22 March 2012

Nationale Parlamente sind in der Euro-Krise nicht entbehrlich

Von FRANZ C. MAYER

Vielleicht wäre es am einfachsten, das Volk löste das Parlament auf und entschiede gleich alles selber.

Die Forderung nach der Entscheidung durch das Volk im europäischen Kontext hat derzeit Konjunktur. In etlichen Zeitungskommentaren wird ein Volksentscheid über den Fiskalvertrag gefordert. Verfassungsrichter werden dahingehend zitiert, die nächste Kompetenzübertragung an die EU solle an eine Volksabstimmung über ein neues Grundgesetz gekoppelt werden.

Dabei war doch zuletzt der Bundestag immer stärker als Wahrer der Demokratie in der EU hervorgetreten.

Von FRANZ C. MAYER

Vielleicht wäre es am einfachsten, das Volk löste das Parlament auf und entschiede gleich alles selber.

Die Forderung nach der Entscheidung durch das Volk im europäischen Kontext hat derzeit Konjunktur. In etlichen Zeitungskommentaren wird ein Volksentscheid über den Fiskalvertrag gefordert. Verfassungsrichter werden dahingehend zitiert, die nächste Kompetenzübertragung an die EU solle an eine Volksabstimmung über ein neues Grundgesetz gekoppelt werden.

Dabei war doch zuletzt der Bundestag immer stärker als Wahrer der Demokratie in der EU hervorgetreten. Seit dem Urteil zum Europäischen Haftbefehl 2005 ist die Stärkung des Bundestages in EU-Angelegenheiten gegenüber der Regierung ein zentrales Demokratie-Anliegen des Bundesverfassungsgerichts, bekräftigt im Lissabon-Urteil 2009 wie im Euro-Urteil 2011. Dabei verblüfft nicht nur, dass das Europäische Parlament für das Gericht kaum vorkommt. Auch bedeutet Bundestag genau besehen ja Bundestagsmehrheit. Dass diese ihrer Bundesregierung widerspricht, dürfte eher die Ausnahme sein. Die Vermutung liegt daher nahe, dass die Kontrolle durch das Parlament nicht sehr weit reicht. Erst jüngst im Streit um die parlamentarische Kontrolle der Eurorettungsmaßnahmen hat sich gezeigt, wie rasch behauptete Sachzwänge offenkundigen verfassungsrechtlichen Vorgaben vorgehen können. Regierungsmehrheit und Teile der Opposition wollten in aller Eile parlamentarische Kontrollrechte auf ein Kleinstgremium („9er-Gremium“) übertragen.

Erklärt dies aber den Ruf nach dem Volk und dem Volksentscheid? Ist der Bundestag nicht in der Lage, die europäische Integration angemessen zu begleiten? Nein. Im Gegenteil: Der Bundestag kann in seiner Europatauglichkeit heute als Vorbild gelten. Das belegen nicht nur veränderte Arbeitsstrukturen und ein eigenes Büro in Brüssel. Es gibt vor allem Ansätze einer gewandelten Selbstwahrnehmung, die die Mehrheitsbeschaffungs-, Machterhaltungs-, Machterwerbs- und Fraktionslogik in EU-Angelegenheiten nicht mehr ohne Ausnahme hinnimmt. Der weitere Verlauf des Streits um das 9er Gremium – Karlsruhe hat dem auf Antrag von Abgeordneten Einhalt geboten – hat gezeigt, dass Schutzmechanismen der Verfassung im Bezug auf Parlaments- und Parlamentarierrechte in der europäischen Integration funktionieren.

Die Bewährungsprobe freilich läuft noch: Wie wird die Umsetzung des Urteils zum Neuner-Gremium und die parlamentarische Begleitung der europäischen Wirtschaftsregierung und des permanenten Rettungsschirms ESM gelingen? Bei diesen Querschnittsaufgaben wird auch ein in Kürze erwartetes Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf eine Organklage der Grünen eine Rolle spielen.  Es geht darum, ob die umfangreicheren Beteiligungsrechte des Bundestags nur für die eigentlichen Europaverträge gelten – so sieht es die Regierung – oder auch für Neuartiges außerhalb dieser Verträge, wie eben den ESM. Insgesamt kann man sich fragen, ob die parzellierten parlamentarischen Zuständigkeiten – Europaausschuss hier, Haushaltsausschuss da – dem sich immer deutlicher herausbildenden Gesamtzusammenhang mit ineinander greifenden Mechanismen wie Rettungsschirmen, Fiskalpakten, Six-pack usf. gerecht werden können.

