16 May 2019

Mit der Brechstange: EuGH erfindet Grundrecht auf Arbeitszeit­erfassung

Alle Arbeitnehmer in der EU haben ein Grundrecht auf Arbeitszeiterfassung! Das steht zwar so nirgends, ist aber zum Schutz der Arbeitnehmer vor Überschreitung der Höchstarbeitszeiten bzw. Unterschreitung der Mindestruhezeiten zwingend notwendig und diese Notwendigkeit ersetzt fehlenden Gesetzestext. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 14. Mai 2019 auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Spanien (dazu I.) entschieden (dazu II.) und auch gleich gesagt, wer zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet ist: die Arbeitgeber (dazu III.). Doch so berechtigt der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer durch Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten auch ist – der Zweck heiligt nicht jedes Mittel, jedenfalls nicht einen lockeren Umgang mit der Gewaltenteilung (dazu IV.). 

I. Anlass der Entscheidung

Die Gelegenheit zu dieser Grundsatzentscheidung hat der EuGH dem Nationalen Gerichtshof in Spanien zu verdanken. Dort hat die spanische Dienstleistungsgewerkschaft CCOO die spanische Tochtergesellschaft der Deutschen Bank verklagt, weil die Bank nicht die Regelarbeitsstunden ihrer Beschäftigten, sondern nur die geleisteten Überstunden erfasst hat. Das entsprach dem spanischen Recht, wie der Oberste Gerichtshof von Spanien zuletzt im Jahr 2017 bestätigt hatte. Die CCOO war anderer Auffassung und konnte mit einer Verbandsklage zum Nationalen Gerichtshof eine Überprüfung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs durch den EuGH erreichen.

Die Methode hat Charme: Unterinstanzliche Gerichte schaffen mitunter dringend nötige Rechtssicherheit, wenn sie die Rechtsprechung der vorlagelethargischen Obergerichte einer Überprüfung durch den EuGH zuführen. Regelmäßig fühlen sich daraufhin die Richter an den »umgangenen« Obergerichten düpiert. Hierzulande wurde deshalb schon der Ruf nach einem Vorlagemonopol des Bundesverfassungsgerichts oder jedenfalls der Bundesgerichte laut. Beides wäre freilich mit Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) in seiner derzeitigen Auslegung durch den EuGH unvereinbar (eine Änderung der Auslegung des Artikels ist derzeit ebenso unwahrscheinlich wie eine Vertragsänderung).

II. Verfahrensgrundrecht als vierte Effektuierungsstufe

Um politische Ziele mithilfe von Richtlinien zu verwirklichen, gab es bislang drei Effektuierungsstufen. Nun hat der EuGH für die Einhaltung der Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten eine vierte Stufe hinzugefügt.

1. Stufe: Die politischen Ziele werden im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens in eine Richtlinie gegossen, die sich an die Mitgliedstaaten richtet, ihnen aber überlässt, wie sie die Ziele der Richtlinie in ihrem nationalen Recht umsetzen (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Demgemäß haben Parlament und Rat auf Vorschlag der Kommission zum Zwecke des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer im Jahr 2003 die EU-Arbeitszeitrichtlinie erlassen. Die Richtlinie verlangt für alle Arbeitnehmer eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum (Art. 3) und zusätzlich von 24 zusammenhängenden Stunden pro Sieben-Tage-Zeitraum (Art. 5). Sie erlaubt außerdem maximal eine durchschnittliche Arbeitszeit von 48 Stunden pro Sieben-Tage-Zeitraum (Art. 6). Die Arbeitszeitrichtlinie betont den Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten, indem jeder der genannten Artikel mit den Worten beginnt: »Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit …«.

2. Stufe: Damit die Mitgliedstaaten unliebsame Richtlinien nicht durch ineffektive Umsetzungsmethoden torpedieren (z.B. geschlechtsdiskriminierten Bewerbern nur einen Anspruch auf Erstattung der Bewerbungskosten einräumen), verlangt der EuGH seit jeher eine effektive Richtlinienumsetzung: Verstöße gegen Richtlinienziele müssen von den Mitgliedstaaten wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sanktioniert werden. In Deutschland kann deshalb die Verletzung der genannten Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten mit einer Geldbuße von bis zu 15.000 Euro (§ 22 Arbeitszeitgesetz) und bei vorsätzlicher Gesundheitsgefährdung oder beharrlichen Verstößen mit Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe (§ 23 Arbeitszeitgesetz) sanktioniert werden. Außerdem kann die staatliche Gewerbeaufsicht Arbeitgeber zu konkreten Maßnahmen zur Einhaltung der Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten verpflichten (§ 17 Arbeitszeitgesetz) und Arbeitnehmer müssen Weisungen zur Überschreitung der zulässigen Höchstarbeitszeiten bzw. Unterschreitung der Mindestruhezeiten nicht befolgen (§ 315 Abs. 3 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch).

