Neues vom Glossator (16): In zerstreuter Verfassung
Was für eine Hitze. Können sie sich noch konzentrieren?
1.
Früher sollen Verfassungen einmal konzentriert gewesen sein. Zumindest gibt es einen berühmten Text von Peter Lerche. Der wird häufig zitiert und da ist davon die Rede, dass die Verfassung konzentriertes Verfassungsrecht sei.
„Die Verfassung ist nicht so sehr konkretes wie konzentriertes Verfassungsrecht; sie verlangt nicht so sehr Auslegung wie Vermittlung, nicht so sehr nachvollziehende rechtslogische Interpretation wie nachvollziehbar geordnete ‚gekonnte‘ Konkretisierung.“
Konzentration bildet in dieser bekannten Passage kein Antonym zur Zerstreuung, schon weil sich Peter Lerche, der Autor, unmittelbar vor dieser Stelle gegen die Idee wendet, die Verfassung sei die „perfekte Fassung“ des Rechts. Die Verfassung ist keine perfekte Fassung, so damals Lerche. Konzentration ist nach Lerche kein Antonym zur Zerstreuung.
Die zitierte Passage war Teil an einer Kritik der Logifizierung und an einem Amt des Interpreten. Lerche wendete sich gegen die Idee einer vollständig erfolgten Logifizierung des Rechts und gegen die Idee, dass eine solche vollständige Logifizierung auch mit dem besonderen, herausragenden Amt eines Interpreten einhergehen würde. Gleichzeitig lief in dem damals geschrieben Text auch so etwas wie ein Lob der Verteilung mit. Die Verfassung, sie ist weder eine vollständig logifizierte, perfekte begriffliche Fassung des Rechts, sie ist ein Rechtstext, der einer verteilten Lektüre zugänglich ist. Mangels gefasster Perfektion, also dank seines imperfekten Zustandes, selbst bietet dieser Text Verteilungsmöglichkeiten. Sprich: Lerche setzte auf pluralistische Lektüre, auf verteilte Lektüre, auf eine Lektüre, die den Text teilt.
Das Recht kann mit diesem Verfassungsrecht in der Gesellschaft und an der Gesellschaft verteilt werden. Nicht „so sehr nachvollziehend“ aber „nachvollziehbar“: Lerche sprach mit dieser feinen Unterscheidung an, dass die Verfassung gesellschaftlich zur Disposition steht. Darum wählt er etwas, was in der analytischen Philosophie als Dispositionsprädikat bezeichnet wird.
So seltsam das auf den ersten Blick scheint: In Lerches Figur des konzentrierten Verfassungsrechtes war die Zerstreuung noch kein Antonym zur Konzentration. Mangels perfekter Fassungen markierte die konzentrierte Verfassung keinen Gegensatz zur zerstreuten Verfassung. Auch ein Text, der konzentriert verfasst ist, kann zerstreut sein – In Lerches Modell der Verfassung gehen Kontraktion und Distraktion Hand in Hand.
Lerches Satz wurde viel zitiert – und selbst wiederum unterschiedlich gedeutet. Man muss ihn nicht so deuten, wie ich das tue. Jenseits des ‚ursprünglichen‘ Kontextes kann man die Formulierung vom konzentrierten Recht auch als Schlagwort für einen Rechtstext verstehen, in dem das Recht besonders fest, besonders gründlich und besonders dicht gefasst ist. Man kann Lerches Satz auch ganz anders lesen, als ich das tue und darin die Vorstellung lesen, dass das Verfassungsrecht ein Zentrum sei, habe oder bräuchte, als sei die Verfassung das auf den Punkt gebrachte und ungeteilte Recht, und an dieser umfassenden Stelle sei es eine höhere Ordnung mit tieferen Werten. Eine solche Vorstellung von konzentriertem Verfassungsrecht legt dann trotz der vorhergehenden Passage nahe, dass die Verfassung die eigentliche Dichtung des Rechts, also seine dichte Umfassung und perfekte Beinhaltung sei. In ihr würde sich dann nichts (ab-)spalten, sie würde die Eigenheiten der Gemeinschaft auf einen so rechtsförmigen wie souverän bewussten Punkt bringen. Was hat das nun mit den Diagnosen zum Verfassungswandel nach 1990 zu tun? Wenn man diese Vorstellung von der Verfassung hat, dann wäre ihre Zerstreuung auch ein Gegensatz dazu.
2.
