19 November 2010

Zu viel Geschichten, zu wenig Geschichtsschreibung

Wie kann es sein, dass einer Haus und Hof und sein gesamtes Hab und Gut verkaufen, verschenken oder vererben kann? An einen Wildfremden womöglich? Und was wird aus der Familie? Aus Frau, Söhnen, Töchtern, anderen Verwandten? Darf der das? Nur, weil der das so will? Das soll Recht sein?

Sich mit Rechtsgeschichte zu befassen heißt, im scheinbar Selbstverständlichen das Unwahrscheinliche, das Enorme zu erkennen. Das, was heute Recht ist, ist es meist irgendwann erst geworden. Wie hat sich das zugetragen, und warum? Welche historische Situation hat die Ausdifferenzierung eines bestimmten Rechts erzwungen oder, je nachdem, behindert? Rechtsgeschichte ist eine juristische Disziplin, keine historische – sie stellt solche Fragen im Interesse, das Recht in seiner Tiefenschärfe zu erkennen.

Setzkastenmethode

Wer Uwe Wesels monumentale Geschichte des Rechts in Europa liest, dem wird es an Fragen dieser Art jedenfalls nicht mangeln. Wesel erzählt die europäische Rechtsgeschichte entlang der überkommenen Epocheneinteilung – Griechen, Römer, Früh- und Hochmittelalter, Frühe Neuzeit etc. – und stellt nach einem knappen allgemein-historischen Abriss der jeweiligen Epoche dar, was in den jeweiligen Rechtsgebieten und in den jeweiligen Regionen und Ländern für Recht gegolten hat. Das erinnert ein wenig an einen Setzkasten: Aus Epochen, Rechtsgebieten und Ländern ensteht eine dreidimensionale Matrix, die Wesel Kästchen für Kästchen getreulich mit Fakten auffüllt.

Das funktioniert unterschiedlich gut: In den Anfangskapiteln gelingt es Wesel teilweise sehr geschickt, im Geflimmer der Einzelheiten die großen Züge hervortreten zu lassen – beispielsweise bei der Frage, was der Übergang von der Stammesgesellschaft zur staatlichen Herrschaft für die Ausbildung des Strafrechts bedeutet hat. Je mehr sich aber sein Stoff territorial und juristisch ausdifferenziert, desto mehr stößt seine säuberliche Setzkastenmethode an Grenzen: Auf den Absatz zum Handelsrecht in Ungarn im 19. Jahrhundert hätte man getrost verzichten können, wenn man dafür über England zur gleichen Zeit der industriellen Revolution etwas mehr erfährt als bloß die Namen der Gesetze, mit denen die GmbH und die Aktiengesellschaft erfunden wurden.

Zugang zum Recht

Wesel ist ein Autor, dessen Bekanntheit und Popularität weit über das sonst für Juraprofessoren erreichbare Maß hinausreicht. Seinen Ruhm verdankt er nur teilweise der Wissenschaft. Er schreibt seit 30 Jahren Bücher, die sich bewusst und gezielt an ein Publikum von Nichtjuristen, von „Laien“ richten. Dahinter steckt ein aufklärerisches Programm: Wesel, der Parade-Achtundsechziger unter den Rechtsgelehrten, will dem „kleinen Mann“ Zugang zu seinem Recht verschaffen und ihm die Scheu vor den Spezialisten, Insidern und Ordinarien nehmen, die ihr Herrschaftswissen mit pompösem Sprachnebel verteidigen.

Dem dient sein charakteristischer Sprachstil, der inzwischen fast zu seinem Markenzeichen geworden ist: betont einfache Syntax, kokette Wortwahl, keine Scheu vor unvollständigen Sätzen – Wesel tut alles, um sich vom akademischen Weihrauchfaßgeschwinge vieler seiner Kollegen abzugrenzen, im Dienste der Zugänglichkeit des Rechts.

Maniriertes Faux-Naïf

Auch in seinem jüngsten Buch ist sich Wesel stilistisch treu geblieben. Das verraten schon die ersten beiden Sätze: „Soll man wieder anfangen mit den alten Griechen? Ja, und zwar mit Homer.“

Doch von einem aufklärerischen Programm dahinter ist nicht viel erkennbar. Das manirierte Faux-Naïf erscheint vor allem als Pose. Anstatt stringent und präzise die Ergebnisse seines Forschens und Nachdenkens zu entwickeln, schnoddert Wesel dem Leser nicht selten etwas vor.

