16 July 2018

Neues vom Glossator (14): Kämpfen, kommentieren, durch Texte kämpfen

Fabian Steinhauer, Anwalt/ Anwältin (2018)

1.

Habe zu kämpfen diese Woche. Schaue darum noch einmal in meine Randbemerkungen zu Rudolf von Jherings Kampf ums Recht. Der kommentierte Text stammt aus der Ausgabe, die Erik Wolf für Vittorio Klostermann besorgt hat, ich benutze die 8. Auflage von 2003, S. 8f. Ich interessiere mich für eine Passage zu Beginn, in der Jhering über die Entstehung von Recht nachdenkt.

2.

„Es muß zugegeben werden, daß auch das Recht ganz wie die Sprache eine unabsichtliche und unbewußte, nennen wir sie mit dem hergebrachten Ausdruck: organische Entwicklung von innen heraus kennt.“

Organe sind Teile im Inneren. Sie sind nicht der ganze Körper. Sie spielen mit, im Inneren. Organe melden sich. Wem? Dem Kopf. Wenn Organe sprechen, wie etwa der Magen oder der Darm, dann klingt das eher nach Bla Bla oder nach Krach als nach Sprache. Organe blubbern eher als dass sie sprechen. Ihre Sprache gilt manchen (dennoch, gerade deswegen) als deutlicher und weniger verstellt. Sie muss dennoch gedeutet werden.

Die Metapher der Organe hat zwei Seiten: Eine spielt auf das Zusammenspiel im Körper an, da ist das Organische jenes Lebendige, das auch schon vor dem Kopf kooperiert. Die andere Seite spielt auf das Mindere, Vorausgehende, Vorsprachliche und Unbewusste, aber auch auf dasjenige an, was im Unterschied zum körperlichen deutlicher teilnehmend (geteilt, teilend) ist. Organe sind nicht das Ganze. Sie liegen verdeckt  und unsichtbar unter der Oberfläche des Körpers.

„Ihr [der organischen Entwicklung] gehören alle diejenigen Rechtssätze an, welche sich aus der gleichmäßigen autonomischen Abschließung der Rechtsgeschäfte im Verkehr nach und nach ablagern, sowie alle diejenigen   Abstraktionen, Konsequenzen, Regeln, welche die Wissenschaft aus dem vorhandenen Rechte auf analytischem Wege erschließt und zum Bewußtsein bringt.“

Jhering sagt „autonomisch“ statt autonom. Was abgeschlossen ist, das ist auch abgelagert, also sedimentär – und steht im Kontext von seditio und Lagerung.

Das übrige („sowie“) ist entweder abstrakt oder konsequent oder regelhaft – und muss dann zum Bewusstsein gebracht werden. Auch dieses übrige liegt nicht durchgehend gegenwärtig oder präsent vor. Wo es vorliegt, ist es auch entfernt oder abgezogen (abstrakt), eine Sequenz neben Sequenzen (konsequent) und eine Regel mit Ausnahmen. Vor allem aber ist alles das gebracht, zum Bewusstsein, aus einem  anderen Bereich als dem Bewusstsein.

„Aber die Macht dieser beiden Faktoren: des Verkehrs wie der Wissenschaft, ist eine beschränkte, sie kann innerhalb der vorhandenen Bahnen die Bewegung regulieren, fördern, aber die kann die Dämme nicht einreißen, die dem Strome wehren, eine neue Richtung einzuschlagen.“

Die Macht ist „eine beschränkte“ begrenzt, so wirkt sie. Ihr geht etwas vor, oder sie sitzt etwas auf, das diese Beschränkung leistet. Jhering sagt nicht, sie sei beschränkt, er sagt, sie sein „eine beschränkte“. Sie folgt (aus) einem Eingriff.  So ist sie effektiv. Wie die Normativität operationalisiert die Macht Differenzen. So ist sie begrenzt, wie sie begrenzend ist. Divide et impera kann man auch so verstehen: Teile und du wirst herrschen.

