastrichter Vertrag 1993 ratifizierten, erkannten sie an, dass die Rechtsstaatlichkeit eine Regel ist, auf die sich die EU in ihrer institutionellen Identität stützt. Die Regel wurde in den ehemaligen Art. 6 Abs. 1 des EU-Vertrags (heute Art. 2 des EU-Vertrags) und die Charta der Grundrechte der EU aufgenommen.
Allerdings deutete der Lissabonner Vertrag von 2009 die Regel der Rechtsstaatlichkeit als „Wert“ um. Die Ersetzung „der Regel” mit dem Begriff „des Werts” ist problematisch, denn es richtet die Diskussion auf die philosophische Debatte über die Begriffsnatur[5] und weniger auf rechtliche Konsequenzen. Armin von Bogdandy weist darauf hin, dass die im Art. 2 des EU-Vertrags enthaltenen „Werte” als Regeln nur dann zu verstehen sind, wenn sie rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen[6].
Das entscheidende Problem ist nun Art. 7 des EU-Vertrags. Es liegt nahe, zu vermuten, dass die Anwendung des Artikels nicht intendiert und er eher konzipiert wurde, um die institutionelle Identität der EU zum Ausdruck zu bringen. Wurde allerdings tatsächlich beabsichtigt, Art. 7 als eine „Nuklearoption“ zu konstruieren, dann scheiterte die EU gewaltig an dieser Aufgabe. Art. 7 kann gegen eine Regierung des Mitgliedstaates angewandt werden, allerdings nicht, wenn es mindestens eine andere Regierung gibt, die ein Veto gegen das Verfahren einlegt. Es ist kaum nachzuvollziehen, dass die Autoren des Lissabonner Vertrags nicht an ein solches Szenario gedacht haben, zumal frühere Fälle von Sanktionen gegen Österreich im Jahre 2000 kontrovers unter den Mitliedstaaten debattiert wurden. Hinzu kommt, dass die zu bestrafende Regierung die „andere Nuklearoption“ des EU-Austritts (Art. 50 EUV) ins Spiel bringen könnte- ein Instrument, das insbesondere nach dem Brexit-Referendum nicht mehr so unwahrscheinlich erscheint, aber auch bei den Verhandlungen des Lissabonner Vertrages eine Rolle spielte.
Ein „Gap“ beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU
Die EU leidet an einem institutionellen Widerspruch zwischen der zentralen Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit im Rechtssystem der EU und der Unfähigkeit der Union, den Schutz der Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Einerseits handelt es sich bei der Rechtsstaatlichkeit um eine gemeinsame Verfassungsregel aller EU-Mitgliedsstaaten, deren Befolgung eine unabdingbare Konsequenz des EU-Beitritts für Kandidatenstaaten ist. Andererseits ist der Schutz der Regel sowohl auf der EU-Ebene als auch in den Mitgliedsstaaten mit keinen wirksamen Garantien und Rechtsmechanismen versehen. Im Endergebnis bleibt der Schutz der Rechtsstaatlichkeit unwirksam. Daraus ergibt sich ein „Gap“ zwischen der politischen Symbolik und der rechtlichen Praxis.
Auch bevor Ungarn, Rumänien und Polen als Problemfälle für die Rechtsstaatlichkeit durch die EU identifiziert wurden, gab es Anlass zu glauben, dass die „Dachfunktion“ der Rechtsstaatlichkeit in der EU durch eine subjektive und politisierte Auslegung keinen wirklichen Schutz bieten kann. So zeigten z.B. die Beteiligung einiger EU-Staaten an geheimen CIA-Gefängnissen in Europa (vor allem im Kontext der angewandten Foltermethoden und des fehlenden Rechtsschutzes) und die auffallende Reaktionsunfähigkeit der EU deutlich die Grenzen des Schutzes der Rechtsstaatlichkeit in der EU.
Derzeit verfügt die EU über keine wirksamen Mechanismen, die die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten effizient schützen würden. Möglich sind vor allem direkte Stellungnahmen der Europäischen Kommission bezüglich der Rechtstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten gemäß Art. 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, also die sogennante „Soft Method“. Sie stellt zwar eine Reaktion auf Brüche der breit gefassten rechtsstaatlichen Verpflichtungen dar. Dennoch bieten sie keinen rechtlich wirksamen Schutz vor den Verletzungen dieser Regel.
