14 April 2021

Minister mit Abgeordnetenschutz

Warum Andreas Scheuer seine Abgeordneten-Mails nicht offenlegen muss

Andreas Scheuer und die PKW-Maut haben sich schon lange zu einer regelrechten Saga entwickelt. In der vergangenen Woche fügte Bundesverkehrsminister Scheuer dieser Saga ein weiteres Kapitel hinzu und sorgte damit erneut für Ärger im Bundestag. Entgegen der Aufforderung durch den Ermittlungsbeauftragten des PKW-Maut-Untersuchungsausschusses gab Scheuer keinen Einblick in seine Abgeordnetenmails. Die Reaktion der Opposition folgte auf dem Fuß: Scheuer verheimliche etwas und habe kein Recht, dem Ermittlungsbeauftragten die Zusammenarbeit zu verweigern. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive liegen die Dinge jedoch nicht ganz so einfach. Als Abgeordneter des Bundestages genießt Andreas Scheuer sowohl ein verfassungsrechtlich garantiertes Zeugnisverweigerungsrecht als auch einen entsprechenden Beschlagnahmeschutz, an dem auch der Ermittlungsbeauftragte nicht rütteln kann.

Der Ermittlungsbeauftragte als parlamentarisches Hilfsorgan

Die Aufarbeitung der 2019 gescheiterten PKW-Maut liegt in den Händen eines eigens hierfür eingesetzten Untersuchungsausschusses des Bundestages. Dieser soll unter anderem das Vergabeverfahren, die Kündigung der Verträge zur Erhebung und Kontrolle und die politische Verantwortlichkeit der Bundesregierung untersuchen. Um die dienstlichen E-Mails von Andreas Scheuer zu sichten, bestellte der Ausschuss den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Jerzy Montag zum sog. Ermittlungsbeauftragten.

Verfassungsrechtlich handelt es sich bei Ermittlungsbeauftragten lediglich um ein parlamentarisches Hilfsorgan, das keine weitergehenden Befugnisse hat als der Untersuchungsausschuss selbst. Sie haben die Aufgabe, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss bei der Ermittlung des zu untersuchenden Sachverhalts zu unterstützen. Hierzu können sie auch Beweismittel beschaffen und sichten. Dies erweckt den Eindruck, als hätten sie besondere Kompetenzen. Aber weit gefehlt: Zwar räumt ihnen das Untersuchungsausschussgesetz die Befugnis ein, sich Beweismittel vorlegen zu lassen, diese einzusehen und Personen informatorisch anzuhören. Praktisch haben sie jedoch keinerlei Zwangsbefugnisse und auch nicht das Recht, Personen förmlich zu vernehmen. Kurzum – sie sind auf die Mitarbeit der Zeugen angewiesen. Kooperiert ein Zeuge nicht mit dem Ermittlungsbeauftragten, so bedarf es erst eines ausdrücklichen Beweisbeschlusses des Untersuchungsausschusses, um gegebenenfalls gegenüber Privatpersonen mit gerichtlicher Hilfe auch Zwangsmittel (wie etwa die Beschlagnahme von Gegenständen und Unterlagen) einsetzen zu können.

Politischer Protest als einziges Instrument des Ermittlungsbeauftragten

Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass der Ermittlungsbeauftragte auf die Weigerung Scheuers mit einer „politischen Aktion“ antwortete: Montag schrieb, er sehe keine Möglichkeit mehr, als Ermittlungsbeauftragter tätig zu sein. Etwas anderes als politischer Protest blieb dem Ermittlungsbeauftragten auch nicht übrig, denn der Untersuchungsausschuss hat bislang keinen Beweisbeschluss zur Herausgabe der E-Mails gefasst.

Ohnehin ist fraglich, ob ein solcher Beweisbeschluss überhaupt durchgesetzt werden könnte. Eine Herausgabepflicht würde gegen die Rechte Andreas Scheuers als Abgeordneter des Deutschen Bundestages verstoßen: Herrn Scheuer steht entweder ein generelles Aussage- oder zumindest ein partielles Zeugnisverweigerungsrecht zu.

Umfassendes Aussageverweigerungsrecht eines „materiell Betroffenen“

Keinen Schutz für Scheuer bietet zunächst die Rechtsfigur der „materiellen Betroffenheit“.

In den Untersuchungsausschussgesetzen mancher Bundesländer finden sich Regelungen zum so genannten Betroffenenstatus. Betroffener in diesem Sinne ist derjenige, gegen den sich eine Untersuchung richtet. Ähnlich einem Beschuldigten im Strafverfahren steht dem Betroffenen unter anderem ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht zu. Die Anerkennung als Betroffener muss dabei förmlich vom Ausschuss beschlossen werden.

Auch bei Untersuchungsverfahren der Bundesebene gilt der rechtsstaatliche Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss. Das Untersuchungsausschussgesetz des Bundestages kennt zwar die Rechtsfigur des Betroffenen nicht. Dennoch gilt auch hier, dass es Zeugen gibt, die eines besonderen Schutzes bedürfen. Juristen sprechen insoweit von einer „materiellen Betroffenheit“. Konkret: Wie im Strafverfahren, wo jeder Zeuge gemäß § 55 der Strafprozessordnung die Auskunft auf Fragen verweigern darf, deren Beantwortung ihn belasten würde, gilt dies auch gegenüber einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein in diesem Sinne Betroffener ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht hat. Vielmehr bezieht es sich zunächst nur auf einzelne Fragen. Angaben beispielsweise zur Person oder zu Umständen, die strafrechtlich irrelevant sind, muss der Betroffene durchaus machen und auch die entsprechenden Beweismittel vorlegen. Allerdings kann sich das Aussageverweigerungsrecht zu einzelnen Fragen zu einem umfassenden Schweigerecht ausweiten. Dies ist dann der Fall, wenn die Dinge so eng zusammenhängen, dass letztlich für keine wahrheitsgemäße Antwort auszuschließen ist, dass sie für den Befragten strafrechtliche Konsequenzen haben kann. Dafür hat sich in der Praxis der Begriff der Mosaik-Theorie gebildet: Viele kleine Steinchen (unverdächtige Einzel-Antworten) ergeben ein – strafrechtlich relevantes – Gesamtbild.

