Nah am Wortlaut, weit in den Folgen
Das BVerwG-Urteil zum gemeindlichen Vorkaufsrecht in sozialen Erhaltungsgebieten
Die vielerorts schwierigen Verhältnisse am Wohnungsmarkt haben sich aufgrund der anhaltend hohen Wohnungsnachfrage in städtischen Gebieten und dem nicht nachkommenden Wohnungsneubau weiter verschlechtert. Die Städte versuchen den damit einhergehenden Verdrängungseffekten bundesweit durch die Ausweisung von sozialen Erhaltungsgebieten – auch „Milieuschutzgebiete“ genannt – zu begegnen. Neben den in sozialen Erhaltungsgebieten geltenden Genehmigungsvorbehalten für Modernisierungsmaßnahmen und die Begründung von Wohnungseigentum setzen die Behörden vor allem auf das gemeindliche Vorkaufsrecht in sozialen Erhaltungsgebieten. In den besonders von der Gentrifizierung betroffenen Großstädten wurde das Vorkaufsrecht daher in großer Anzahl ausgeübt. In noch mehr Fällen nutzten die Gemeinden das Vorkaufsrecht für den Abschluss so genannter Abwendungsvereinbarungen, in denen sich der Grundstückskäufer regelmäßig u.a. dazu verpflichtet, bestimmte Mietobergrenzen einzuhalten und von der Begründung von Wohnungseigentum abzusehen (vgl. etwa die Musterabwendungsvereinbarung im Leitfaden der Freien und Hansestadt Hamburg).
Diese Praxis der Vorkaufsrechtsausübung in sozialen Erhaltungsgebieten hat das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil vom 09.11.2021 (Az.: BVerwG 4 C 1.20) für einen Großteil der Anwendungsfälle für rechtswidrig erkannt und die vorinstanzlichen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin und des Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg aufgehoben. Die Auswirkungen des Urteils, dessen vollständige Begründung aktuell noch nicht vorliegt, sind weitreichend und grundlegend. Mit der Grundsatzentscheidung steht fest, dass für die Ausübung von Vorkaufsrechten in sozialen Erhaltungsgebieten nur ein enger sachlicher Anwendungsbereich zur Verfügung steht. Folgen hat das Urteil dabei nicht nur für die zukünftige Anwendung des gemeindlichen Vorkaufrechts. Denn auch die in der Vergangenheit zur Abwendung des Vorkaufrechts abgeschlossenen Vereinbarungen dürften in vielen Fällen nichtig sein.
Ausschluss des Vorkaufrechts bei rechtmäßiger Nutzung des Grundstücks
Nach § 24 BauGB steht der Gemeinde im Geltungsbereich einer sozialen Erhaltungssatzung bzw. -verordnung bei Grundstückskaufgeschäften ein Vorkaufsrecht zu. Es darf nur ausgeübt werden, wenn das Wohl der Allgemeinheit dies rechtfertigt und kein gesetzlicher Ausschlussgrund vorliegt. Die beiden Vorinstanzen hatten diese gesetzlichen Voraussetzungen für erfüllt angesehen. Sie vertraten dabei den Standpunkt, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts die Ziele der sozialen Erhaltungsverordnung fördere, wenn den Behörden Indizien dafür vorliegen, dass der Käufer in Zukunft erhaltungswidrige Nutzungsabsichten verfolgen werde. Das Bundesverwaltungsgericht ist dem im Ergebnis nicht gefolgt. Es hält die Ausübung eines Vorkaufsrechtes in sozialen Erhaltungsgebieten nach § 26 Nr. 4 Alt. 2 BauGB für ausgeschlossen, wenn das Grundstück zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über das Vorkaufsrecht entsprechend den Zielen der Erhaltungsverordnung genutzt wird. Auf die zukünftigen Nutzungsabsichten des Käufers komme es dabei nicht an. Der Wortlaut des Gesetzes sei insoweit eindeutig. Für die von den Vorinstanzen angenommene Auslegung des Ausschlussgrundes bestehe demgegenüber keine Grundlage.
In den ersten Reaktionen auf das Urteil zeigte sich die Politik von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts überrascht. Dabei hat das Gericht hier bei näherer Betrachtung den Ausschlussgrund des § 26 Nr. 4 BauGB nach seinem Wortlaut ausgelegt. Die für die gegenteilige Rechtsauslegung vorgebrachten rechtssystematischen und gesetzeshistorischen Argumente überzeugten das BVerwG hingegen nicht. Insbesondere ist es nach der Überzeugung des Gerichts nicht ersichtlich, dass der Bundesgesetzgeber bei der damaligen Neuregelung des Baugesetzbuchs die frühere Rechtslage nach dem BBauG unverändert übernehmen wollte und ihm dies bei der Gesetzesformulierung lediglich „misslungen“ sei.