Davon abgesehen verdient der Bundestag in seiner Begleitung der europäischen Integration Bestätigung, Zuspruch und Vertrauen. Warum also der Ruf nach dem Volk statt dem Parlament? Nüchtern besehen wird es bei der Forderung nach Volksentscheiden oder auch nach der Stärkung des Bundestags in europäischen Angelegenheiten dem ein oder anderen gar nicht so sehr um Demokratie und Parlamentsrechte gehen, sondern darum, wie man den europäischen Integrationsprozess bremsen kann.

Das Volk gegen das Parlament auszuspielen, hat nun aber in Deutschland eine ganz unselige Tradition. Dies hat in der Weimarer Zeit zur Diskreditierung des Parlaments als Schwatzbude beigetragen. Damals führte das Grundmisstrauen gegenüber dem Parlament bis hin zum Vorschlag, man müsse vor ihm einen Kern der Verfassung schützen. Im Grundgesetz ist diese Forderung nach dem Schutz der Verfassung vor dem Parlament verwirklicht: Sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber kann wegen der sogenannten Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG bestimmte Artikel nicht ändern.

Dies geschah 1949 freilich vor allem, um den Rückfall in die Diktatur und Barbarei zu unterbinden. Heute dient diese Ewigkeitsklausel paradoxerweise als Bollwerk gegen Europa – obwohl doch die Präambel des Grundgesetzes seit 1949 das Vereinte Europa anstrebt. Sogar Mehrheiten, die weit über zwei Drittel hinausgehen – zum Beispiel bei der Zustimmung zum Vertrag von Lissabon – können mit der immer weiter interpretierten Ewigkeitsklausel neutralisiert werden.

In dieser Logik bleibt zur Überwindung der Ewigkeitssperre tatsächlich nur der Weg zu einer neuen Verfassung, die über das Volk in Kraft gesetzt werden kann. Die Handhabung des Art. 146 GG in diesem Kontext ist dabei reichlich befremdlich, wenn man sich die Herkunft dieses Artikels vor Augen führt. Art. 146 GG handelt vom GG aus gesehen vom Jenseits, und von Diesseits ins Jenseits hinüberzugreifen führt allenfalls zu theologischen Grenzfragen, aber in der Demokratiefrage nur begrenzt weiter. Deuten lässt sich dies als Misstrauensvotum in die Leistungsfähigkeit des aktuellen Parlamentarismus. Doch wenn für den Weg Deutschlands im Prozess der europäischen Integration im Bundestag wie auch im Bundesrat eine verfassungsändernde Mehrheit oder gar mehr besteht, dann dürfte das doch eigentlich einen informierten gesellschaftlichen Grundkonsens spiegeln. Sollte man dagegen wirklich das Volk in Stellung bringen?

Vielleicht speist sich der Ruf nach dem Volk auch aus dem Gefühl, dass Entscheidungen von der Dimension der Euro-Rettung eine andere, breitere Abstützung braucht als eine bloß parlamentarische. Schwierige Zeiten und komplexe Fragen sind für sich genommen indessen kein Argument gegen entschleunigende und versachlichende parlamentarische Zuständigkeit und Verantwortungsübernahme – im Gegenteil.

Natürlich ist gegen eine Diskussion über mehr direkte Demokratie insgesamt, auch in Europafragen, und entsprechende Grundgesetzänderungen nichts einzuwenden. Wo man heute vielleicht mehr als früher über direkte Demokratie nachdenken kann, ist bei der Erweiterung der Europäischen Union, bei der Zugehörigkeitsfrage. Der Verlauf der griechischen Eurotragödie hat auch den Gutgläubigsten gezeigt, wie eine einmal erworbene Mitgliedschaft in mancherlei Hinsicht Unumkehrbarkeit und Unentrinnbarkeit beinhaltet, gerade auch im Hinblick auf Solidarität. Da erscheint es nachgerade geboten, künftige Entscheidungen über Zu- und Zusammengehörigkeit in einem unionsweiten Referendum in die Hände der Unionsbürger zu legen.

