Neues vom Glossator 5: Die Verfassung und das Verfassen
Auf dem Verfassungsblog wird nicht nur gebloggt, es wird auch verfasst.
1.
„Das Wort ‚Verfassung‘ hat einen verschiedenen Sinn“ schreibt Carl Schmitt im ersten Paragraphen seiner Verfassungslehre von 1927 – und zwar als so ersten wie prinzipiellen Satz. Der Satz steht nicht nur an erster Stelle. Er definiert auch, was man nicht gleich erkennt, was eine Verfassung ist. Das Wort ‚Verfassung‘ hat danach erstens „einen [….] Sinn“ und der ist zweitens auch noch „verschieden“. Dadurch soll sich die Verfassung dem Wort nach auszeichnen.
Carl Schmitt spielte ab und zu mit pathetischen Sätzen, also mit Sätzen im hohen Stil. Im gehobenen Stil meint verscheiden zu sterben, und „verschieden“ bildet dazu das Partizip II. „Sie verschied im Alter von 93 Jahren“ nennt der Duden heute als Beispiel eines möglichen Satzes vom Verscheiden. Der erste Satz der Verfassungslehre von Carl Schmitt kann also grammatikalisch so gelesen werden, dass der Autor hier vom Tod des Sinns spricht.
Kann das sein oder ist völlig abwegig? Wenn man den Sinn in der Sprache sucht und darum auch darin, wie andere vom Tod und vom Sinn sprechen, dann fallen einem vergleichbare Vorstellungen auf. Wenn die Verfassung der Effekt eines Schreibvorgangs ist, dann hat sie auch mit Buchstaben zu tun. „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig”, so heißt es in einer modernisierten Version von Luthers Übersetzung eines Satz von Paulus aus dem Brief an die Korinther. Wenn das Wort ‚Verfassung‘ einen verschiedenen Sinn hat, dann ist es eventuell das Verfassen selbst, also das grundlegende Schreiben, das den Sinn verscheiden lässt – oder eben tötet. Etwas zu verfassen würde danach bedeutet, etwas so zu schreiben, dass der Sinn der Schrift entfernt wird. Das muss nicht bedeuten, dass die Schrift sinnlos wird. Sie wird aber vom Sinn los. Und der Sinn ist dann so entfernt, abgetrennt und jenseitig, wie alles das, für das der Tod ein Wort ist.
2.
Vielleicht spricht Carl Schmitt nicht vom Verscheiden, vielleicht wählt er im ersten Satz seiner Verfassungslehre also nicht das Partizip II sondern dasjenige Adjektiv, das Zustände bezeichnet, die voneinander abweichen. Diese Strümpfe sind „verschieden lang“ bietet der Duden als Beispiel für dieses Wort an. Sicher spricht Carl Schmitt im Laufe seiner Verfassungslehre von lauter verschiedenen, also unterschiedlichen Dingen. Das legt es nahe, dass es hier um ein Adjektiv und nicht um das Partizip II geht. Und doch steht im ersten Satz nur ein Wort – und der Autor verwendet auch ausdrücklich den Singular. Er spricht von „einem […] Sinn“, der „verschieden“ sei. Hätte er im ersten Satz eine Pluralisierungsthese aufstellen wollen, also behaupten wollen, dass Verfassungen schlichtweg unterschiedlich, also auch mit und durch Unterschiede vorkommen, dann hätte er sich zumindest klarer ausdrücken können. Er hätte schreiben können, das Verfassungen verschiedene Bedeutungen haben. Hat er aber nicht.
3.
Meine These lautet, dass der erste Satz aus der Verfassungslehre von Carl Schmitt einen Schlüssel zu den kulturtechnischen Bedingungen des Verfassungsrechts liefert.
Verfassungen sind doppelbödig, weil unter dem, was mit ihnen begriffen wird, immer noch etwas mitläuft, was nicht begriffen wird. Verfassungen mögen auch vom souveränen Bewusstsein eines konstitutionellen Subjektes begriffen werden. Sie sitzen aber gleichzeitig Medien und Techniken, wie dem Schreiben, auf. Der Umstand, dass sie diesen Techniken aufsitzen, bedeutet auch, dass sie einer Äußerlichkeit aufsitzen. Eine Verfassung ist nicht bloß ein exklusives Dokument, für dessen Auslegung und Anwendung auch ein ebenso exklusives Subjekt, der Verfassungsjurist, zur Verfügung steht. Die Verfassung setzt auch das Verfassen voraus, und das ist eine kulturtechnische Operation, die das Subjekt des Verfassungsrechts, sei es nun Autor oder Leser, mit jenen und jenem teilen muss, die keine Subjekte des Verfassungsrechts sind. Und insofern gehen die Verfassungen nicht in dem auf, was das Subjekt begreift und sich bewusst macht. Sie laufen auch durch alles das, was unterhalb der Schwelle des Subjektes liegt.
