25 June 2018

Neues vom Glossator (11): Lass gut sein!

Fabian Steinhauer, Halbe und leere Tafel, 2018

Manchmal sagen wir: Lass gut sein. Meist, um ein Gespräch zu beenden.  Klage nicht, lass gut sein. Ruf das Gericht nicht weiter an, lass gut sein. Don’t call me, I’ll call you. Ich unterstelle, dass das ein guter Rat ist. Sicher kann der böse Folgen haben, etwa, wenn jemand nicht drauf hört oder er aber doch drauf hört, der Rat aber in der falsche Lage gegeben wurde.

Unterstellt sei es, das der Rat gut ist. Das Gute des Sein-Lassens mag dann für den, der weiter reden will, einen Mangel offenbaren. Sprich: man kann  frustriert sein, dass die Moral des Gut-Sein-Lassens zwar eine Antwort ist, aber keine weiteren Antworten folgen. Der Mangel muss nicht der eigene sein, er kann es aber sein. Sprich: Man kann diesen Mangel persönlich nehmen, muss es aber nicht. Man ruft vielleicht zurück: Für mich ist aber gar nichts gut! Und die Stimme ruft eventuell noch einmal zurück: Dann lass gut sein.  Oder sie schweigt. „Hmpf“ könnte man im Comic dann schreiben.

Darf die Stimme das? Kommt drauf an. Es gibt dazu viel Antworten, etwa aus dem Komplex der praktischen Lehren zum Gesetz und zu seinen Triebfedern. Denn in dem Moment, in dem so sanft und bestimmt jemand ruft: Lass gut sein – spricht etwas zu uns, als ob ein Gesetz sprechen würde.

Ein Gesetz, dass den Trieb zum Sprechen stillen soll und das manchmal funktioniert und manchmal nicht. Anders gesagt: Manchmal triggert der Ruf, es gut sein zu lassen, manchmal nicht.  Wie kommt es? Das Thema ist kompliziert – und man kann versuchen, sich dem mit Ratschlägen von Immanuel Kant und Kommentaren von Alenka Zupančič zu nähern.

Denn eins scheint ratsam: Mehre Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, technisch also sein Können so einzurichten, dass man auf den Ruf, es sein zu lassen, es sein lässt oder aber ruhig weiter drängt oder aber sich weiter bedrängen, also von dem Ruf triggern lässt. Alles hat Vor- und Nachteile. Es hat Vor- und Nachteile, sich von einem Ruf des Gesetzes stillen, also still stellen zu lassen.

Es hat Vor- und Nachteile, die Triebfedern ruhen zu lassen. Es hat Vor und Nachteile, sich nichts sagen zu lassen von diesem Gesetz. Es hat Vor- und Nachteile, seine Triebfedern in Schwung zu bringen. Die Ruhe hat Vor- und Nachteile. Und die Unruhe hat Vor- und Nachteile.

Kants Lässigkeit

Kants Lässigkeit erschließt sich schon gleich in einem ersten Absatz der Kritik der praktischen Vernunft – und das ist eine Lässigkeit, die einen auf die Palme bringen kann und schon genug Leute, vielleicht auch Kleist, auf die Palme gebracht hat.

In der Vorrede, im ersten Absatz erklärt Kant, warum seine Kritik nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern schlechthin der praktischen Vernunft überhaupt betitelt wird. So lautet der erste Halbsatz, von dem auf den ersten Blick unklar sein mag, was von beiden allgemeiner und weiter sein soll. Ist die reine praktische Vernunft weiter, allgemeiner oder größer als die praktische Vernunft, oder ist die kleiner, besonderer und eingeschränkter? Oder ist es genau andersherum, dass die praktische Vernunft größer, weiter oder allgemeiner ist, also die reine Version davon. Macht die Reinigung der Vernunft mehr Platz, eröffnet sie mehr Spielraum? Oder wird die Kammer dieser Vernunft dadurch kleiner?

