09 August 2020

Neutrale Straf­verfolgung und demokratische Struktur­verantwortung

Gerade bei schweren – zumal mutmaßlich politischen – Straftaten lastet auf den Staatsanwaltschaften oftmals erheblicher Druck, den öffentlichen Aufklärungsinteressen schnell und effektiv gerecht zu werden, zugleich aber die rechtsstaatlichen Anforderungen der StPO zu wahren, die eben keine Aufklärung um jeden Preis zulassen. Derzeit lässt sich dies z. B. in Hessen beobachten, wo Ermittlungen wegen rechtsextremer Drohschreiben, in denen Beschäftigte der Polizeibehörden involviert sein könnten, bislang zu keinem Durchbruch gelangt sind. Gerade Ermittlungspannen können geeignet sein, das öffentliche Vertrauen in die Institutionen staatlicher Strafverfolgung zu beeinträchtigen. Ermittlungserfolge sind freilich nicht alleine eine Frage von Ressourcen und unbedingtem Aufklärungswillen. Nur selten sind Ermittlungsbehörden wirklich für Misserfolge verantwortlich. Umso irritierender ist daher ein Vorgang aus der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht. 

Ermittlungsintensität nach politischer Präferenz?

Kürzlich hat die Generalstaatsanwältin des Landes Berlin die Ermittlungen wegen einer Anschlagsserie in Neukölln gegen Linke und Sozialdemokraten an sich gezogen, weil die bisherige Ermittlungsführung Anlass geben könnte, an der Unbefangenheit eines befassten Staatsanwalts zu zweifeln. Einer der Beschuldigten ist ein ehemaliger Lokalpolitiker der AfD. Nach der Presseberichterstattung wird geprüft, ob der Leiter der Staatsschutzabteilung aufgrund einer politischen Affinität zu dieser Partei die Ermittlungen unzulänglich geführt haben könnte. In den Akten soll ein Protokoll von einem durch die Strafverfolgungsbehörden überwachten Chats aufgetaucht sein. Darin soll der Beschuldigte einem Dritten von seiner Vernehmung durch den Leiter der Staatsschutzabteilung der Staatsanwaltschaft berichtet haben. Dieser habe ihm „angedeutet“, dass er selbst AfD-Wähler sei. Die darin angeblich „angedeutete“ Selbstbezeichnung als AfD-Wähler verstand der Beschuldigte jedenfalls so, als ob ihm bedeutet worden sei, er bräuchte sich keine Sorgen zu machen. Dies muss natürlich nicht zwingend wahrheitsgemäß sein (von der Prahlerei des Beschuldigten bis zu einer verzerrten Wahrnehmung wären auch andere Erklärungen plausibel). Gleichwohl ist allein der vage Verdacht, die Staatsschutzabteilung könnte Ermittlungen aus persönlichen politischen Sympathien zu einer Partei, die in Teilen vom Verfassungsschutz wegen rechtsextremistischer Tendenzen beobachtet wird, sabotiert haben, so monströs, dass eine Überprüfung des Vorganges durch die Leitungsebene unverzichtbar war.

Standardszenario politischer Strafjustiz

Obgleich dieser Vorgang noch viele offene Fragen aufwirft, bietet er Anschauungsmaterial, warum der verbreitete Wunsch nach unabhängigen Staatsanwaltschaften zumindest ambivalent zu beurteilen ist. Zwar ist die Sorge verbreitet, weisungsabhängige Staatsanwaltschaften könnten Ermittlungen nach Opportunität der weisungsbefugten politischen Organe führen, obwohl Weisungen einer Justizministerin oder eines Justizministers extrem selten sind und Missbrauch praktisch kaum eine Rolle spielt. Demgegenüber wird durchweg das Standardszenario einer Politisierung der Strafjustiz übergangen: der im Schatten der Aktenberge faktisch unabhängig agierende Staatsanwalt, der sein Amt missbraucht. 