Und der Fiskalvertrag? Es müssen die Proportionen stimmen. Hierzulande erfolgte die Verfassunggebung von 1949 ohne Volksentscheid, der auch bei und nach der Wiedervereinigung ausblieb. Der Fiskalvertrag enthält keine weitere Kompetenzübertragung auf die EU und an Verfassungsrelevantem im Kern nur die Verpflichtung, eine Schuldenbremse in die Verfassung aufzunehmen, die Deutschland ja bereits hat. Es ist daher schon nicht ersichtlich, warum dafür in Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit vorgesehen wird. Dafür ein Volksentscheid? Die Forderung dekonstruiert sich selbst: bestenfalls am Problem vorbei, womöglich gar populistische Instrumentalisierung der Demokratiefrage.

(Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist in der Süddeutschen Zeitung erschienen, er wird hier mit freundlicher Genehmigung der SZ wiedergegeben).Seit dem Urteil zum Europäischen Haftbefehl 2005 ist die Stärkung des Bundestages in EU-Angelegenheiten gegenüber der Regierung ein zentrales Demokratie-Anliegen des Bundesverfassungsgerichts, bekräftigt im Lissabon-Urteil 2009 wie im Euro-Urteil 2011. Dabei verblüfft nicht nur, dass das Europäische Parlament für das Gericht kaum vorkommt. Auch bedeutet Bundestag genau besehen ja Bundestagsmehrheit. Dass diese ihrer Bundesregierung widerspricht, dürfte eher die Ausnahme sein. Die Vermutung liegt daher nahe, dass die Kontrolle durch das Parlament nicht sehr weit reicht. Erst jüngst im Streit um die parlamentarische Kontrolle der Eurorettungsmaßnahmen hat sich gezeigt, wie rasch behauptete Sachzwänge offenkundigen verfassungsrechtlichen Vorgaben vorgehen können. Regierungsmehrheit und Teile der Opposition wollten in aller Eile parlamentarische Kontrollrechte auf ein Kleinstgremium („9er-Gremium“) übertragen.

Erklärt dies aber den Ruf nach dem Volk und dem Volksentscheid? Ist der Bundestag nicht in der Lage, die europäische Integration angemessen zu begleiten? Nein. Im Gegenteil: Der Bundestag kann in seiner Europatauglichkeit heute als Vorbild gelten. Das belegen nicht nur veränderte Arbeitsstrukturen und ein eigenes Büro in Brüssel. Es gibt vor allem Ansätze einer gewandelten Selbstwahrnehmung, die die Mehrheitsbeschaffungs-, Machterhaltungs-, Machterwerbs- und Fraktionslogik in EU-Angelegenheiten nicht mehr ohne Ausnahme hinnimmt. Der weitere Verlauf des Streits um das 9er Gremium – Karlsruhe hat dem auf Antrag von Abgeordneten Einhalt geboten – hat gezeigt, dass Schutzmechanismen der Verfassung im Bezug auf Parlaments- und Parlamentarierrechte in der europäischen Integration funktionieren.

Die Bewährungsprobe freilich läuft noch: Wie wird die Umsetzung des Urteils zum Neuner-Gremium und die parlamentarische Begleitung der europäischen Wirtschaftsregierung und des permanenten Rettungsschirms ESM gelingen? Bei diesen Querschnittsaufgaben wird auch ein in Kürze erwartetes Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf eine Organklage der Grünen eine Rolle spielen.  Es geht darum, ob die umfangreicheren Beteiligungsrechte des Bundestags nur für die eigentlichen Europaverträge gelten – so sieht es die Regierung – oder auch für Neuartiges außerhalb dieser Verträge, wie eben den ESM. Insgesamt kann man sich fragen, ob die parzellierten parlamentarischen Zuständigkeiten – Europaausschuss hier, Haushaltsausschuss da – dem sich immer deutlicher herausbildenden Gesamtzusammenhang mit ineinander greifenden Mechanismen wie Rettungsschirmen, Fiskalpakten, Six-pack usf. gerecht werden können.

Davon abgesehen verdient der Bundestag in seiner Begleitung der europäischen Integration Bestätigung, Zuspruch und Vertrauen. Warum also der Ruf nach dem Volk statt dem Parlament? Nüchtern besehen wird es bei der Forderung nach Volksentscheiden oder auch nach der Stärkung des Bundestags in europäischen Angelegenheiten dem ein oder anderen gar nicht so sehr um Demokratie und Parlamentsrechte gehen, sondern darum, wie man den europäischen Integrationsprozess bremsen kann.