3. Stufe: Soweit Richtlinien grundrechtlich geschützte Sachverhalte regeln, können sie als Konkretisierung von Unionsgrundrechten verstanden werden und dadurch in den Rang von Primärrecht (also gewissermaßen Verfassungsrang) erhoben werden. Dann kann die Richtlinie »im Licht« des Grundrechts ausgelegt werden, was im Grunde heißt, dass Richtlinie und Grundrecht zu einer »Wundertüte« verschmelzen, aus der alles abgeleitet werden kann, was der praktischen Wirksamkeit (franz. effet utile) des Grundrechts dienlich ist. Mithilfe des effet utile befreit sich der EuGH von dogmatische Zwängen, die in manchen nationalen Rechtsordnungen noch herumgeistern (hierzulande etwa neben der Bindung des Richters an den Zweck einer Regelung auch noch an deren Wortlaut, systematischen Zusammenhang und den Willen des Gesetzgebers). 

Es ist kein Geheimnis, dass die gesetzlichen Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten trotz effektiver Richtlinienumsetzung in der Praxis nicht flächendeckend beachtet werden. Deswegen verwundert es nicht, dass der EuGH die Arbeitszeitrichtlinie als Konkretisierung des Grundrechts auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten versteht, das Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta (GRC) jedem Arbeitnehmer gewährt. Das war für den Urlaubsanspruch (Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie) bereits klar und das hat der EuGH nun auf die Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten erstreckt (Rn. 31 des Urteils). Nun kann der EuGH – ohne den Gestaltungsraum der Mitgliedstaaten bei der Richtlinienumsetzung berücksichtigen zu müssen – volle Grundrechtsverwirklichung verlangen: Die Mitgliedstaaten müssen nicht mehr nur (negativ) Verstöße sanktionieren, sondern (positiv) dafür sorgen, dass die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie zu Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten tatsächlich in jedem Arbeitsverhältnis eingehalten werden (Rn. 42 des Urteils).

4. Stufe: Weil es theoretisch mehrere Wege gibt, für die tatsächliche und flächendeckende Einhaltung der Arbeitszeitvorgaben zu sorgen, und der EuGH den Mitgliedstaaten bei der Effektuierung des Arbeitszeitgrundrechts offenbar kaum mehr zutraut als bei der Arbeitszeitrichtlinie, ist er hier noch einen Schritt weiter gegangen und sagt einfach direkt, was das Grundrecht verlangt: nämlich die Arbeitszeiterfassung in jedem Arbeitsverhältnis (Rn. 50 des Urteils). Diesen Schritt begründet der EuGH im Grunde damit, dass er sich nicht vorstellen kann, wie ohne Erfassung der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer die praktische Wirksamkeit der Arbeitszeitvorgaben »vollständig gewährleistet« werden kann (Rn. 58 des Urteils). Für den EuGH ist die Erfassung jeglicher Arbeitsstunden alternativlos und deshalb im Grundrecht auf Schutz der Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten enthalten.

III. Gewillkürte Grundrechtsverpflichtung der Arbeitgeber

Die Entscheidung wird nicht überzeugender, wenn man sich fragt, warum ausgerechnet die Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet werden, begegnet der Gerichtshof doch allem, was Arbeitgebern einen Spielraum belässt, mit großer Skepsis (Rn. 58 des Urteils). So gesehen hätte eine Verpflichtung der Mitgliedstaaaten zur hoheitlichen Arbeitszeiterfassung näher gelegen. Das hätte auch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC entsprochen, der (nur) die EU und die Mitgliedstaaten in Grundrechtsverantwortung nimmt und nicht Private. Doch über solch kleinliche Wortlautargumente ist der EuGH mithilfe des effet utile bekanntlich längst hinweg und zieht diejenigen zur Verantwortung, von denen er am ehesten die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Grundrechts erwartet. Und das sind in diesem Fall die Arbeitgeber. 