Internes und externes Weisungsrecht

Der Fall demonstriert in besonderer Weise, warum es notwendig ist, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte weiterhin sowohl dem internen als auch dem externen Weisungsrecht zu unterstellen. Die Beamtinnen und Beamten der Staatsanwaltschaft haben nach § 146 GVG den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten nachzukommen. Dies schließt – neben der Weisungsbefugnis der unmittelbaren Fachvorgesetzten – das Recht zur „Aufsicht und Leitung“ ein, das nach § 147 Nr. 3 GVG „dem ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten hinsichtlich aller Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks“ zusteht. Dieses so genannte interne Weisungsrecht hat die Generalstaatsanwältin hier erkennbar ausgeübt, indem sie die weiteren Ermittlungen den nach interner Geschäftsverteilung zuständigen Staatsanwälten entzogen und an sich gezogen hat. Zuständigkeiten für die Sachbearbeitung werden allein durch interne Verwaltungsvorschrift (behördliche Geschäftsverteilung) zugewiesen, sind also disponibel. Da weder die Verfassung noch das Gerichtsverfassungsrecht – anders als der Anspruch auf einen gesetzlichen Richter nach Art. 101 Satz 2 GG – ein Recht auf zuständige Verwaltungsbeamte kennt, ist eine solche Umverteilung der Zuständigkeit auch in laufenden Verfahren rechtlich problemlos möglich. 

Politisch höchst umstritten geblieben ist vor allem das so genannte externe Weisungsrecht der Justizverwaltung (also letztlich der Justizministerin oder des Justizministers als oberster Justizverwaltungsbehörde). Dieses ist in § 147 Nr. 1-2 GVG festgelegt. Hiernach steht das Recht der Aufsicht und Leitung zu: 

„1. dem Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz hinsichtlich des Generalbundesanwalts und der Bundesanwälte; 

2. der Landesjustizverwaltung hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes“.

Der Europäische Gerichtshof hatte vor dem Hintergrund dieser Regelung jüngst geschlossen, dass deutsche Staatsanwaltschaften mangels hinreichender politischer Unabhängigkeit keine „Justizbehörden“ seien, die wirksame europäische Haftbefehle ausstellen dürften (EuGH, Urt. v. 27.5.2019 – C-508/18, C-82/19 PPU, OG und PI, Rn. 73 ff.). 

Demokratische Verantwortlichkeit – verfassungsrechtlich

Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist nach wohl immer noch überwiegender und in der Sache zutreffender Ansicht die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft notwendig, ein hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) sicherzustellen (mit Nachweisen Gärditz, GSZ 2019, 133 ff.). Die Staatsanwaltschaft ist eine Exekutivbehörde, die zudem potentiell zu intensiven Grundrechtseingriffen ermächtigt ist. Für Exekutivhandeln muss gerade im Konfliktfall demokratische Verantwortlichkeit übernommen werden können. Materielle Verantwortungssicherung lässt sich aber nicht allein durch die Gesetzlichkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) angemessen institutionalisieren.

Oft wird zur Rechtfertigung der Unabhängigkeit darauf verwiesen, dass eine Staatsanwaltschaft ja strikt an das Gesetz gebunden sei und rigide Verfolgungspflichten habe, die ohnehin auch bei Weisungsunabhängigkeit zu erfüllen seien. Dies greift jedoch zu kurz. Erstens überschätzt das Paradigma „strikter“ Gesetzesbindung die Bindungskraft sprachgebundener Steuerung, während zugleich die Wertungsabhängigkeit prozessualer Sachverhaltskonstruktion unterschätzt wird. Gerade um Tatsachen geht es aber im Strafprozess an allererster Stelle. Zweitens geht es an den in der Rechtsanwendungspraxis zentralen Einstellungen nach Opportunität (§§ 153 ff. StPO) vorbei. Drittens wird übergangen, dass es gerade dann demokratischer Verantwortlichkeit bedarf, wenn den Behörden Fehler unterlaufen sind, also die Gesetzlichkeit verletzt wurde. Viertens wird die prozessuale Kontingenz von Ermittlungsverfahren ausgeblendet, deren taktische Gestaltung einschließlich des Einsatzes intensiver Grundrechtseingriffe weitgehend im – kriminalistisch orientierten – Verfahrensermessen der Ermittlungsbehörden und ihrer Hilfspersonen liegt.

Zu verantwortende Ausübung des Verfahrensermessens

Die strikte Bindung der Staatsanwaltschaft an die Strafgesetze stand im Ausgangsfall ebenso wenig in Frage wie die Verpflichtung nach § 152 Abs. 2 StPO, wegen „aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“ (Legalitätsprinzip). Entscheidend kommt es in der Regel – wie offenbar auch im Fall – weniger darauf an, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, sondern wie es konkret geführt wird. Ermittlungstaktische Erwägungen, Prioritäten innerhalb der zahlreichen Verfahren, die strukturell überlastete Staatsanwaltschaften bewältigen müssen, die konkrete Inanspruchnahme von Eingriffsermächtigungen im Ermittlungsverfahren, der Zeitpunkt eines „Zugriffs“ oder die Auswahl der Zeugen, die vernommen werden, sind durch die StPO nicht vorgegeben. Der Straftatbestand der Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) mag bei Fällen vorsätzlicher Verfahrenssabotage erfüllt sein, wenn z. B. zentrale Belastungszeugen nicht vernommen oder essentielle sachliche Beweismittel (wie eine Tatwaffe) nicht beschlagnahmt werden. Für die Feinsteuerung der Ermittlungstaktik ist die Bestimmung jedoch weder konzipiert noch geeignet. Anhand des Ausgangsfalles lässt sich dies besonders gut veranschaulichen. Ermittlungen wurden zwar eingeleitet, Verdächtige wurden als Beschuldigte vernommen, jedoch wurden die Vernehmungen möglicherweise voreingenommen geführt.

Systemvertrauen und institutionelle Verunsicherung

In jedem Fall ist mit der strikten politischen Neutralität der Strafverfolgung ein institutionelles Kernelement rechtsstaatlicher Strafrechtspflege tangiert, das über den Einzelfall hinausweist. Auch einzelnes Fehlverhalten kann das öffentliche Vertrauen in die Verlässlichkeit, Neutralität und Effektivität der Institutionen untergraben. Hessen lässt gleich mehrfach grüßen. Gerade weil Strafrechtspflege zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktionen – vor allem zur Stabilisation der verletzten Norm – in qualifizierter Weise auf Symbolik und sozialkommunikative Überzeugungskraft angewiesen ist, kann sich politisch selektives, voreingenommenes oder missbräuchliches Verhalten hier verheerend auf die institutionelle Leistungsfähigkeit insgesamt auswirken. Dies gilt erst recht, wenn es um rassistisch oder anderweitig politisch motivierte Straftaten geht, die vulnerable Gruppen symbolisch als Ziele markieren und daher in besonderer Weise eine entschlossene Reaktion schutzverantwortlicher staatlicher Behörden erfordern.

Demokratische Strukturverantwortung

Für die objektiv-rechtsstaatliche Glaubwürdigkeit staatlicher Strafrechtspflege muss aber – über die straf- und disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit einzelner Amtswalter hinaus – demokratisch Strukturverantwortung für das institutionelle Setting übernommen werden. Wenn rechtswidrige Praktiken – ob dies nun eine gruppenbezogene Diskriminierungsneigung, die Anfälligkeit für Korruption oder ein Fehlverhalten begünstigender Korpsgeist ist – möglich sind und nicht (oder nicht rechtzeitig) beanstandet werden, stellt sich zumindest die Frage, ob es über – nie auszuschließendes – individuelles Fehlverhalten hinaus auch strukturelle Defizite gibt, die systemisch-organisatorisch angegangen werden müssen.

