Neues vom Glossator (9): Erkenne Dich selbst, aber sprich nicht darüber
1.
Es gibt Gesetz und Recht, etwa in Art. 20 III GG. Beides gibt es, praktisch und theoretisch. Beides gibt es, als Wissen und als Wissenschaft. Das Wissen um Gesetz und Recht ist in mehrfacher Weise raffiniert, unter anderen durch Unterscheidungen wie derjenigen zwischen Gesetz und Recht, Theorie und Praxis oder Wissen und Wissenschaft. Man kann sagen, dass das, womit sich die Rechtswissenschaft beschäftigt, gespalten ist, zum Beispiel in Gesetz und Recht. Und man kann sagen, dass sie sich mit gleich zwei Dingen befasst, nämlich Gesetz und Recht.
Wer sie? Die Wissenschaft?
Auch!
Und was ist mit dem Wissen?
Auch!
Was meist Du?
Ich meine die Theorie!
Ok, und was ist mit der Praxis?
Teufel eins, ich meine mich! Ich befasse mich mit zwei Dingen, Gesetz und Recht.
Und wer bist Du?
Mein Name ist Fabian Steinhauer, und ich bin eine normative Reproduktion. Ich trage zwei Namen (Fabian und Steinhauer) und beide Namen haben zwei Bedeutungen. Fabian bin ich, aber auch jener Begriff, der in der Fabian Society herumgeistert. Steinhauer ist mein Name, es ist aber auch meine Berufsbezeichnung. Heute möchte ich (und ich auch) einmal erklären, was das mit Gesetz und Recht zu tun hat.
2.
Eine These von mir lautet, dass es in der deutschen Rechtswissenschaft eine römisch-germanistische Diskursregel gibt. Sie lautet dementsprechend römisch-faustisch: Erkenne Dich selbst, aber sprich nicht darüber. Ich spreche im folgenden schlicht von der (Diskurs-)Regel.
Nanu, werden die Leser sagen, diese Regel hat sich der Steinhauer ausgedacht. Denn in der Realität halten sich ja wenige daran. Richtig, aber so ist das mit allen normativen Einrichtungen. Es gibt sie, aber nicht alle halten sich dran. Mord und Inzest etwa sind ein Tabu, von denen Teile der strukturalen Anthropologie behauptet, es gäbe sie in jeder Gesellschaft – und überall gibt es auch Mord und Inzest.
Manche halten sich daran, viele. Es ist im Umfeld von Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) recht unüblich, von sich selbst zu sprechen. Die erste Person Singular taucht selten auf, aber sie taucht auf. Üblicher ist eher die erste Person Plural. Christoph Möllers’ preisgekröntes Buch über die Möglichkeit der Normen ist in der ersten Person Plural geschrieben. Die Ich-Form, das Singular, taucht, wenn ich mich recht erinnere, an keiner Stelle auf. Ich habe vor Jahren mal einen Aufsatz zu dem Phänomen geschrieben, der hieß (Achtung Diskursregel! Parental Advisory! Explicit Content!): Derrida Luhmann Steinhauer. Danach gab es eine Sitzung in der Uni Frankfurt, über die Ralf Seinecke sogar in der Zeitschrift Rechtstheorie berichten musste. Es hatte furchtbar geknallt. Mir auch, wir wurde auch eine geknallt, aber ich habe auch zurückgeknallt. Entschuldigen Sie bitte, Dieter Simon! Nichts für ungut, alles im Interesse von Gesetz und Recht (Art. 20 III GG).
Literatur wie die von Noberto Bobbio ist in Deutschland eher selten („De Senectute“), aber natürlich kommt sie vor. Es gibt einen großen Interviewband mit Dieter Grimm, der eine ähnliche Funktion erfüllt wie das alte Genre, das Bobbio nach einem römischen Muster übernimmt. Aber ich halte es auch nicht für einen Zufall, dass in Italien Bobbio diesen Text alleine schreibt, während der deutsche Text ein Interviewband ist. Die Diskursregeln in Deutschland sind andere, sie sind römisch-faustisch. Ähnlich wie in Möllers Buch braucht es eine majestätische Einfassung des Singulären. Das ist ein römisch-faustischer Pakt, mit dem große Gestalten über die Art und Weise schreiben, wie sie an Gesetz und Recht arbeiten, es erkennen, sich selbst dabei mit, und wie sie nur über einen Teil davon sprechen. Nicht in einem juristischen Sinne, aber in einem juridischen Sinne kann man da von Zensur sprechen. Erkenne Dich selbst, aber sprich nicht darüber, das ist eine Zensurregel. Zensur ist nicht unbedingt schlecht, die ist nur im Sinne von Art. 5 I Satz 3 GG verboten, sonst nicht.
3.
Die Systemtheorie ist eine Theorie des Selbst. Was als Selbst in der Autonomie auftaucht, das interessiert die Systemtheorie stark. Auch die ist eine Art Diskursanalyse, wenn auch ganz anders als bei Foucault. Bei Luhmann gilt: Erkenne Dich selbst, aber sprich nicht darüber. Als ich (Fabian Steinhauer) letzte Woche ein Seminar in Frankfurt besuchte, dessen Thema die kritische Systemtheorie war, ging es auch um Niklas Luhmann. Ich habe versucht anschaulich zu machen, was ich an der Systemtheorie zwar nicht für falsch, aber für gefährlich und problematisch halte. Das ist die Diskursregel. Luhmann ist ein Meister darin, sich selbst zu erkennen, aber nicht darüber zu sprechen. Er schreibt darüber, hochreflexiv, aber auch total zensiert. Das ist Teil der Luhmannschen Ironie. Die ist vielleicht nicht untragisch.
Und dann konnte man, im Seminar, sehr gut beobachten, wie stark die Diskursregel in Deutschland gilt. Ich habe im Seminar einfach mal über Luhmann gesprochen, über seinen Körper und darüber, wie fremd ihm die Homosexualität war. Anders als bei Michel Foucault war die Homosexualität Luhmann nicht eigen, sie war ihm fremd. Und plötzlich fragen die einen mich: War Luhmann schwul oder nicht? Und die anderen warfen mir vor, indiskret und unverschämt zu sein – und mich nicht an die Diskursregeln zu halten. Ein römisch-faustischer Pakt. Wer darin keine Probleme sieht, kann sich ja daran halten. Ich dachte, alle seien etwas ungeübt, ich auch.
4.
Ich (!) habe mich auch an diesem Pakt gehalten. Selbst ich, aber das Ich und das Selbst sind ja eine komplizierte Angelegenheit. Obwohl ich die Diskursregel problematisch finde, habe ich mich, ohne es zu wissen, daran gehalten. Ich bin Privatdozent im öffentlichen Recht, Rechtstheorie und Medienrecht. Und so habe ich oft nicht davon gesprochen, dass ich als Wissenschaftler woanders sozialisiert wurde. Ich dachte immer, wenn ich den Leuten erzähle, dass ich auch eine Ausbildung in der Kunst und in der Psychoanalyse habe (sehr unorthodox, völlig indifferent gegenüber der Frage nach der Legalität!), halten die mich für bekloppt. Und so habe ich mich selbst erkannt, aber nicht darüber gesprochen, selbst ich nicht. Selbst in Derrida, Luhmann, Steinhauer nicht. Und dann habe ich mich immer wieder gewundert, warum viele Juristen aufbrausen, wenn ich rede, und warum meine Bewerbungen auf klassische Stellen kläglich scheiterten, in der ersten Runde. Jedesmal. Ich habe nicht einmal vorgesungen bei Juristen. Weltrekord!
Seit einiger Zeit erzähle ich diese Geschichte, auf meinem tumblr. Das ist mein öffentliches Sekretariat, ich bin Künstler und Jurist, ich darf das. Habe im Kommentar nachgeschaut, alles legal.
Seitdem verfolge ich dort ein Projekt, das heißt Zeige Deine Wunde und zielt auf eine Änderung der Diskurspraxis. Denn ich glaube, dass die bürgerliche Gesellschaft, systematisch ab 1982 mal wieder, verlernt hat, ihre Konflikte durchzuarbeiten. Seit 2002, seitdem ich also meinen Karriereweg von der Kunst ins Recht gelenkt habe, werde ich immer wieder, aber ausschließlich von Juristen, auch von engsten Freunden und Vertrauten, gewarnt, dass man seine Wunde nicht zeigen darf. Vor allem nicht als Staatsrechtslehrer. Meine Künstlerfreunde und Kollegen schmunzeln immer darüber, und ich erkläre ihnen dann immer geduldig, wie wichtig die Zensur für die Herrschaft ist, im besten Sinne. Herrschaft ist Macht, und Macht muss immer limitiert bleiben, auch im Sprechen und Schreiben. Wenn die Herrschaft etwas von den zeitgenössischen Empörungskulturen übernimmt, gehe ich sofort noch weiter ins Exil. Zensiert Euch, das ist nicht nur erlaubt, in einem juridischen Sinne. Es ist auch wichtig, damit Macht und Herrschaft und Normativität limitiert bleiben.