Mit der bundesverwaltungsgerichtlichen Entscheidung zum Ausschlussgrund gemäß § 26 Nr. 4 BauGB erübrigt sich in vielen anhängigen Verfahren gegen Vorkaufsrechtsbescheide die Frage, ob die von der Verwaltung für die Annahme erhaltungswidriger Nutzungsabsichten des Käufers zugrunde gelegten Indizien es rechtfertigen, ihr Vorkaufsrecht auszuüben. Dies gilt insbesondere für die regelmäßig zur Begründung des Vorkaufsrechts vorgebrachte Weigerung des Käufers, eine Abwendungsvereinbarung zu unterzeichnen, in der er sich – über die erhaltungsrechtlichen Regelungen des § 172 BauGB hinausgehend – für die Dauer von bis zu 20 oder 30 Jahren zu Mietobergrenzen und zur Unterlassung von Wohnungsumwandlungen verpflichtet.
Abzuwarten bleibt, ob das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung ergänzend auf rechtsgrundsätzliche Erwägungen zur Rechtfertigung von Vorkaufsrechten in sozialen Erhaltungsgebieten stützen wird. Interessant ist dies u.a. deshalb, weil dem Instrument des Vorkaufsrechts teilweise ein über den Sicherungszweck hinausgehender, eigenständiger Charakter zur Förderung des Erhaltungsrechts zugesprochen wird. Insoweit wird eine genaue Analyse der Urteilsgründe auch für die in der Öffentlichkeit bereits angestoßene Diskussion zur Änderung des Baugesetzbuchs von gehobener Bedeutung sein. Insoweit stellt sich die Frage, ob der Bundesgesetzgeber den Ausschlussgrund des § 26 Nr. 4 BauGB so anpassen kann, dass das gemeindliche Vorkaufsrecht in sozialen Erhaltungsgebieten – entsprechend der bisherigen Anwendungspraxis – auch auf zukünftige Nutzungsabsichten des Käufers gestützt werden kann.
Sachlicher Anwendungsbereich des Vorkaufsrechts
Mit der Klarstellung des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausschlussgrund gemäß § 26 Nr. 4 BauGB steht fest, dass der sachliche Anwendungsbereich für die Vorkaufsrechtsausübung in sozialen Erhaltungsgebieten deutlich enger ist als vielfach angenommen. Anwendbar bleibt das Vorkaufsrecht etwa für solche Fälle, in denen das Kaufgrundstück zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über das Vorkaufsrecht nicht entsprechend den Zielen und Zwecken der sozialen Erhaltungssatzung bebaut ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Verkäufer oder dessen Rechtsvorgänger die auf dem Grundstück vorhandenen Gebäude ohne die nach § 172 BauGB erforderliche Genehmigung zurückgebaut oder baulich geändert hat.
Anwendbar bleibt das gemeindliche Vorkaufsrecht auch dann, wenn der Verkäufer oder dessen Rechtsvorgänger die auf dem Grundstück vorhandenen baulichen Anlagen ganz oder teilweise ohne die erforderliche erhaltungsrechtliche Genehmigung einer anderen Nutzung zugeführt hat, etwa weil Wohneinheiten illegal zu gewerblichen Zwecken umgenutzt worden sind. Denkbar ist die Anwendung zudem in solchen Fällen, in denen Grundstücke mit Gebäuden bebaut sind, die städtebauliche Missstände oder Mängel aufweisen. In letztgenannter Fallgruppe dürfte die Ausübung des Vorkaufsrechts allerdings nur dann aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit gerechtfertigt sein, wenn der Käufer eine Abwendungsvereinbarung verweigert, die ihn zur Beseitigung der städtebaulichen Missstände binnen einer angemessenen Frist verpflichtet. Darüberhinausgehende Verpflichtungen zu zukünftigen Nutzungsabsichten des Käufers, wie etwa die Einhaltung bestimmter Mietobergrenzen oder der uneingeschränkte Verzicht auf Wohnungsumwandlungen, dürften hingegen nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts keine zulässigen Abwendungsvoraussetzungen sein.
Weitreichende Rechtsfolgen des Urteils
Neben dem konkret entschiedenen Einzelfall dürfte sich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf andere anhängige gerichtliche und behördliche Rechtsbehelfsverfahren gegen Vorkaufsrechtsbescheide auswirken. In diesen Verfahren dürften sich die Rechtsbehelfe als begründet erweisen, wenn nicht im Einzelfall andere Vorkaufsrechte bestanden oder die übrigen (negativen) Voraussetzungen des Ausschlussgrundes gemäß § 26 Nr. 4 BauGB erfüllt waren.