Innerhalb der vorhandenen Bahnen spielt das Spiel: Hier wirbelt und fließt, strudelt und drängt, zieht der Fluß, von hier nach da. Je regulierter, desto strömender. Die Hochwasser regulierter Ströme sind weder absehbarer noch ungefährlicher, sie sind schlichtweg regulierter.

„Das kann nur das Gesetz, d.h. die absichtliche, auf dieses Ziel gerichtete Staatsgewalt, und es ist daher nicht Zufall, sondern ein im Wesen des Rechts tief begründete Notwendigkeit, daß alle eingreifenden Reformen des Prozesses und materiellen Rechts auf Gesetze zurückverweisen.“

Das Gesetz ist nach Jhering die absichtliche Staatsgewalt. Sie ist auf ein („dieses“) Ziel gerichtet, sie ist also zielende und gerichtete Gewalt.  „Dieses Ziel“ meint hier: Dämme einreißen und neue Richtungen einschlagen. Das könne nur das Gesetz. Eingreifende Reformen verwiesen auf das Gesetz zurück, diesen Rückverweis bezeichnet Jhering sogar als „tief begründete Notwendigkeit“.

„Nun kann zwar eine Änderung, welche das Gesetz an dem bestehenden Recht trifft, ihren Einfluß möglicherweise ganz auf letzteres, auf die Sphäre des Abstrakten beschränken, ohne ihre Wirkungen bis in den Bereich der konkreten Verhältnisse hinab zu erstrecken, die sich auf Grund des bisherigen Rechts gebildet haben, – eine bloße Änderung der Rechtsmaschinerie, bei der eine untaugliche Schraube oder Walze durch eine vollkommenere ersetzt wird.“

An diese Stelle wechselt Jhering die Metaphern. Wenn er, direkt vor diesem Satz, von der Entstehung des Rechts jenseits des Gesetzes sprach, dann auch vom Organischen. Jetzt, in Bezug auf das Gesetz, spricht er von Maschinen. Recht ohne Gesetz, also Recht als Regel, Übung, Gewohnheit, Ordnung, Einrichtung ist in diesen Passagen eine organische Angelegenheit. Das Gesetz ist in diesen Passagen eine maschinelle Angelegenheit.

Organe und Maschinen – diesen Unterschied macht Jhering in diesem kurzen Text von 1872 nicht explizit. Und schaut man in sein Werk, lässt sich beobachten (etwa im Rückgriff auf die Sprache der Chemie: ”Scheidekunst”) dass er Metaphern unterschiedlich verwendet. Aus dem Kontext lässt sich darum schwer schließen, wie er den Unterschied zwischen Organen und Maschinen hier einsetzt. Spielt er mit Maschinen eher auf Produktions- oder Reproduktionsverhältnisse an? Spielt er auf Industrie oder Überschuss an? Sind Organe innerlicher, Maschinen äußerlicher? Sind Organe lebendiger, Maschinen toter? Sind Organe konkreter, Maschinen abstrakter? Manche Lesarten liegen näher, etwa diejenige, das Maschinen äußerlicher, toter, abstrakter wären. Aber eindeutig wird der Text darin nicht.

Gesetzgebung denkt Jhering in diesem Kontext vor allem als Änderung. Gesetzgebung heißt nicht, bestehendes Recht auf den Punkt zu bringen, zu explizieren. Es heißt, Sätze zu verabschieden – und diese Sätze ändern etwas. Sie ändern etwas abstrakt, am Abstrakten ändern sie etwas, direkt. Weil Abstraktionen auch Abzüge sind und Abzüge auch Entfernungen, ändern Gesetze etwas am Abzug und der Entfernung. Gesetze ziehen ab, sie entfernen.

„Sehr häufig liegen die Dinge aber so, daß die Änderung sich nur um den Preis eines höchst empfindlichen Eingriffes in vorhandene Recht und Privatinteressen erreichen lässt.“

Und direkt darauf kommt ein Satz, der knallen kann, weil er von einem Knall sprechen kann. Gesetze ändern etwas an und in der Entfernung, am und im Abzug. Aber dasjenige, was am bestehenden Recht konkret war, wird dadurch auch berührt. Gesetze greifen in vorhandene Rechte ein, sehr häufig. Rechtssetzung ist Rechtseingriff, sehr häufig. Abzug ist Entzug, sehr häufig. Entfernung entfernt etwas, sehr häufig. Abstraktion abstrahiert, sehr häufig, Was an der Gesetzgebung produktiv und homogen erscheinen kann, kann zugleich Heterogenität reproduzieren. Auch nach dem Gesetz wird es so bleiben, dass diese neuen Gesetze auf eine Weise geteilt werden, an der die Leute unterschiedlich teilhaben. Wer das Eigentum setzt, mit einem Satz, macht damit nicht alle zu Eigentümern, nicht an allem.

„Mit dem bestehenden Recht haben sich im Laufe der Zeit die Interessen von Tausenden von Individuen und von ganzen Ständen in einer Weise verbunden, daß dasselbe sich nicht beseitigen lässt, ohne Letztere in empfindlichster Weise zu verletzten; den Rechtssatz oder die Einrichtung in Frage stellen, heißt allen diesen Interessen den Krieg erklären, einen Polypen losreißen, der sich mit tausend Armen festgeklammert hat.“

Und jetzt, Freunde von Roger Caillois dürfen sich freuen, kommt er, der Polyp, der Kraken. Der Kraken, imaginäre Gestalt aller jener großen Zusammenläufe und vertrackten Zusammenhänge, große Steuergestalt aus Untersee, taucht auch bei Rudolf von Jhering auf.  Als entfernter Verwandter des Leviathan geistert diese Seegestalt schon lange durch Rechtstexte, allein schon deswegen, weil Leviathan und Polyp unterscheidungsbedürftig, der Unterschied also kommentarbedürftig ist. Wer mehr über das Imaginäre des Kraken und seine Bedeutung im 19. Jahrhundert erfahren möchte, könnte hier mit der Lektüre Caillois’ fortsetzen.

„Jeder derartige Versuch ruft daher in naturgemäßer Betätigung des Selbsterhaltungstriebes den heftigsten Widerstand der bedrohten Interessen und damit einen Kampf hervor, bei dem, wie bei jedem Kampfe nicht das Gewicht der Gründe, sondern das Machtverhältnis der sich gegenüberstehenden Kräfte den Ausschlag gibt und so nicht selten dasselbe Resultat hervorruft  wie beim Parallelogramm der Kräfte: eine Ablenkung von der ursprünglichen Linie in die Diagonale.“

Kaum fällt vom Glossator der Name Caillois, kommt der kommentierte Text auf die Diagonale zu sprechen, also jenen Zug, dem Caillois in Praxis und Wissenschaft nachging, wenn er von diagonalen Wissenschaften und einer diagonalen Praxis sprach.  Diagonal ist nicht dialektisch. Diagonal ist nicht agonal. Diagonal ist schräg oder quer. Diagonalen verbinden nichtbenachbarte Ecken. Diagonalen sind nach Jhering Ablenkungen von ursprünglichen Linien, wenn Kräfte über sie laufen, deren Lauf auf anderen Linien etwas Ursprüngliches und Gerades haben soll.

Ursprünglicher Text und Kommentar. Kräfte laufen durch beide Texte. Ablenkung gibt es. Durch Texte kämpfen heißt, ihrer Glätte nicht zu vertrauen.


2 Comments

  1. Kafkathustra Tue 17 Jul 2018 at 18:58 - Reply

    Mysterium disiunctionis – intensiver Assoziationsblitz mit Agamben, Das Offene, S. 23 – 26.
    Das Skalpell der Gerichtsmedizin macht den Blick frei auf die Todesursachen – ist der (Rechts-)Körper denn schon tot? Oder noch an die eigene Agonie gefesselt, dank der Maschinenprothese Gesetz?