Der Mechanismus wirkt erst in Verbindung mit dem Nachweis der Verletzung des materiellen Rechts (einer konkreten Norm, z.B. der Verletzung von Art. 19 des Vertrags über die Europäische Union oder der Antidiskriminierungs-Richtlinien). Dies ist jedoch in der Anwendung schwierig und in manchen Fällen gar nicht möglich, wie z.B. die Kontroversen um das polnische Verfassungsgericht zeigen. Das Beispiel Polen verdeutlicht, dass mehrere Stellungnahmen der Kommission bezüglich der Entwicklungen im polnischen Rechtssystem seit 2015 völlig unwirksm waren und dass die „Soft Method“ in ernsten Fällen an ihre Grenzen stösst.
Jenseits der rechtlichen Verfahren werden derzeitig direkte finanzielle Strafen wie eine Kürzung der Regionalförderung und der Umverteilungshilfen diskutiert. Solche Maßnahmen erwecken jedoch rechtliche Zweifel und haben tendenziell einen beschränkten Wirkungsumfang, denn die entsprechende Sanktionsentscheidung bleibt im Zuständigkeitsbereich der Ausführungsgewalt und nicht der Justizkontrolle. Damit gibt es Bedenken, ob Sanktionen dieser Art überhaupt mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit vereinbar sind. Das kann wiederum den Eindruck einer politischen und somit tendenziösen Entscheidungsfindung erwecken.
Was bleibt zu tun?
Derzeit sind im Grunde nur direkte Klagen der Europäischen Kommission gegen Mitgliedsstaaten beim EuGH der einzige ernstzunehmende Schutzmechanismus des EU-Rechts. Allerdings können diese ihre Wirksamkeit nur in Verbindung mit der Verletzung des materiellen Rechts (einer konkreten Norm, z.B. Art. 19 des EU-Vertrags oder Antidiskriminierungsrichtlinien) entfalten. Dies ist wesentlich, denn im Falle von rechtsmateriellen Regelungen verfügt die EU über einen direkten rechtlichen Zugriff durch den EuGH. Wenn ein Mitgliedsstaat die vertraglichen Verpflichtungen im materiellen Recht verletzt, z.B. eine Richtlinie nicht implementiert, wird ein relativ effektiver Sicherungsmechanismus angewendet (eine Klage der Kommission und ein Urteil des EuGH). Dies erinnert an Regelungen aus dem Kontext des nationalen Rechts.
Dagegen muss die EU im Falle eines institutionellen Konflikts zwischen der EU und einem Mitgliedsstaat, die „Toolbox“ des Völkerrechts nutzen, deren Wirksamkeit stark von der Kooperationsbereitschaft der betroffenen Länder abhängig ist. Dies ist umso wichtiger als die meisten EU-Mitgliedstaaten in ihren nationalen Verfassungen die EU als eine gewöhnliche internationale Organisation definieren, womit sich immer wieder auf das Primat des nationalen Rechts berufen können.
[1] P. Craig, The Rule of Law [in:] House of Lords Select Committee on the Constitution, Relations between the executive, the judiciary and Parliament, HL Paper 151 2006-2007, S. 97.
[2] Kritisch: U. Mattei, L. Nader, Plunder: When the Rule of Law is Illegal, Blackwell 2008.
[3] Z.B. das Urteil des Gerichts vom 30. Januar 2002 in der Sache T-54/99 max.mobil Telekommunikation gegen die Kommission [2002] S. 48 und 57 – bei Urteilen im Berufungsverfahren findet man keinen Bezug auf die Regel der Rechtsstaatlichkeit: C-141/02 P [2005] vgl. Urteil I-1283.
[4] C-294/83 Les Verts gegen Parlament [1986].
[5] Zu unterscheiden sind grundlegende moralische Regeln (menschliche Würde, Freiheit), auf die sich die EU stützt, und „strukturelle“ Regeln (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit), auf deren Grundlage die EU tätig ist. Vgl. L. Pech, A Union Founded on the Rule of Law – Meaning and Reality of the Rule of Law as a Constitutional Principle of EU Law, European Constitutional Law Review 6/2010, S. 367.
[6] Vgl. A. von Bogdandy, Constitutional Principles [in:] A. von Bogdandy, J. Bast J. (Hg.), Principles of European Constitutional Law, Oxford 2006, S. 9.