Warum? »Weil das ja klar ist«, könnte man stoiberianisch argumentieren und konkreter hat es der EuGH auch nicht: »Auch wenn die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für die Beachtung der durch die [Arbeitszeitrichtlinie] verliehenen Rechte nicht unbeschränkt sein kann«, verstößt eine fehlende Verpflichtung des Arbeitgebers gegen den effet utile (Rn. 59 und 60 des Urteils). Auch die vom EuGH bemühte Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie (Rn. 62 des Urteils) sagt in Art. 6 Abs. 1 nur, dass der Arbeitgeber »im Rahmen seiner Verpflichtungen« die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmergesundheit zu treffen hat. Das setzt freilich »seine« Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung voraus. 

Hierin liegt mehr als eine methodische Unsauberkeit, denn auch Arbeitgeber haben Grundrechte (vor allem auf unternehmerische Freiheit, Art. 16 GRC) und jede Grundrechtseinschränkung muss »gesetzlich vorgesehen« sein (Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC). Dafür wären Kommission, Rat und Parlament zuständig, die aber gerade keine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung durch Arbeitgeber eingeführt haben (offenbar gab es dafür keine politische Mehrheit), sondern nur bei Fahrtätigkeiten im Straßentransport und in der Binnenschifffahrt. Das räumt der EuGH zwar ein, aber man ahnt es bereits: Auch über diesen Einwand hilft der effet utile hinweg (Rn. 64 und 65 des Urteils). 

IV. Effet utile statt ordentlicher Gesetzgebung 

Das Prinzip der praktischen Wirksamkeit hat nun eine neue Dimension erreicht: Sieht der EuGH die Gefahr, dass das vorhandene Sekundär- und Primärrecht wichtige Ziele des Unionsrechts nicht hinreichend wirksam erreicht, erfindet er ein Grundrecht auf das, was er zur Zielerreichung für zwingend geboten hält. Nachdem mithilfe des effet utile bereits methodische Argumente überwunden wurden, trifft es nun auch die Gewaltenteilung.

Der EuGH hat den Auftrag, »die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge« zu sichern. So haben es die Mitgliedstaaten in Art. 19 Abs. 1 des EU-Vertrags definiert und dem Gerichtshof die Kompetenz zur Verwerfung von Sekundärrecht eingeräumt, falls es unvereinbar mit dem Primärrecht (einschließlich der Grundrechtecharta) sein sollte. Positive Anordnungen darf der EuGH nur einstweilig und nur gegenüber den Beteiligten der bei ihm anhängigen Verfahren (nicht in Vorabentscheidungsverfahren) treffen (Art. 279 AEUV). Selbst das um progressive Verfassungsauslegung sonst nicht verlegene Bundesverfassungsgericht trifft bei Unterschreitung des verfassungsrechtlich zwingenden Schutzniveaus nur eine vorübergehende Anordnung, bis der Gesetzgeber (mitunter innerhalb einer Frist) eine verfassungskonforme Neuregelung getroffen hat. 

Um die Arbeitgeber generell zur Arbeitszeiterfassung zu verpflichten, hätte eigentlich der Unionsgesetzgeber (Kommission, Parlament und Rat) mühsam das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV) durchführen und hierbei die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände anhören müssen (Art. 154 AEUV). Das hätte lebhafte politische Diskussionen ausgelöst und am Ende hätte ein Kompromiss mit Ausnahmen und Umsetzungsfrist gestanden. Das erspart der EuGH den Gesetzgebungsorganen (und den Arbeitnehmern) und verpflichtet stattdessen alle Arbeitgeber mit sofortiger Wirkung zur Erfassung jeder geleisteten Arbeitsstunde. Es gibt offenbar Dinge, die wichtiger sind als Gewaltenteilung.


8 Comments

  1. Fabian Michl Thu 16 May 2019 at 21:18 - Reply

    Lieber Herr Latzel,

    vielen Dank für die konzise, aber vielschichtige Analyse des Urteils, der ich in mancher Hinsicht beipflichten kann. Einen Widerspruch möchte ich mir aber doch erlauben und der bezieht sich auf ihren Hinweis auf die Grundrechte der Arbeitgeber, konkret: die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRC, deren Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein müsse.