Schlechthin, überhaupt: Mit den zwei Wörtern, die Kant verwendet, mag man glauben, dass Kant Präferenzen  offenlegt. Aber was meint Kant mit „schlechthin“ und „überhaupt“? Mehr oder weniger? Im ersten Halbsatz bleibt dieses Verhältnis offen. Sprich: Hier tut sich etwas auf, eine Scheide, hier wird eine Differenz operationalisiert, nämlich die zwischen der reinen praktischen Vernunft und der praktischen Vernunft. Und man erfährt im ersten Halbsatz nicht, als was diese Differenz operationalisiert wird. Als Gegensatz? Als Widerspruch? Als Paar? Als Rivalen? Als Konkurrenz. Im zweiten Halbsatz spricht Kant von einem „Parallelism“, bezieht dies komplizierte Wort aber auf die praktische Vernunft und auf die spekulative Vernunft. Parallele berühren sich nicht, sagt man, wenn sie nicht im unendlichen liegen. Kant lässt hier schon etwas, nämlich offen, und schon diese Lässigkeit kann den einen oder anderen auf die Palme bringen.

Es geht weiter in diesem Absatz. Kant verspricht hinreichenden Aufschluss, Lässigkeit zur Geduld ist gefragt. Worüber Aufschluss? Warum eben von praktischer Vernunft die Rede ist. Es gibt aber keinen Aufschluss darüber, inwieweit ein solcher Satz mit einem „nur“  zu ergänzen wäre. Lässigkeit ist gefragt, ob mit oder ohne Geduld.

Was einige Leser auch auf die Palme bringen kann, das ist das, was noch im ersten Absatz folgt. Kant erklärt, er wolle bloß dartun, dass es reine praktische Vernunft gebe, darum kritisiere er ihr ganzes praktisches Vermögen. Wenn das gelinge, bedürfe es keiner Kritik des reinen Vermögens. Dazu stellt Kant eine weitere Bedingung auf: Es ginge nur darum, zu sehen, „ob sich die Vernunft mit einem solchen, als einer bloßen Anmaßung, nicht übersteige.“  So, spekuliert Kant gleich darauf, geschehe es wohl mit der spekulativen Vernunft. Poooh, das ist hart. Hier fordert Kant schon dem Leser einiges ab. Was?  Erstmal weiter lesen.

„Denn wenn sie,  als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit es zu sein, ist vergeblich.“ Die reine Vernunft muss nicht kritisiert werden, wenn sie praktisch ist.  Erwartest du zuviel, zuviel Reinheit von der Vernunft und ihren Gesetzen? Jetzt kann man Kants Rat so lesen: Sei lässig, erwarte nicht zu viel von der Vernunft, der Reinheit  und den Gesetzen. Die Reinheit kann eine Leere sein. Die Lehre kann die Leere sein. Achte auf die Praxis, auf die Wirklichkeit. Alle Vernunft, aufgebracht gegen eine praktische Vernunft, verkümmert zum Vernünfteln.  Das Reine lässt sich nicht beschmutzen – du kannst noch so schmutzige Gedanken entwickeln, das liegt dann an Deinem Vernünfteln. Bringt dich ein Widerstreit der Vernunft in Rage, sei vernünftig, vernünftel nicht. Lass gut sein. Realwidersprüche, unlösbare Probleme? Wie entwickelt man in Anbetracht von Realwidersprüchen und unlösbaren Problemen Lässigkeit?

Vernünftel nicht, sei praktisch. Du rufst aber noch weiter nach dem Gesetz, das die Realwidersprüche auflöst? Don’t call me, I will call you.  Leere. Lehre.

Hashem, so sagen die Gebrüder Coen, does not owe you anything. The obligation runs the other way. Du willst etwas vom Gesetz? Selbst schuld. Das, auch das Gesetz, sagt dir nichts? Selbst schuld. Die Widersprüche in der Realität und im Realen lassen Dir keine Ruhe? Lass gut sein. Man kann das als unerbittlich und pedantisch bezeichnen. Das wären Reaktionen der Leser, eventuell affektiv.

Dieser erste Absatz von Kant ist eine Eröffnung. Hier eröffnet er die Kritik der praktischen Vernunft, er verschließt sie nicht. Er präsentiert Differenzen, mit denen man umgehen können sollte, unter anderem diejenigen zwischen Reinheit und Praxis und die zwischen Vernunft und Vernünfteln. Und manche bringt es in Rage, dass sich diese Öffnung nicht schließen lässt. Sei lässig, lass los, von mir aus auch Kant, denn um den geht es doch gar nicht. Du musst das Buch nicht lesen, wenn es dir nicht hilft. Kalter Kant.  Aber lässig.