Bereits bestandskräftige Vorkaufsrechtsbescheide dürften hingegen fortgelten. Denn die gesetzlichen Voraussetzungen an die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG liegen nicht vor. Insbesondere fehlt es an der Offensichtlichkeit eines besonders schwerwiegenden Fehlers. Insoweit ist anerkannt, dass die Schwere eines Fehlers nicht offensichtlich sein kann, wenn sie (bzw. die Rechtswidrigkeit des Bescheides überhaupt) infolge einer Änderung der Rechtsprechung erst später ersichtlich wird.
Anders ist die Rechtslage hingegen im Hinblick auf die in der Vergangenheit geschlossenen Abwendungsvereinbarungen zu bewerten. Denn bei vielen dieser Abwendungsvereinbarungen wird ein die Gesamtnichtigkeit begründender Verstoß gegen das Koppelungsverbot gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 BauGB vorliegen. Nach dieser Vorschrift sind Vereinbarungen in städtebaulichen Verträgen unzulässig, wenn der Vertragspartner der Gemeinde auch ohne die Vereinbarung einen Anspruch auf die behördliche Gegenleistung hätte.
Bei den Abwendungsvereinbarungen im Zusammenhang mit Grundstückskäufen in sozialen Erhaltungsgebieten verpflichtet sich der Käufer regelmäßig, für die Dauer von 20 oder 30 Jahren auf die Begründung von Wohnungseigentum und auf bauliche Änderungs- und Rückbaumaßnahmen zu verzichten sowie näher bestimmte Mietobergrenzen einzuhalten. Die Gegenleistungen der Gemeinde liegen darin, dass sie darauf verzichtet, ihr gemeindliches Vorkaufrecht auszuüben und den zur grundbuchlichen Umsetzung des Grundstückskaufvertrages erforderlichen Negativattest ausstellt (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 und 3 BauGB). Ist das gemeindliche Vorkaufsrecht jedoch entsprechend dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes nach § 26 Nr. 4 BauGB ausgeschlossen, hat der Käufer auch ohne die in den Abwendungsvereinbarungen enthaltenden Verpflichtungen einen Anspruch darauf, dass das Negativattest ausgestellt und die gemeindliche Vorkaufsrechtsausübung unterlassen wird. Es liegt daher ein Verstoß gegen das Koppelungsverbot vor, der in der Regel zur Gesamtnichtigkeit der Vereinbarung führen wird. Die regelmäßig in Abwendungsvereinbarungen enthaltenen salvatorischen Klauseln dürften dem nicht entgegenstehen. Eine wesentliche mittelbare Folge des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts ist daher, dass die Grundeigentümer trotz abgeschlossener Abwendungsvereinbarungen in vielen Fällen nicht an die vertraglichen Regelungen zur Mietobergrenze oder an andere Verpflichtungen aus der Vereinbarung gebunden sind, wenn zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses die Voraussetzungen des Ausschlussgrundes gemäß § 26 Nr. 4 BauGB in der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichtes erfüllt waren.
Ausblick
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Anwendungspraxis der Kommunen von großer Bedeutung. Bleibt es bei der aktuellen Rechtslage, sind die Vorkaufsrechte in sozialen Erhaltungsgebieten auf wenige Anwendungsfälle beschränkt. Dabei darf allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Erhaltungsrecht im Grundsatz auf eine Durchsetzung auf Zulassungsebene ausgerichtet ist. Die mit dem Inkrafttreten eines Erhaltungsgebietes begründeten Genehmigungsvorbehalte des § 172 Abs. 1 Satz 2 und 4 BauGB gelten auch ohne das gemeindliche Vorkaufsrecht. Sie führen bei der aktuellen Genehmigungspraxis der Bezirke zu deutlichen Einschränkungen der Baufreiheit des Grundeigentümers.
Sollte der Gesetzgeber eine Anpassung des Ausschlussgrundes in § 26 Nr. 4 BauGB und damit eine Ausweitung der gemeindlichen Vorkaufsrechte in sozialen Erhaltungsgebieten in Betracht ziehen, müsste er dabei auch hinterfragen, ob die vergleichsweise geringen Anforderungen an die Aufstellung eines Erhaltungsgebietes damit in Einklang stehen und ob es einer stärkeren gesetzlichen Konturierung der Abwendungsvoraussetzungen bedarf, z.B. um das Verhältnis des städtebaulichen Instruments des Erhaltungsrechts mit dem Mietrecht nach BGB zu klären.