  2. Brana Moravska-Hollasova Tue 24 Jul 2018 at 08:32 - Reply

    @Rudolf von Ihering.
    Lieber Rudolf von Ihering, Ihr habt ja nicht weit weg von Frankfurt an der Großherzoglich – Hessisch -Darmstädtischen Landesuniversität Gießen gelehrt und seid u.a. auch dadurch aufgefallen, dass Ihr den Verfassungsbruch Bismarcks (Krieg gegen Österreich) scharf kritisiert hattet (1.Mai 1866) um dann kurze Zeit später (19. Aug.) dem siegreichen Genie Bismarck zuzujubeln: „Ich gebe für einen solchen Mann der Tat … hundert Männer der liberalen Gesinnung, der machtlosen Ehrlichkeit!“
    Ja, die Macht, die Normen setzt, sie kann auch „Dämme einreißen“. Welche Dämme das sein könnten, habt Ihr in diesem konkreten Fall, volltrunken von den Erfolgen des Machtmenschen Bismarck, nicht wissen können: Den Damm, zum Beispiel, den Franz Palacký in Österreich sah, als einen Damm gegen gierige Großmächte wie Russland, das ja auch genau hundert Jahre später, 1948, die Selbstständigkeit der CSR beseitigt hatte, ja, überhaupt hat ja das Genie Bismarck mit seiner nationalstaatlichen Lösung den Keim der Zerstörung des mitteleuropäischen Vielvölkerraumes gelegt. Die Opfer leben noch, die ausgerechnet im Land der Bismarcktürme Zuflucht gefunden haben.
    Was, lieber Herr von Ihering, wollt Ihr uns Heutigen denn sagen? Welche Dämme drohen denn heute eingerissen zu werden? Es dürfte wohl die Macht und die Normativität des Faktischen sein, die normative Dämme einreißt und über kurz oder lang zu dem Albtraum des Rechtsstaates führen wird, zu einer Folge von Verfassungskonflikten, die den Verfassungskonflikt, den Ihr Bismarck 1862 vom Zaun gerissen hat, tief in den Schatten stellen dürfte.
    Einen Vorgeschmack bietet uns, um in Ihrer Nähe zu bleiben, das Gießener Verwaltungsgericht, das in einem beispiellosen Wutanfall das Bundesverfassungsgericht angegangen ist. (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/vg-giessen-4l6810-17gia-abschiebung-tuerkei-terrorist-bverfg-kritik/): „Jedem Terroristen eine Schutzverheißung zu Gute kommen zu lassen, liefe darauf hinaus, alle Terroristen weltweit in Deutschland zu sammeln …“
    Nicht nur in Gießen und nicht nur in diesem Fall gibt es die Befürchtung, dass für sicher gehaltene Dämme mit der normativen Kraft der Gesetze unterminiert werden. Auf der anderen Seite steht die Überzeugung, dass die Dämme, die bald nach dem Krieg zum Schutz von Verfolgten aufgebaut wurden, auch tauglich und haltbar bleiben – koste es, was es wolle – wenn auf ihnen im Zuge der Bevölkerungsexplosion im Nahen Osten und in Afrika junge Männer von der angestammten Perspektivlosigkeit in eine rechtlich und sozial abgefederte Perspektivlosigkeit wechseln, und zwar massenhaft. Ich möchte nicht, dass für einen Mann der Tat, der den gordischen Knoten zerschlägt, hundert Männer und Frauen der liberalen Gesinnung geopfert werden. Also bitte steigt doch mal hinab ins Diesseits, setzt Euch als Alb auf Eure Nachfolger in Gießen und anderswo, raubt ihnen Gewissheiten, auf dass ihnen etwas Neues, Kreatives einfalle, mit dem sie Gesetzgeber bedrängen und uns hoffentlich vor dem Albtraum „Verfassungskonflikt“ (und Staatsversagen) bewahren!

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