Diese andere Lesart taucht nach 1990 auf, vielleicht nicht das erste mal, aber auch. Nach 1990 erschien tatsächlich nicht mehr Konkretisierung, sondern Zerstreuung als Gegensatz der Konzentration – und in dieser Entgegensetzung klingt Zerstreuung dann nach Verfall. Nicht dass das neu ist, nach 1990 nimmt der Diskurs der Zerstreuung aber immer mehr die Sorge und den Streit um die Perfektion des Rechts an.
So hat Josef Isensee 1999 in einer bekannten Studie zum Stil der Verfassung die „Verfassungsdiaspora“ sogar als Beispiel einer misslungenen Gestalt des Rechts geschildert. Ich übersetzte hier Diaspora mit Zerstreuung. Seine Diagnose gehört zu den prägnanten Stellungnahmen einer Verfassungstheorie, die ihren Ausgangspunkt in staatlichen Institutionen nimmt und die man im Vergleich zu den Theorien der Zivilverfassungen sogar als ‚alte‘ Theorie beschreiben kann. „Die Zersplitterung gefährdet die praktische Wirksamkeit“, merkte er also 1999 an. Ein Faktor dieser Diaspora ist nach Isensee die Lösung der Verfassung von einer zentralen Instanz. Isensee meint damit in der angesprochenen Passage ein Dokument, die Urkunde. In seinem Konzept kann die Verfassung nur eine Urkunde haben, als könne nur deren physische Einmaligkeit und ihre logische „Einzigartigkeit“ die Anfänglichkeit und Endlichkeit des grundlegenden Rechtstextes sichern. In Isensees Beschreibung einer Urkunde spielt die Vorstellung mit, dass ihr Verlust auch bedeute, dass der Text über keine ersten und damit auch keine letzten Botschaften mehr verfüge. Die Grenzposten, die ein Text braucht, um so umgreifend wie verfassend zu sein, gehen nach Isensee ohne Urkunde verloren. Das Wissen, „wo sich Verfassungsrecht findet und was zu ihm gehört“ werde dann „esoterisch“.
Ohne Urkunde ließe sich kein Verfassungsrecht (ab-)dichten, legen die damaligen Ausführungen nahe. Isensee brachte mit aller katholischen Grundierung (mit der er der Urkunde eine „trans-juridische Integrationskraft“ zuschrieb, als sei sie der mediale Corpus einer juridischen Transfiguration) einen allgemeinen Gedanken auf den Punkt. In der Vergangenheit, also an einem entfernten Ort, hat die Verfassung ihre Limits in vertrauten Medien wiedererkannt. Seit dem kontinentaleuropäischen Streit um die Notwendigkeit einer Verfassungsurkunde, also spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, ist dem Verfassungsdiskurs schließlich vertraut, von der Festigkeit dieses papiernen, gedruckten und manuell signierten Trägers auf die Stabilität des Gesetzes zu schließen. Seitdem ist es in Bezug auf die Urkunde auch üblich, von Physik auf Logik und von Einmaligkeit auf Einzigartigkeit zu schließen. Innerhalb solcher Schlüsse ist für Isensee die Urkunde Mittel zum Zweck, und der Zweck liegt in einem großen und konstitutionellen Subjekt.
Die Passagen zur Notwendigkeit einer einzigen Urkunde werden von Isensee nicht (bis auf eine Unterscheidung zwischen Beurkundung und Kodifikation) relativiert. Er unterscheidet aber in anderen Kontexten sehr genau die Urkunde von der Schrift. So gibt es Passagen zu dem Verhältnis zwischen Staatlichkeit und Verfassung, in denen die Schrift mit einer eher distanzierteren Emphase beschrieben wird:
„Säkulärer Schriftkult macht aus ihr [der Verfassung, Anm. FS] eine politische Bibel. In sie werden innerweltliche Heilsversprechen und politische Erlösungshoffnungen hineingelesen. Sie inspiriert anarchischen Idealismus und die Utopie eines herrschaftsfreien Diskurses.“
Isensee unterscheidet also die „transjuridische Integrationskraft“ der Urkunde vom „Schriftkult“ und seinen anarchischen Tendenzen. Dementsprechend ist es ganz adäquat, dass er in der Passage über die Urkunde nicht auf deren Lesbarkeit eingeht. Fast schon im Gegensatz dazu hält er zu Beginn der Untersuchung sogar noch fest, dass die Autorität des Grundgesetzes nicht darunter leide, wenn das Grundgesetz ungelesen bleibe. In dieser Gegenüberstellung von Urkunde und Schrift ist es so, als müsse die Urkunde nur gezeigt werden, während die Schrift lesbar ist. Die Kraft der Urkunde ist bei Isensee eine Zeigemacht. Isensee interpretiert die Urkunde gar nicht als Gegenstand einer Lektüre, sondern als zeigbaren Körper, als vorzeigbaren Körper. Siehe da, eine Verfassung! Diese Funktion erfüllt die Urkunde. Man muss sie nicht lesen.