Verfassen als kulturtechnische Operation meint in diesem Sinne, Texte so zu fassen, als ob sie grundlegend seien. Dazu gehört vor allem die Markierung ihrer Vollendung. Verfasste Texte sind nämlich mehr als Entwürfe. In den nachrömischen Gesellschaften gibt es eine Reihe von Techniken, die speziell für die Vollendung von Texten entwickelt wurden. Vor allem sind das Sperrzeichen und – in einer Entwicklung, der von einigen Jahren Beatrice Fraenkel nachgegangen ist – der besondere Unterfall dieser Sperrzeichen, die Signatur.
Als ob sie grundlegend seien? Sind sie es denn nicht? Ihre Grundlegung und ihre Gründlichkeit sind artifiziell, technisch und, wenn man so will, fiktiv. Das alles spricht nicht gegen die Effektivität und die reale Wirksamkeit dieser Texte. Es spricht nur gegen die Vorstellung, dass das Grundlegende und die Gründlichkeit von verfassten Texten Abgründe ausschließen würden. Verfassungen liefern nur Sätze „über dem und über den Abgrund“ (Clemens Pornschlegel). Ihr Spezifikum liegt darin, an das Schreiben, seine Sperrzeichen und Signaturen gebunden zu sein. Nur im Kontext solcher Schreibtechniken, nur im Kontext dieser besonderen Überbrückung von Abgründen hat sich die Konjunktur des Verfassungsbegriffes entwickelt – und an eine Praxis gebunden, in der Schreiber Autoritäten und Autoritäten Schreiber sein sollen. Seitdem hat das Grundlegende der Verfassung auch immer etwas vom dem Subjekt, das signiert und sich so behauptet.
Wenn Schmitt im ersten Satz seiner Verfassungslehre tatsächlich vom Verscheiden und vom Töten spricht, dann muss man das nicht unbedingt in der Tradition einer katholischen und paulinischen Deutungstradition sehen (obwohl man das natürlich kann). Man kann das auch als Hinweis darauf verstehen, das Verfassungen nicht in den Präsenzeffekten dessen, was Gegenwärtig ist, aufgehen. Sie ruhen nicht im Leben. Etwas Entferntes läuft mit, oder besser gesagt: Sie laufen durch etwas Entferntes.
3.
Aus meiner Sicht sind alle fundamentalen Begriffe des Rechts zweideutig. Ich gehe davon aus, dass das Recht Differenzen operationalisiert und darum die Spur dieser Differenz sich in der Zweideutigkeit der Begriffe erhält. Die These von der Zweideutigkeit des Verfassungsbegriffes gehört zu den geläufigen Thesen des deutschen Verfassungsrechts. Allerdings bezieht sie sich da zumeist auf den Doppelsinn von normativer und faktischer Verfassung – und sie wird meist mit der These verbunden, die Juristen seien nur für einen dieser unterschiedlichen Sinne zuständig.
Wenn man sich, wie ich das tue, für die juristische Reproduktion interessiert, also dafür, wie das Wissen ums Recht geteilt und übertragen wird, dann ist wichtig, der Exklusivität und Eindeutigkeit des Rechts und seiner Verfassungen nicht zu trauen. Man ist dann auch gar nicht darauf angewiesen, die Grundbegriffe des Rechts eindeutig zu fassen. Vielmehr kommt es darauf an, ihre Zweideutigkeit aufzuspüren. Der erste Satz aus Carl Schmitts Verfassungslehre kann in dem Sinne auch ein Sprung sein. Es kann sein, dass Schmitt in diesem Satz vom Verscheiden zum Verschiedenen springt. Es kann sogar sein, dass er das präzise macht, weil er das Verscheiden und das Verschiedene so deutlich zu einer Konstellation zusammenfasst.
Wie immer man den ersten Satz jener Verfassungslehre liest: In einer Welt, in der das Recht nicht sicher auf einem Medium aufruht, ist man darauf angewiesen, die Reproduktion jenes Rechts genauer ins Auge zu fassen. Die Entfernung des Rechts ist in Rechnung zu stellen. Seine Äußerlichkeit ist so in Rechnung zu stellen wie jene Stellen, an denen es scheinbar zwar sinnlos, aber dennoch unbestreitbar deutlich vorkommt. Anders als zu Zeiten Luthers bestehen diese Stellen heute allerdings nicht nur in Buchstaben. Sie bestehen auch in Computern und Relais – und in einer unübersichtlichen Anzahl weiterer Medien. Ob sich die Konjunktur des Verfassungsbegriffes halten wird, ist fraglich. Aus kulturtechnischer Sicht ist er eng an das Schreiben und die Buchstaben, an die Sperrzeichen und Signaturen gebunden. Ob er in der Welt vernetzter Medien sich behaupten können wird, ist fraglich. Nur um eins muss man keine Sorgen haben: Gründlichkeit und grundlegende Medien kommen auch ohne den Begriff der Verfassung vor.
Lieber Fabian,
ein sehr gelungener, schöner Text, den ich mit Gewinn gelesen habe. Manches würde ich genau so sagen, anderes fasst er in Worte, die mir dazu bislang fehlten. Vielen Dank!
JK
Sonst scheinen Poesie, Witz und rein besinnliche Aufsätze, besonders soweit sie mehr ziellos verschwurbelt unklar nachvollziehbar verfasst scheinen, in den Rechtswissenschaften zumeist eher weithin verpönt.