    Art. 16 GRC ist, gerade wenn es Arbeitnehmerrechten gegenübergestellt wird – wie Art. 31 Abs. 2 GRC, an dessen Interpretation im konkreten Fall man mit guten Gründen zweifeln kann – ein diffiziles Grundrecht. Denn auch wenn die deutsche Literatur zur Grundrechtecharta das fast einhellig ignoriert oder als unbeachtlich abtut und auch der EuGH damit gelegentlich seine Schwierigkeiten hat, steht die unternehmerische Freiheit unter einem besonderen Vorbehalt. Sie wird „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ anerkannt. Im französischen und englischen Text klingt das noch ein bisschen drastischer: „conformément à“ bzw. „in accordance with“. Man kann das schlichte „nach“ durchaus als „im Einklang mit“ lesen.

    Dieser besondere Vorbehalt steht dort nicht zufällig. Er ist vielmehr Ergebnis eines Kompromisses im Grundrechtekonvent, in dem das arbeitgebernahe „Lager“ auf eine Aufnahme der unternehmerischen Freiheit gedrungen hat, das arbeitgebernahe dies jedoch ablehnte. Ergebnis des in letzter Minute (und daher auch nicht mehr in den Erläuterungen reflektierten) Kompromisses war, dass man die ursprünglich ohne besonderen Vorbehalt vorgesehene unternehmerische Freiheit um den Verweis auf das Unionsrecht und das mitgliedsstaatliche Recht ergänzte, den man bereits beim typischen „Arbeitnehmerrecht“, nämlich dem Recht auf Kollektivverhandlungen und maßnahmen nach Art. 28 GRC vorgesehen hatte (das wiederum das Arbeitgeberlager abgelehnt und das Arbeitnehmerlager gefordert hatte).

    Bei Art. 28 GRC ermöglicht der Vorbehalt – auch ausweislich der Erläuterungen –, die „Modalitäten und Grenzen“ der Grundrechtsausübung zu regeln, mithin Ausübungsregelungen zu treffen, die nicht den Anforderungen des Art. 52 Abs. 1 GRC (der ja ohnehin immer zur Verfügung steht) genügen müssen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das bei Art. 16 GRC anders sein sollte. Im Gegenteil ergibt der im Konvent gefundene Kompromiss zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite nur Sinn, wenn man beide Grundrechte einem vergleichbaren Vorbehalt unterwirft, wie es auch der Wortlaut nahelegt.

    Während der EuGH sich bei Art. 16 GRC insoweit auffällig zurückhält, hat er bei Art. 28 GRC mit dem Regelungsvorbehalt längst ernstgemacht. Bereits vor Inkrafttreten der Charta hat er die Ausübung der kollektiven Arbeitnehmerrechte in den Rechtssachen Viking und Laval nur „im Einklang mit“ dem Unionsrecht als geschützt ausgesehen, was bekanntlich dazu führte, dass sich die Streikmaßnahmen an der Dienstleistungsfreiheit messen lassen mussten. Das setzt sich im Betriebsrentenurteil von 2010 fort, in dem der EuGH auch das Recht auf Kollektivverhandlungen der Dienstleistungsfreiheit unterordnete, jedenfalls sofern dieses nicht „in seinem Kern“ berührt wird. Die Rechtssache Hennings und Mai aus 2011 rundet das Bild ab, wenn als – nicht weiter rechtfertigungsbedürftige! – Grenze der Tarifautonomie die Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie ins Feld geführt wird. Eine Abwägung zwischen den Rechten nach Art. 28 GRC und den kollidierenden Gewährleistungen finden nicht statt. Vielmehr hatte Art. 28 GRC jedes Mal das Nachsehen. Summa summarum lässt sich sagen: Eine Begrenzung der Rechte nach Art. 28 GRC ist jedenfalls dann nicht rechtfertigungsbedürftig, wenn der (wie auch immer zu bestimmende) „Kern“ dieser Rechte nicht berührt ist.

    Nichts anderes kann bei Art. 16 GRC gelten, wenn man den Interessenausgleich der Charta beherzigt (was die h. M., wie gesagt, nicht tut). Vielleicht ist das von Ihnen besprochene Urteil gerade Ausdruck dessen, wird man doch kaum behaupten können, die Arbeitszeiterfassung beträfe die unternehmerische Freiheit in ihrem Kern. Interessanterweise dreht der EuGH hier den Spieß um, der ihm in Viking und Laval viel Kritik eingebracht hat: Nicht mehr die typischen Arbeitnehmerrechte des Art. 28 GRC werden im Einklang mit der (arbeitgeberfreundlichen) Dienstleistungsfreiheit gewährleistet, sondern das typische Arbeitnehmerrecht im Einklang mit den Arbeitnehmerrechten nach Art. 31 Abs. 2 GRC. Das erscheint nicht nur dogmatisch stimmig, sondern auch insgesamt ein gerechter Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen (wenn auch an unterschiedlichen Stellen).

    Beste Grüße

    Fabian Michl

  2. Fabian Michl Thu 16 May 2019 at 22:28 - Reply

    PS: In Abs. 1 muss es natürlich „Ihren“ und in Abs. 6 „das typische Arbeitgeberrecht im Einklang mit den Arbeinehmerrechten nach Art. 31 Abs. 2 GRC“ heißen. Verzeihung, aber das war ja auch ein langes Koreferat.

  3. Dr. Monika Ende Goethe Universität Ffm Fri 17 May 2019 at 11:11 - Reply

    Danke, Herr Michl, das war ein sehr gelungenes Koreferat.
    Wie ich meinen Studenten*innen an der Viadrina gesagt habe, Sie müssen auf richtigen Grundlagen zum Punkt der Abwägung der unterschiedlichen Interessen gelangen.
    Danach kann man über das Abeägungsergebnis streiten.
    Ich halte die Entscheidung des EuGH in der stringenten Herleitung der Verpflichtung aus Art. 31 Abs. 2 EUV und im Abwägungsergebnis für zutreffend.
    Gerade die Arbeitszeit ist vielfach zum Missbrauchstatbestand in der sozialen Schieflage der Interessen geworden.
    Daher halte ich diese auch für den richtigen Ansatzpunkt.

  4. Clemens Latzel Mon 20 May 2019 at 17:31 - Reply

    @Fabian Michl: Vielen Dank für Ihren fundierten Kommentar! Sie unterscheiden zwischen »Einschränkungen« der unternehmerischen Freiheit, die gesetzlich vorgesehen sein müssen (Art. 52 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GRC), und »Regelungen« der unternehmerischen Freiheit, die nicht gesetzlich vorgesehen sein müssen. Die Unterscheidung hat einiges für sich und ähnelt im Ausgangspunkt meinem Deutungsmuster von der Aktivierungsbedürftigkeit von Charta-Grundrechten (EuZW 2015, 658, 661 ff.).

    Wenn ich Sie richtig verstehe, muss nach Ihrem Modell »Unionsrecht« i.S.d. Regelungsvorbehalte in Art. 16 und Art. 28 GRC nicht »gesetzlich« i.S.d. Art. 52 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GRC sein, solange es nicht den »Kernbereich« der Grundrechte berührt. Und weil die allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nicht die unternehmerische Freiheit in ihrem Kernbereich betreffe, unterliege sie nicht dem Gesetzesvorbehalt. Wenn nun eine neue Arbeitszeitrichtlinie nur für Betriebe mit mehr als 250 Beschäftigten eine allgemeine Arbeitszeiterfassung vorschriebe und kleinere Betriebe ausdrücklich ausnähme, wäre das dann also auch nur eine (Neu-)Regelung der unternehmerischen Freiheit und keine vor Art. 16 GRC (aber wohl vor Art. 31 Abs. 2 GRC) rechtfertigungsbedürftige Einschränkung?

  5. Fabian Michl Mon 20 May 2019 at 21:32 - Reply

    @Clemens Latzel: In der Tat würde ich diese Unterscheidung treffen und sogar noch weitergehen und „Regelungen“ der Ausübungsmodalitäten unternehmerischer Freiheit von den Rechtfertigungsanforderungen des Art. 52 Abs. 1 GRC gänzlich freistellen. Gerade darin liegt nach meiner Lesart der Sinn der Bezugnahme auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, wie sie vom Konvent für Art. 28 GRC konzipiert und auf Art. 16 GRC übertragen wurde. Vorgaben, die den Kernbereich (nicht zu verwechseln mit dem – wie auch immer zu verstehenden – Wesensgehalt i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GRC) des jeweiligen Rechts betreffen, würde ich hingegen als rechtfertigungsbedürftige Einschränkungen ansehen. Die Unterscheidung zwischen „Kern“ und „Rand“ ist gewiss nicht einfach zu treffen, aber möglich (wir kennen sie ja auch aus anderen Bereichen) und wird der Sache nach vom EuGH jedenfalls bei Art. 28 GRC und in Ansätzen auch bei Art. 16 GRC praktiziert. Ich habe dazu, wenn ich mir diese wenig dezente Eigenwerbung erlauben darf, einige Seiten in einem gelben Buch beschrieben, das vergangenes Jahr erschienen ist (https://www.mohrsiebeck.com/buch/unionsgrundrechte-aus-der-hand-des-gesetzgebers-9783161560231).