Dafür integriert die Lektüre in Isensees Blick aber nichts. Lektüre bietet nach Isensees Ausführung keine Integrationskraft, eher ist es anders. Die Leute lesen ja unterschiedlich. Hinter Isensees Umgang mit Urkunde und Schrift mag zwar eine klischeeartige Gegenüberstellung von Katholizismus, Protestantismus und Judaismus sowie von Bild-, Gesprächs- und Schriftkulturen stehen. Nicht zufällig ist bei Isensee von dem degenerierten und mutierten Zustand der „Diaspora“ die Rede – sie ist für Isensee nämlich ein Zustand, in der die Einzigartigkeit, also eine reine Singularität der Verfassung, zerfällt. Das ist klischeehaft, weil es an alten Motiven hängt. Nicht zufällig ersetzt Isensee in den Passagen zum Schriftkult auch Schmitts Formulierung vom „antirömischen Affekt“ durch die Formulierung vom „antistaatlichen Affekt“, schließlich findet sich das alte Motiv von der vereinenden und sinnstiftenden Bildhaftigkeit des (eigenen) Katholischen und der zerstreuten Textlastigkeit der anderen (fremden) Religionen, Konfessionen und Ideologien schon bei Schmitt. Schon bei Schmitt findet sich das Motiv, dass ein konstitutioneller Medienwechsel auch eine bedrohliche Alienation der Verfassung wäre. So motiv- wie klischeereich sind die juristischen Versionen der Medientheorie.
Wie immer ist Isensees Text über den Stil der Verfassung aber mehr als ein Text, der sich an der Tradition der eigenen Motive abarbeitet. Sein Verfasser spricht nicht aus dem Nichts heraus. Wenn die Urkunde des Grundgesetzes nach 1990 auch nicht verschwunden ist und der Jubiläumsdruck einer leicht veränderten Faksimileausgabe mit dieser technischen Reproduktion den Originalwert der Urkunde eher noch betonte, so hat die Urkunde nämlich inzwischen durch andere Urkunden Konkurrenz erhalten.
Was Isensee 1990 noch als spezifisch österreichisches Problem beschrieb, das ist – wenn es tatsächlich ein Problem ist – längst auch eine alltägliche deutsche Angelegenheit, jenseits aller Motiv- und Klischeelastigkeit. Die Diaspora kommt nicht mehr nur in der Fremde vor, sondern auch am eigenen, heimatlichen Ort. Die Textgrundlagen des Verfassungsrechts sind zerstreut. Die Urkunden wurden reproduziert und vervielfältigt, schon weil der Verfassungsbegriff nicht mehr exklusiv nur auf den Text des Grundgesetzes beziehbar ist. Hinzu kommt, dass die bei Isensee implizierte Zeigemacht kaum genutzt wird. 1990 wurde die Urkunde in Auszügen noch einmal auf dem Cover eines Textes von Böckenförde über die Dogmatik der Grundrechte abgedruckt, wobei man aber nicht ein Abbild des Grundrechtsteils sondern der Signaturen wählte. Es ist bezeichnend, dass die Urkunde hier auf ein Cover gerückt, also quasi ‚gecovert‘, wurde und man dann die Signaturen zeigte, statt den Grundrechtsteil im Text lesbar zu machen. Ähnlich wie bei Isensees Lob der „transjuridischen Intergrationskraft“ und ihrer Abhängigkeit vom Corpus einer Urkunde, so hängt nämlich auch Böckenfördes Zuspitzung eines damals als „entscheidend“ präsentierten dogmatischen Scheideweges an der Symbolisierung eines großen Subjektes, und diese Symbolisierung hängt im besonderen Fall an der Zeigemacht menschlicher Signaturen.
Um zu zeigen, was der Grundrechtsteil ist, zeigt man in diesem Sinne auf dem Cover am besten Signaturen, keine Textauszüge. So vorsichtig wie genau distanzierte sich Böckenförde in dem Text nämlich davon, den „Zipfel der Souveränität“ auszuweiten und zu verteilen, weil er ganz beim demokratischen Subjekt zu bleiben habe. Die Souveränität muss in diesem Sinne ‚gecovert‘ werden. Es war also 1990 noch ganz passend, dass man auf dem Cover das zeigt, was man mit einem Wort von Legendre die menschliche Signatur nennen kann.