Das Volk gegen das Parlament auszuspielen, hat nun aber in Deutschland eine ganz unselige Tradition. Dies hat in der Weimarer Zeit zur Diskreditierung des Parlaments als Schwatzbude beigetragen. Damals führte das Grundmisstrauen gegenüber dem Parlament bis hin zum Vorschlag, man müsse vor ihm einen Kern der Verfassung schützen. Im Grundgesetz ist diese Forderung nach dem Schutz der Verfassung vor dem Parlament verwirklicht: Sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber kann wegen der sogenannten Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG bestimmte Artikel nicht ändern.

Dies geschah 1949 freilich vor allem, um den Rückfall in die Diktatur und Barbarei zu unterbinden. Heute dient diese Ewigkeitsklausel paradoxerweise als Bollwerk gegen Europa – obwohl doch die Präambel des Grundgesetzes seit 1949 das Vereinte Europa anstrebt. Sogar Mehrheiten, die weit über zwei Drittel hinausgehen – zum Beispiel bei der Zustimmung zum Vertrag von Lissabon – können mit der immer weiter interpretierten Ewigkeitsklausel neutralisiert werden.

In dieser Logik bleibt zur Überwindung der Ewigkeitssperre tatsächlich nur der Weg zu einer neuen Verfassung, die über das Volk in Kraft gesetzt werden kann. Die Handhabung des Art. 146 GG in diesem Kontext ist dabei reichlich befremdlich, wenn man sich die Herkunft dieses Artikels vor Augen führt. Art. 146 GG handelt vom GG aus gesehen vom Jenseits, und von Diesseits ins Jenseits hinüberzugreifen führt allenfalls zu theologischen Grenzfragen, aber in der Demokratiefrage nur begrenzt weiter. Deuten lässt sich dies als Misstrauensvotum in die Leistungsfähigkeit des aktuellen Parlamentarismus. Doch wenn für den Weg Deutschlands im Prozess der europäischen Integration im Bundestag wie auch im Bundesrat eine verfassungsändernde Mehrheit oder gar mehr besteht, dann dürfte das doch eigentlich einen informierten gesellschaftlichen Grundkonsens spiegeln. Sollte man dagegen wirklich das Volk in Stellung bringen?

Vielleicht speist sich der Ruf nach dem Volk auch aus dem Gefühl, dass Entscheidungen von der Dimension der Euro-Rettung eine andere, breitere Abstützung braucht als eine bloß parlamentarische. Schwierige Zeiten und komplexe Fragen sind für sich genommen indessen kein Argument gegen entschleunigende und versachlichende parlamentarische Zuständigkeit und Verantwortungsübernahme – im Gegenteil.

Natürlich ist gegen eine Diskussion über mehr direkte Demokratie insgesamt, auch in Europafragen, und entsprechende Grundgesetzänderungen nichts einzuwenden. Wo man heute vielleicht mehr als früher über direkte Demokratie nachdenken kann, ist bei der Erweiterung der Europäischen Union, bei der Zugehörigkeitsfrage. Der Verlauf der griechischen Eurotragödie hat auch den Gutgläubigsten gezeigt, wie eine einmal erworbene Mitgliedschaft in mancherlei Hinsicht Unumkehrbarkeit und Unentrinnbarkeit beinhaltet, gerade auch im Hinblick auf Solidarität. Da erscheint es nachgerade geboten, künftige Entscheidungen über Zu- und Zusammengehörigkeit in einem unionsweiten Referendum in die Hände der Unionsbürger zu legen.

Und der Fiskalvertrag? Es müssen die Proportionen stimmen. Hierzulande erfolgte die Verfassunggebung von 1949 ohne Volksentscheid, der auch bei und nach der Wiedervereinigung ausblieb. Der Fiskalvertrag enthält keine weitere Kompetenzübertragung auf die EU und an Verfassungsrelevantem im Kern nur die Verpflichtung, eine Schuldenbremse in die Verfassung aufzunehmen, die Deutschland ja bereits hat. Es ist daher schon nicht ersichtlich, warum dafür in Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit vorgesehen wird. Dafür ein Volksentscheid? Die Forderung dekonstruiert sich selbst: bestenfalls am Problem vorbei, womöglich gar populistische Instrumentalisierung der Demokratiefrage.

(Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist in der Süddeutschen Zeitung erschienen, er wird hier mit freundlicher Genehmigung der SZ wiedergegeben).


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