Zupančičs Lässigkeit

Viele Jahre nach der Erscheinung dieses Buches schreibt Alenka Zupančič ein Buch, in dem es auch um Kant, seine Gesetze und seine Triebfedern geht. Das Buch ist nicht so bekannt wie Kants Kritik. Es heisst: „Das Reale einer Illusion“ – und diese Begriffe werden dort technisch verwendet, sie stammen aus dem Horizont einer auch psychoanalytisch informierten Normwissenschaft. Obschon im Untertitel ein Text über Kant und Lacan versprochen wird, kommt die Autorin erst auf Nietzsche zu sprechen. Und hier tut sich wieder etwas auf, man kann sagen, zu einem Abgrund, der  schon mit Kants Eröffnung zu tun hat.

Die Traditition, in der sie steht, legt immer gleich offen, dass es ihr im Kontext der Normativität nicht nur um Gründe, sondern auch um Abgründe geht. Man kann die Frage stellen, ob dies nicht bei Kant auch schon der Fall sei, ob das nicht auch eine Normativität sei, die Gründe und Abgründe überspanne.  Liefert Kant nicht immer auch (Ab-)Gründe, wenn er Normen liefert? Darum wird gestritten. Darüber wird gestritten. Damit wird gestritten. Es gibt bei Kant ja die braven, ich sage mal metaphorisch, nationalen Lesarten und dann gibt es die mutigeren Lesarten, in denen auch so etwas wie Alienation mitgelesen wird. Unsere Gründe, die können uns fremd sein.

Wozu in diesem Kontext Nietzsche? Zupančič erinnert an eine Formulierung von ihm. Die Menschheit wolle eher das Nichts, als nichts zu wollen.

Sie historisiert diese Formulierung und fragt, ob das nicht heute anders sein. Ist der aktive Nihilismus, der noch in dem Satz von Nietzsche steckt, nicht entschärft? Habe er nicht seine Unbändigkeit verloren? Die Menschheit, behauptet Z., will eher nichts als das Nichts. Wir sind danach in der Phase einer „Ethik des Nicht-Wollens“. Diese Ethik lege uns nahe, anzunehmen, zu tolerieren, einzugestehen. Lass gut sein, jetzt im Sinne von: Nimm die Lage an! Toleriere! Gestehe Dir ein, etwa, dass die Welt mangelhaft ist und du es nicht ändern kannst. Really?

So lässig ist Z. nicht. Sie geht weiter, das ist ja nur die Eröffnung des Buches. Ihre Historisierung Nietzsches fußt auf der Vorstellung, dass die Ethik in den Dienst des Lebens gestellt sei, man also ohne weiteres voraussetze, dass das Leben geschützt werden müsse und vorzüglich oder vorzuziehen sei, und zwar gegenüber dem Tod. Die Bewahrung des Lebens als solche werde als löblich betrachtet, sagt Zupančič, und sie lässt darin schon eine Distanz aufscheinen, gegenüber dieser Ethik des Lebens.

Warum, fragt sie sich, soll man etwa den Todestrieb ausschließen, zumal er ja nicht einfach Trieb zum Tode sei, sondern Trieb zu etwas, was man mehr wolle als den Tod und das gegenüber dem Tod völlig indifferent sein könne, man nehme ihn in Kauf. Das Nichts zu wollen könne bedeuten, eine dunkle Katastrophe zu wollen. Es könne aber auch bedeuten, zu begehren, und das könne ein Motor sein, das Unmögliche ins Mögliche zu verwandeln. Nichts ist nicht, noch nicht. Warten wir es ab. Es gibt kein gutes Flüchtlingsrecht? Es gibt keine gutes Recht zur Flucht oder zur Migration? Das kann ja noch werden. Man kann begehren, was nicht ist, man kann das Nichts begehren. Genug Leute sagen, dass man nur das Nichts begehren könne.

Aber Z. insistiert auf ihre Fassung der Geschichte. Heute, so behauptet sie in dem Text von 2001, könne man genau die Schließung eines Spielraums beobachten. Es gibt, so kann man das lesen, keine Alternative zum Leben. Alle sollen leben, nichts und niemand soll drauf gehen.  Es gäbe zwei Möglichkeiten, das zu verstehen. Man solle, wie Lacan das deutet, aufgefordert werden, von seinem Begehren abzulassen. Oder aber das Begehren werde selbst schlicht unmöglich, es gäbe gar keinen Spielraum mehr, keinen Mangel, kein Offenes, an dem sich das Begehren entzünden kann, so kann man das lesen.