Im Verfassungsdiskurs nach 1990 wurde die Urkunde des Grundgesetzes nur in Auszügen, nur als Faksimile und dann nur noch einmal gezeigt, und das im (wieder) feiertäglichen Text eines Nichtjuristen, eines Kunsthistorikers. Dass die Urkunde als Faksimile in der Öffentlichkeit erschien, indiziert schon, dass die Zerstreuung des Rechts auf die Oberfläche seiner symbolischen Fassung gerückt ist. Die Juristen haben die echte Urkunde im Alltag unversehens aus dem Auge verloren. Wenige pilgern an den Ort ihrer Niederlassung und in ihr Archiv. Isensees Überlegungen zur Autorität des Ungelesenen müssten zumindest um Überlegungen zur Autorität des Ungezeigten und Verbogenen ergänzt werden. Die Deutlichkeit der Zerstreuung muss nicht offensichtlich sein, sie kann ihr Arkanes behalten. Man müsste vielleicht auch klarstellen, dass Isensee mit der Autorität des Ungelesenen ein imaginäres Zeigen und eine imaginäre Urkunde meint. Sein Text über die Urkunde ist dabei freilich ebenfalls dem Risiko ausgesetzt, esoterisch zu werden – auch wenn man das nur an seiner Lektüre festmacht. Aber vielleicht ist das auch nur Hitze, mit der man in diesen Tagen solche Texte zum Verfassungsrecht liest.
In der Tat und nicht nur dies. Selbst die quasi beglaubigten Abschriften des Grundgesetzes spielen in der Verfassungsrealität keine Rolle – oder wenn, dann lediglich zum Zwecke der juristischen Erheiterung über die infantile Naivität manches bürgerlichen Grundrechtsträgers angesichts seines Aberglaubens an die Wirkmacht der dort veröffentlichten Wortlaute, welchen flugs mit diversen und auf gefühlten Milliarden Seiten materialisierten Denksekreten des berufsständischen Kommentariats entgegengetreten wird; ganz so, als handle es sich beim Grundgesetz um ferne Ziele eines in unbestimmbarem Futur II noch – eventuell – zu errichtenden Utopias des Verfassungskonjunktivs; ähnlich den unlauteren Heilsversprechen paradiesischer Zukünfte in allen Gegenwarten der vergangenen zweitausend Jahre. Und selbstverständlich verschwendet keiner dieser ungezählten Propheten Schmittscher Jurisprudenz auch nur eine Zeile auf einen unprätentiösen und im Übrigen nebenerwerbslosen Satz wie z.B.: Der Aussage des Art. 1 Abs. 3 GG habe ich nichts hinzuzufügen!
Die erste Erwerbsregel eines jeden Berufsjuristen lautet: Dein Wille geschehe!
Denn was sollte das bitte für ein Gesetzes-Kommentar sein, der die Inhalte des Grundgesetz schnöde und verschont vom Rahm eigener Bedeutung repetiert und dessen Wortlaut gar als unmittelbar – jetzt, hier und heute – geltendes Gesetz feststellt? Zumindest keine glaubwürdige Sekundärquelle im Sinne der ungeschriebenen Verfassung der Wikipedia als Grundlage uneingeschränkter studentischer Bewunderung und neidisch-kollegialer Verklärung.
Und das – den verfassungsverneinenden Tatsachen nach – zu Recht! Wenn nämlich bereits die liturgischen Gewänder nebst zugehörigen Mitren aus den heiligen Kleiderkammern des Bundesverfassungsgerichts, dem Bollwerk gegen das Grundgesetz, pfeifen, dass eine wirksame Verfassung zum Einen auch immer sachlich und persönlich tatsächlich unabhängige Träger ihrer selbst bedarf, um bei Dringlichkeit auch die eigenen Geldgeber zur Einhaltung des unbeliebten Machwerks Grundgesetz zu verurteilen, und zum Anderen in Deutschland mit allem anderen gerechnet werden darf, als mit revolutionären Denksportarten, wie der Verteidigung der eigenen Grundrechte, dann ist es wohlfeil, über das Grundgesetz zu schwadronieren aus der Position des Wissen um die eigene sachliche und persönliche Unabhängigkeit von diesem: