Neutralitätspflichten von Behörden im Wahlkampf
Laut Jan Böhmermann in der Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom 24. September 2021 sollen einige Ministerien im Vorfeld der Bundestagswahl Wählerinnen und Wähler mit zielgruppenspezifisch zugeschnittenen Botschaften auf Facebook angesprochen haben. Ein solches Microtargeting wäre als Einsatz amtlicher Ressourcen für den Wahlkampf zu qualifizieren. Die betroffenen Ministerien hätten sich also als Teil des Wahlkampfteams ihres/r jeweiligen, zugleich im politischen Bereich verorteten Behördenleiters/in geriert. Das wäre ein eklatanter Verfassungsverstoß.
Dabei soll das von SPD-Politiker Hubertus Heil geführte Bundesarbeitsministerium Werbung gezielt an Nutzerinnen und Nutzer mit einem potentiellen Interesse an der SPD adressiert haben, während das von einer Politikerin der Grünen geleitete Klimaministerium in Rheinland-Pfalz Anzeigen für Menschen mit einem Interesse an den Grünen als Zielgruppe geschaltet haben soll.
Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für Wahlwerbung durch Amtsträger
Staatliche Akteure sind auch bei einem schlicht-hoheitlichen, also nicht rechtsförmigen Verhalten nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz sowie nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden. Amtsträger müssen bei ihren Äußerungen zu jeder Zeit das Recht der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG beachten, gleichberechtigt an der politischen Willensbildung teilnehmen zu können. In Zeiten des Wahlkampfs wird dieses Recht durch die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit der Wahl in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verstärkt (siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags zu politischen Äußerungen von Hoheitsträgern).
Die chancengleiche Beteiligung an der politischen Willensbildung des Volkes erfordert, dass die Staatsorgane im Wettbewerb der Parteien Neutralität wahren – vor allem während des Wahlkampfs. Eine staatliche Einwirkung auf den Wahlkampf zu Gunsten oder zu Lasten einer politischen Partei widerspricht den Grundsätzen der Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Darauf hat auch das Bundesverfassungsgericht wiederholt hingewiesen.
Das Bundesverfassungsgericht zu parteibezogenen Äußerungen von Amtsträgern
In den letzten Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zur politischen Äußerungsbefugnis von Verfassungsorganen und deren Mitgliedern Stellung genommen und dabei ausgelotet, unter welchen Umständen Neutralitätsverstöße vorliegen. Dabei ging es allerdings stets um offene Stellungnahmen in Bezug auf bestimmte politische Parteien, nicht um das durch einen Algorithmus gesteuerte Ausspielen selektiver Botschaften über Facebook in Gestalt von Microtargeting, das für die Adressaten ungleich schwieriger als Wahlbeeinflussung zu erkennen ist. Allerdings liefert die vorliegende Rechtsprechung auch für die Beurteilung solcher Fälle Anhaltspunkte.
In einem Urteil vom 10. Juni 2014 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Bundespräsident kraft seines Amtes die Aufgabe habe, Staat und Volk nach außen und innen zu repräsentieren sowie die Einheit des Staates zu verkörpern. Damals hatte Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Auftritt vor Schülern eines Berufsschulzentrums in Berlin im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 die Mitglieder, Aktivisten und Unterstützer der NPD als „Spinner“ bezeichnet. Das BVerfG überprüfte diese Äußerungen auf die Vereinbarkeit mit der Repräsentations- und Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten und „ob er mit ihnen unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und damit willkürlich Partei ergriffen hat“.
Dieser Bezug auf die Integrationsfunktion des höchsten Amtsträgers der Bundesrepublik und auf das Willkürverbot lässt sich zu dem verfassungsrechtlichen Gebot weiter verdichten, dass amtliche Äußerungen, welche die Adressaten zu einem bestimmten Denken oder Verhalten motivieren sollen, mit offenem Visier erfolgen müssen und nicht manipulativ sein dürfen; sie müssen als zielgerichtetes Handeln des betreffenden Amtsträgers erkennbar sein. Schon daran fehlt es beim Einsatz von Microtargeting.
In einem Urteil vom 16. Dezember 2014 hat das Bundesverfassungsgericht die Begleitumstände und die Infrastruktur, in die politische Äußerungen von Amtsträgern eingebettet sind, näher in den Blick genommen. Die Entscheidung betraf eine von der seinerzeitigen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig im Vorfeld der Landtagswahl in Thüringen 2014 in einem Zeitungsinterview gemachte Aussage, wonach sie im Thüringer Wahlkampf mithelfen werde, alles dafür zu tun, dass die NPD nicht in den Landtag kommt. Das Gericht vertrat die Ansicht, dass für Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung wegen ihrer Doppelfunktion als Politiker und Minister mit administrativem Unterbau gerade in Wahlkampfzeiten strengere Maßstäbe gelten müssten als für Äußerungen des Bundespräsidenten.