„Das ist die Frage“ – so schließt Z. nach weiteren Ausführungen jenes Kapitel, das mit Nietzsche eröffnet wurde um zu Kant, zu seinem Gesetz und seinen Triebfedern zu kommen.  Es gibt danach Ausführungen zum Pathologischen – auch im kantianischen Sinne, der unter der Pathologie nicht das Kranke oder Abnormale verstand, sondern ein Drängen, Ziehen oder Stoßen. Triebfedern sind pathologisch, die treiben an, zum Gesetz und erzeugen eine triebhafte Normativität, Alltag nach Kant. Das darin auch so etwas wie mindere Jurisprudenz liegt, also eine Normativität der Triebe, der Emotionen, der Affekte, des Unbegriffenen, des Flüchtigen, des Niederen, des Animalischen, des Instinktiven, des Transgressiven, des Gewaltigen, des Überwältigenden,  das wird ja schon lange reflektiert – nicht erst seit den modernen und postmodernen Kritiken der Vernunft.  Schon zwischen Dogmatikern und Rhetorikern gibt es einen Streit, inwieweit man im Kampf ums Recht auf Schein und Effekte setzen darf. Darf man bluffen und blaffen? Ist es redlich, Effekte einzusetzen? Darf die  Zeugin ihre Aussage trainieren, und sei es der Einsatz von Tränen, von denen einige glauben, dass sie nicht lügen würden? Darf man Bilder von Kindern in Käfigen zeigen, um ein bestimmtes Recht einzufordern, oder ist das gleich emotionale Erpressung oder aber Instrumentalisierung?  Nicht nur zwischen den beiden (rhetorischen und dogmatischen) Epistemologien wird darum gestritten.  Auch in  der Dogmatik, nämlich  im unterschiedlichen Verständnis, was Dogmatik eigentlich sei ( Scheinwissenschaft oder begrifflich-systematische Wissenschaft oder aber beides) tauchen solche Fragen auf. Darf die Dogmatik mit Bildern oder ohne operieren, kann sie das überhaupt frei entscheiden? Oh je, tut sich hier viel auf. So leer und so voll das Recht.

Lass gut sein, ein guter Rat, aber eben nur ein guter Rat. Er (er-)öffnet etwas, auch die Gründe zu den Abgründen hin. Eine Frage richtig zu stellen ist oftmals viel wichtiger, als die Antwort darauf zu geben.  Man solle gute Fragen nicht durch Antworten zerstören, so ein Rat geben Leerheitslehrer wie John Cage. And the answer? It’s in its cage.


4 Comments

  1. Peter Camenzind Fri 29 Jun 2018 at 09:11 - Reply

    Andere Zeiten und andere Staatsrechtslehrer und andere Bots.

  2. Fabian Steinhauer Sat 30 Jun 2018 at 07:17 - Reply

    Lieber Peter Camenzind,

    andere und anderes, jederzeit. Die Zeit geht durch, auch durch uns (durch). Zeitgenossen teilen die Zeiten und die Zeit teilt die Genossen. Die Zeit genießen, wie geht das? Nicht zu viel sparen, nicht zu viel verschwenden. Durchgehen lassen vielleicht, oder?

    Sie sind so ein beständiger Kommentator und verdienen es, kommentiert zu werden. Ihr Name gibt mir immer wieder Anlaß zur Auslegung. Warum Peter Camenzind? Muss ich mal wieder Hesse lesen? Oder können Sie mir ein paar Tipps geben?

    Mit besten Grüßen

    FS

  3. Peter Camenzind Sat 30 Jun 2018 at 12:27 - Reply

    Der Name kann ein wenig poetisiert sein. Das kann Verfassungsdiskussionen ein wenig würdig wirken, wenn man nicht Kant, Nietzsche o.ä. zu nennen sein soll.

  4. Fabian Steinhauer Sat 30 Jun 2018 at 14:04 - Reply

    Ein wenig, das nehme ich mir zu Herzen, merci!

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