Prominentes Beispiel aus jüngerer Zeit: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Wirecard AG, Markus Braun, machte vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages neben den Angaben zu seiner Person keine weiteren Aussagen zur Sache. Soweit ersichtlich, hat Bundesminister Scheuer in den bisherigen Sitzungen des PKW-Maut-Untersuchungsausschusses dagegen nicht geltend gemacht, ganz oder teilweise zur Verweigerung der Aussage berechtigt zu sein. Eine materielle Betroffenheit in dem vorbeschriebenen Sinne dürfte daher nicht vorliegen.

Anvertraute Geheimnisse – Abgeordnete müssen weder Ross noch Reiter nennen

Eine klare Grenze der Kompetenzen des Untersuchungsausschusses bildet dagegen aber Art. 47 des Grundgesetzes (GG), auf den sich auch Andreas Scheuer berufen kann. Bei den in Rede stehenden E-Mail-Postfächern handelt es sich nicht um private oder regierungsamtliche E-Mail-Korrespondenz, sondern um Scheuers Korrespondenz als Abgeordneter des Bundestages. Dies wirft ein Schlaglicht auf einen weiteren Aspekt der Sache: das Zeugnisverweigerungsrecht und den Beschlagnahmeschutz für Abgeordnete.

Nach Artikel 47 GG haben Abgeordnete ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht. Es betrifft zunächst Personen, die sich an den Abgeordneten gewandt haben. Hier muss der Abgeordnete weder mitteilen, was ihm eine Person anvertraut hat, noch, wer die Person war. Dieser Schutz besteht auch umgekehrt: Abgeordnete müssen nicht offenlegen, an wen sie sich mit welchem Anliegen gewandt haben. Kurzum: Abgeordnete müssen weder das Ross (die Tatsache) noch den Reiter (die Person) nennen. Dies gilt auch, nachdem sie aus dem Parlament ausgeschieden sind. Art. 47 GG schützt somit – allerdings nur, soweit es um legale Gespräche geht – das „Berufsgeheimnis“ der Abgeordneten. Dieser besondere Schutz steht Herrn Scheuer nicht als Regierungsmitglied zu, sondern nur, wenn und soweit er als Abgeordneter betroffen ist. Da es hier um die E-Mail-Postfächer geht, die der Bundestag Herrn Scheuer zur Verfügung gestellt hat, spricht zumindest der erste Anschein für ein Zeugnisverweigerungsrecht.

Selbstverständlich könnte Herr Scheuer auf diesen Schutz verzichten. Dies steht allein im Ermessen des Abgeordneten. Denn die Person, die sich einem Abgeordneten anvertraut hat, hat keinen Anspruch auf die Verschwiegenheit des Parlamentariers. Allerdings kann bei einer Aussagebereitschaft der Schaden für die politische Arbeit eines Abgeordneten immens sein. Die Entscheidung bedarf daher der sorgfältigen Abwägung im Einzelfall. Unbeschadet dessen ist unter Verfassungsjuristen anerkannt, dass dieses Zeugnisverweigerungsrecht auch der Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments dient.

Umfassender Beschlagnahmeschutz flankiert Aussageverweigerungsrecht

Der hohe Stellenwert des Zeugnisverweigerungsrechts zeigt sich in seiner verfassungsgesetzlichen Absicherung. Nicht ein „gewöhnliches“ Gesetz, sondern die Verfassung garantiert für den Abgeordneten eine Ausnahme von der Zeugnispflicht als allgemeiner Bürgerpflicht. Darüber hinaus ist auch die Beschlagnahme des E-Mail-Verkehrs vom Verbot in Art. 47 GG umfasst. Die Verfassung hat mit einem besonderen Beschlagnahmeschutz gewissermaßen einen Flankenschutz zum Zeugnisverweigerungsrecht geschaffen: So soll verhindert werden, dass das Recht der Zeugnisverweigerung durch eine Beschlagnahme von Schriftstücken umgangen wird. Denn andernfalls ließen sich aus Schriftstücken Rückschlüsse zu Tatsachen oder Personen treffen, die der Abgeordnete nicht preisgeben muss oder möchte.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: An die E-Mail-Post von Herrn Scheuer als Bundestagsabgeordneter, und nur um den geht es hier, kommt der parlamentarische Untersuchungsausschuss nicht ohne Weiteres heran. Hier gilt über Artikel 47 GG ein umfassender Schutz, auf den nur der Abgeordnete persönlich verzichten kann. Dem schließt sich in der Konsequenz ein entsprechender Beschlagnahmeschutz an. Damit ist zugleich klar, dass auch der Ermittlungsbeauftragte als „Zuarbeiter“ für den Untersuchungsausschuss keine Möglichkeit hat, diesen E-Mail-Verkehr einzusehen.

Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.


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