Noch weiter ins Exil? Ich bin auch daheim im Exil. Ich leite in Frankfurt, im Kontext der juristischen Ausbildung, ein Curriculum zur Geschichte und Theorie normativer Reproduktion. Das Projekt begann Ende der Neunziger, als Cornelia Vismann, mit ihrer Ausbildung in Jura, Medienwissenschaft und Psychoanalyse, nach Frankfurt kam, um ihr Buch über die Akten zu Ende zu schreiben. Thomas Vesting kam dann 2002, mit mir als Mitarbeiter im Schlepptau. Ich ging nach Cornelia Vismanns Tod weiter nach Weimar und dann auch nach Basel, um das Curriculum für die Lehre und Forschung systematisch und methodisch zu entwickeln und zu testen, mit Erfolg.
Es ist eine Ausbildung für alle Juristen, die nicht nur Juristen sind, sondern auch Exilanten an der eigene Fakultät. Es ist eine Ausbildung für alle, die wollen, dass Juristen nicht alleine sind, sondern mindestens zu zweit, auch mit Nichtjuristen. Wir reden von Jura, aber nicht nur.
Und die Diskursregeln? Die bleibt so unantastbar wie die Menschenwürde.
Falsche Überschrift!?
Das, sehr geehrter Peter Camenzind, ist vermutlich die perfekte Frage! Ist diese Regel, die da beansprucht, Titel zu sein, nicht eigentlich falsch? Ist es nicht besser, offener zu sein? Sich nicht so zu zensieren? Oder ist das gut so? Was meinen Sie?
Falls es besser sein sollte, zu schweigen, sollte man mehr darüber reden.
Geteilt, Zerrissen, Fremd.
Wie lange dauert 2 mal 5?
Ich warte auf Teil 10.
Schade, dass Frankfurt so weit weg steht.
Peter Camenzind,
das ist eine dogmatische Antwort, die sie da geben. Veritas falsa. Sie widersprechen, widersprüchlich. Ich tippe darauf, die sie wohl in der Dogmatik (ab 11. Jahrhundert) als auch in der Rhetorik ausgebildet wurden, also wissen, wie man Differenzen so operationalisiert, dass etwas aufbricht. Die Kasuistiker liebten das in ihren Spielchen seltsamer Fälle so, wie die Dogmatiker, wenn die einmal Dialektik betrieben, ohne gleich im Namen der Synthese zu sprechen. Die Rhetoriker machten das ja immer ganz offen. Fair play. Tolle Jurisprudenz! Wie sagt Bazon Brock? 2400 Dialektik. Trotzdem Mensch!
Um genau zu sein, fußt die Ausbildung und Argumentation wohl auf einem Stand um bis ca. hundert nach Christi Geburt.
Peter Camenzind, wow, ganz alte Schule, toll! Das sage ich mit großem Respekt. Habe sie noch Quintilian gelesen? Passt ja gerade noch so ein. Gaius’ Institutionen schon nicht mehr, postmodernen Kram! Aber ist schn interessant, wie alles nochmal anders wird, wenn es ein zweites mal gelesen, wenn es glossiert wird. Wie Aristoteles erst ab 11 Jahrhundert zu jemandem wird, der unserem Aristoteles ähnlich ist, der dann aber erst im Buchdruck und im Rahmen der Nationalsprache zu jenem Aristoteles wird, den wir heute kennen, ohne das wir mit Rollen, Papyrus, altgriechisch und arabisch und den alten Schreib- und Lesetechniken umgehen können. Welche Sprache sprechen Sie? Ich leider eigentlich nur Deutsch und Russisch, lebendig. Englisch lebendig. Alles andere klaube ich mir immer sehr sehr mühsam zusammen. Hat aber Vorteile: Es behält die Fremdheit. Man liest vielmehr mit, wieviel Tod in der Schrift steckt, wenn man eine tote Sprache nicht lebendig spricht.