So ist im Fall nicht weniger beunruhigend, dass das Transkript der Kommunikationsüberwachung und damit die – nicht notwendig glaubhaften – Behauptungen eines Beschuldigten dem für die Ermittlung primär zuständigen Staatsanwalt ebenfalls bekannt waren, er hierin aber offenbar kein Problem sah, das eine Information der Behördenleitung verdient hätte. Wenn der mögliche Einfluss von Präferenzen zu einer politischen Partei auf die Ernsthaftigkeit und Intensität der Ermittlungsarbeit eines Staatsanwalts von einem ebenfalls mit den Fall betrauten Kollegen entweder nicht als inakzeptabel erkannt oder aus einem verfehlten Korpsgeist heraus unter den Teppich gekehrt worden sein sollte, ginge es um ein tiefergreifendes Problem der inneren Behördenkultur.

Demokratische Verantwortlichkeit – politisch

Strukturelle Defizite lassen sich aber nur in einem demokratischen Verantwortungszusammenhang abbauen. Dies setzt wiederum demokratischen Einfluss auch auf die (unvermeidbar fehleranfällige) Aufgabenerfüllung voraus. Notwendig ist daher zum einen, dass die Leiterinnen und Leiter der Staatsanwaltschaften bei den Land- und Oberlandesgerichten allen Beamtinnen und Beamten sowohl abstrakt-generell als auch notfalls fallbezogen fachliche Weisungen erteilen können. Zum anderen muss ein Relais zur demokratisch verantwortlichen Regierung hergestellt werden, was ein Weisungsrecht der Ressortministerin bzw. des Ressortministers voraussetzt, die bzw. der dadurch für die Zustände, Strukturen und Fehlentscheidungen innerhalb der Strafverfolgungsbehörden politisch Verantwortung übernehmen kann und ggf. muss. Die §§ 146, 147 GVG sind insoweit weiterhin notwendig und sachgerecht. 

Der wohlfeile und populäre Ruf nach politischer Unabhängigkeit reduziert etwaige Fehler pauschal zu Einzelfall-Problemen individuellen Versagens einzelner Beamtinnen und Beamten, die sich gegebenenfalls disziplinarrechtlich erledigen lassen, soweit die Schwelle zu einem Dienstvergehen überschritten ist. Dies ignoriert sowohl die staatliche Strukturverantwortung für eine rechtsstaatlich einwandfreie und diskriminierungsfreie Strafverfolgung als auch den Auftrag institutioneller Strafrechtspflege, die gesellschaftliche Konflikte im Allgemeininteresse bewältigen muss. Neutrale, unvoreingenommene und vertrauenswürdige Institutionen der Strafverfolgung sind ohne demokratische Verantwortlichkeit nicht zu haben.


One Comment

  1. Bernhard Marquardt Thu 13 Aug 2020 at 16:44 - Reply

    „Auch im europäischen Vergleich hinkt das Amtsrecht der Staatsanwälte in Deutschland hinterher. In Frankreich und in der Schweiz wird die Strafverfolgung maßgeblich von unabhängigen Untersuchungsrichtern gestaltet. In Portugal und Italien sind die Staatsanwälte noch unabhängiger als bei uns die Richter.“
    (Aus dem „Dresdner Plädoyer für eine unabhängige Staatsanwaltschaft“ 2003)
    Ein geradezu leuchtendes Negativ-Beispiel für eine politisch geleitete Staatsanwaltschaft bietet der Fall Gustl Mollath. Der politisch motivierte Unwille, selbst gravierenden Offizialdelikten nachzugehen, aufzuklären und ggf. zur Anklage zu bringen, mag folgender, verjährter Fall belegen: Gesetzliche Krankenkassen haben Ende der neunziger Jahre ohne Rechtsgrundlage für damals nicht in deren Leistungskatalog verzeichnete Akupunkturleistungen in der Größenordnung von ca. 900 Mio. DM bezahlt. Gemeinhin handelte es sich um die Veruntreuung von Mitgliedsbeiträgen. Auf eine diesbezügliche Strafanzeige reagierte die zuständige Staatsanwaltschaft Berlin-Moabit ….. richtig, überhaupt nicht. Auf Nachfragen des damit befassten Rechtsanwalts bekam er von der zuständigen Staatsanwältin die Auskunft, sie fände Akupunktur eigentlich ganz sinnvoll. Leider ist der darob zu Recht erboste RA im weiteren kurzfristig erkrankt und verstorben.

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