Die Mitglieder der Bundesregierung, die mit den politischen Parteien in direktem Wettbewerb um die Gewinnung politischen Einflusses stünden und Mittel zur Verfügung hätten, die es ermöglichten, durch ausgreifende Informationspolitik auf die Meinungs- und Willensbildung des Volkes einzuwirken, hätten bei der Wahrnehmung ihrer amtlichen Funktionen die Pflicht zur strikten Neutralität. Das Neutralitätsgebot gelte, soweit sich ein Mitglied der Bundesregierung unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität seines Amtes oder der damit verbundenen Ressourcen äußere. So ein Beispiel liegt vor, wenn ministerielle Werbetexte über den offiziellen Account auf die Facebook-Konten von durch Algorithmus ausgewählten Nutzern ausgespielt werden.
Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb findet nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur statt, wenn der Inhaber eines Regierungsamtes Möglichkeiten nutzt, die ihm auf Grund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen, während sie politischen Mitbewerbern verschlossen sind. Dies sei insbesondere gegeben, wenn die Äußerung unter Rückgriff auf die dem Regierungsmitglied zur Verfügung stehenden Ressourcen erfolgt oder eine erkennbare Bezugnahme auf das Regierungsamt aufweist und so mit einer aus der Autorität des Amtes fließenden besonderen Gewichtung versehen wird.
Insofern dürfen für politische Aktivitäten (und insbesondere für die Unterstützung oder Bekämpfung einer politischen Partei) keine sachlichen oder finanziellen Mittel eingesetzt werden, die dem ministeriellen Bereich zugeordnet sind. Dazu zählt auch der Einsatz von Personal der IT-Abteilung des Ministeriums oder von Software, die für die Erfüllung des behördlichen Auftrags angeschafft wurde.
Ein verfassungsrechtlicher Maßstab für die Beurteilung von Microtargeting durch Behörden im Wahlkampf
Inhaber eines Regierungsamts im Bund oder in einem Land dürfen im Wahlkampf nicht zu Gunsten oder zu Lasten einer bestimmten politischen Partei auf amtliche Ressourcen zurückgreifen. Die monokratisch organisierten Behörden, denen sie vorstehen, müssen aus dem Wahlkampf herausgehalten werden. Dabei müssen sich die Behörden nicht nur neutral verhalten. Vielmehr unterliegen sie dem Gebot äußerster Zurückhaltung in politischen Angelegenheiten, je näher der Wahltermin rückt. Ministerien dürfen also in den Monaten vor einer Wahl keine schriftlichen oder elektronischen Nachrichten versenden, die sich als positive oder negative Wahlwerbung in Bezug auf eine bestimmte Partei interpretieren lassen. Sie dürfen erst recht entsprechende Botschaften nicht über Microtargeting an für die Werbeinhalte nach den Berechnungen eines Algorithmus besonders empfängliche Personen ausspielen, weil dann die amtliche Wahlbeeinflussung für die Betreffenden nicht einmal als solche erkennbar und damit korrekt einordbar ist. Staatliche Manipulation gehört nicht zum zulässigen Handlungsinstrumentarium eines grundrechtlich gebundenen Rechtsstaats.
1. Wo ist der rechtliche Unterschied, ob eine Beeinflussung erkennbar ist oder nicht? Sie ist in beiden Fällen schlicht verfassungswidrig. Ob sie erkennbar ist oder nicht, ist irrelevant.
2. Die Sonderrechtsprechung zum Bundespräsidenten zu verallgemeinern, ist sportlich. Das BVerfG hat stets den Ausnahmecharakter betont.
3. Ob vor Wahlen für Äußerungen ein strengerer Maßstab gilt, hat das BVerfG(im Gegensatz zu mehreren LVerfG) bisher ausdrücklich offen gelassen.
4. Richtig bleibt das Ergebnis: „ Staatliche Manipulation gehört nicht zum zulässigen Handlungsinstrumentarium eines grundrechtlich gebundenen Rechtsstaats.“ (egal ob offenkundig oder verdeckt…)
Ich habe den Beitrag im ZDF Magazin Royale auch gesehen. Microtargeting gibt es nicht umsonst. Es stellt sich damit der Verdacht der Untreue zu Lasten des Ministerium. Denn ist ein Microtargeting (zu Gunsten der Partei des verantwortlichen Ministers) verfassungswidrig, dann ist die Bezahlung von Geldern des Steuerzahlers für ein solches Microtargeting Untreue.