    Um also Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich würde das so sehen – keine Rechtfertigungsbedürftigkeit im Lichte von Art. 16 GRC, wohl aber mit Blick auf Art. 31 Abs. 2 GRC.
    Ihr Deutungsmuster von der Aktivierungsbedürftigkeit der Unionsgrundrechte finde ich sehr ansprechend – es findet, meine ich, durchaus Bestätigung in der Rechtsprechung des EuGH (dazu habe ich mich in besagtem Buch nicht verhalten, weil ich die schier endlos diskutierten Fragen des Anwendungsbereichs der Charta bewusst etwas ausklammern wollte). Ich bin mir aber nicht sicher, ob es sich mit dem deckt, was ich vorschlage. Ein vergleichbares Phänomen wie das von Ihnen beschriebene würde ich bei den Grundrechten vermuten, die ich in einem engeren Sinne für konkretisierungsbedürftig halte. Bei ihnen knüpft die Charta die Anwendbarkeit des Grundrechts an die Konkretisierung seines Schutzgegenstandes durch Unionsrecht bzw. mitgliedstaatliches Recht. Bei den Grundrechten des IV. Titels nehme ich eine solche Konkretisierungsbedürftigkeit bei Art. 27 und 30 GRC an – auch dort wegen der speziellen Verweise auf das Unions- und mitgliedstaatliche Recht (irritierenderweise ist freilich Art. 30 GRC genau so formuliert wie Art. 16 und 28 GRC, aber vom Konvent m. E. anders gemeint).

    Schließlich noch eine Anmerkung zum Gesetzesvorbehalt in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC: Ich würde diese Vorgabe nicht überbewerten und schon gar nicht so verstehen, wie die Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz verstanden werden (wie ja überhaupt jede 1:1-Übertragung deutscher Dogmatik zu wenig Erhellung im Unionsrecht führen dürfte). Der Konvent ist, wie ich glaube nachweisen zu können, hier dem Vorbild der EMRK/des EGMR gefolgt und akzeptiert jede abstrakt-generelle Rechtsnorm, letztlich also auch Richterrecht. Der deutsche Wortlaut ist etwas misslungen, da „gesetzlich“ an ein formelles Gesetz denken lässt (vgl. aber z. B. engl.: „provided for by law“ [nicht etwa “statute”!]).

    Viele Grüße
    FM

  6. Dr. Monika Ende Goethe Universität Frankfurt am Main (Europarecht) Tue 21 May 2019 at 12:38 - Reply

    Ganz richtig befindet sich die EuGH Entscheidung zwischen Arbeitsrecht und Grundrechtssprechung, wobei der Grundrechtsbezug Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte Eurupäischen Union klar überwiegt.
    Hier nur noch ein Hinweis aus dem generellen Vorbehalt des Art. 52 dieser Charta für alle Grundrechte ein spezielles Recht darauf, dass Unternehmerrechte nicht beschränkt werden dürfen abzuleiten, ist verfehlt.

  7. Dr. Monika Ende Goethe Universität Frankfurt am Main (Europarecht) Tue 21 May 2019 at 13:16 - Reply

    Kurz: was mir hier fehlt in der Diskussion ist die Wirtschafts- und sozialpolitische Abwägung
    M.E. wird diese im EuGH Urteil zur Erfassung der Arbeitszeit gelungen vorgenommen.
    Ich kann nur immer wieder vor Plakativismus im Umgang mit der Begriffsbildung warnen.

  8. cornelia gliem Tue 28 May 2019 at 12:34 - Reply

    durch die Arbeitserfassung (die eigentlich jede normale, “anständige” Firma sowieso längst hat) wird sicherlich nicht die Unternehmerische Freiheit berührt. Wenn doch, wäre ja jedes Gesetz jede Regel zum Schutz der Arbeitnehmer unstatthaft. und auch wenn mir bewusst ist, dass das BVerG und der EuGH sich grundsätzlich auf den Staat beziehen soll(te), erscheint es mir nicht (nur) wie ein Trick, hier die Grundrechts-karte zu ziehen… Der EU wird so oft ihre neoliberale stark wirtschaftsfreundliche Seite vorgeworfen, da ist es doch positiv, wenn auch mal den Sozialen Aspekten zu ihrem Recht verholfen wird.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Arbeitsrecht, EuGH, Gewaltenteilung


Other posts about this region:
Deutschland