Irritierend wirkt dabei besonders Wesels Angewohnheit, den Text mit missbilligenden Einstreuungen wie „Ja nun also“ oder „Nun ja“ zu würzen, wenn es etwa um kontroverse Geschichtsdeutungen geht, die er nicht teilt, oder um historische rechtliche Zustände, die für Wesels Geschmack das nötige Maß an sozialer Gerechtigkeit vermissen lassen – so als gebe es unter vernünftigen Menschen dazu nicht mehr zu sagen. Gelegentlich überschreitet Wesel auch entschlossen die Grenze zur Albernheit, etwa wenn er das Fehlen von Menschenrechten im französischen Verfassungsrecht von 1875 mit den Worten quittiert: „Nous avons. Vous avez. Wo’s er nu? Nu’s er weg. So blieb es bis 1940.“

Die gekünstelte Anspruchslosigkeit beschränkt sich keineswegs immer nur auf den Stil: So erfährt man bei Wesel beispielsweise, dass in Österreich 1869 die Verfassungsbeschwerde erfunden worden ist. Warum gerade in Österreich, dem Land, das obendrein 1920 als erstes in Europa die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle eingeführt hat? Was hat der Donaumonarchie bzw. –republik zu dieser doch einigermaßen bemerkenswerten Pionierrolle in Europa verholfen? Bei Wesel liest man dazu lediglich dies: „Man fasst sich an den Kopf. Der erste Gerichtshof Europas für Verfassungsbeschwerden. In Österreich. Unter Kaiser Franz Josef.“ Man fasst sich an den Kopf, in der Tat.

Recht und Religion

Wesels Gegenstand ist das Recht in Europa. Dessen „europäischer Eigenart“ will er auf die Spur kommen, was sein jetziges Werk von seinem Vorgänger, einer 2001 erschienenen universellen Geschichte des Rechts, unterscheidet. Was er damit meint, bleibt lange vage und wird erst im Schlusskapitel präzisiert: Die Unterscheidung zwischen Recht und Religion ist es, so Wesel, die das europäische Recht gegenüber den Rechtskulturen Indiens, Chinas und der arabischen Welt kennzeichnet.

Erst diese Unterscheidung, die sich schon im antiken Griechenland findet, machte das Nebeneinander von ius und fas, irdischem und göttlichem Recht, Kirchengesetz und profanem Fürsten- und Gewohnheitsrecht möglich und damit die permanente Auseinandersetzung und Wechselwirkung beider Sphären, die der europäischen Rechtsgeschichte ihre Dynamik verlieh und der wir fast alle modernen Institution in Staat und Recht verdanken – vom Strafprozess bis zum Verwaltungsstaat.

Oder die individuelle Verfügung über das Eigentum, um darauf zurückzukommen: Dass sich diese Erfindung der Römer in Zentraleuropa gegen die Ansprüche der Verwandtschaft durchsetzen konnte, hatte mit der Kirche zu tun, die an frommen Schenkungen interessiert war und ihre Gerichtsbarkeit auf das Erbrecht ausdehnte, um dem Testament zur Anerkennung zu verhelfen.

Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Religion als Programm, um daran die Geschichte des Rechts in Europa entlangzuerzählen – was hätte das für ein Buch werden können, von einem Autor mit Wesels Wissensfülle und Breite des Horizonts zumal. Die Setzkastenmethode passt indessen dazu schlecht. Man erfährt von allem Möglichen zu viel und von der „europäischen Eigenart“ des Rechts zu wenig. Das Buch ist übervoll mit Geschichte, aber es fehlt an Geschichtsschreibung. Das ist jammerschade.

Fluchtpunkt Emmely

Am Ende des Buches gewinnt Wesel seinem selbst gewählten Thema noch eine erstaunliche Volte ab: Die Trennung von Recht und Religion nämlich, so schreibt er in seiner unseligen Neigung zu abgedroschenen Redensartlichkeiten, bringe allerhand „Risiken und Nebenwirkungen“ mit sich. „Man denke nur an die Umweltprobleme und die Finanzkrise 2008.“ Sie fördere Rechtsstaat und Rationalität, verdränge aber die Gerechtigkeit aus dem Recht und in den Sozialstaat.

Und um dies illustrieren, schließt das Buch nach mehr als 700 Seiten mit einem aktuellen Fall, den man aus der Zeitung kennt – dem Fall Emmely. Die ostdeutsche Kassiererin, der gekündigt worden war, weil sie angeblich zwei Getränke-Bons unterschlagen hatte. Der Fall, so Wesel offenbare, dass es im Arbeitsrecht an Gerechtigkeit fehle und sich dies gerade ändere, oder wie Wesel es formuliert: „The times, they are a changin’, sang Bob Dylan.“

So kommt die besagte Kassiererin zu guter Letzt zu der Ehre, zum Fluchtpunkt von drei Jahrtausenden europäischer Rechtsgeschichte zu werden.

Ja nun also.

Die Rezension ist in der aktuellen Ausgabe der ZEIT erschienen.

Uwe Wesel: Geschichte des Rechts in Europa – von den alten Griechen bis zum Vertrag von Lissabon. C.H. Beck 2010

Wie kann es sein, dass einer Haus und Hof und sein gesamtes Hab und Gut verkaufen, verschenken oder vererben kann? An einen Wildfremden womöglich? Und was wird aus der Familie? Aus Frau, Söhnen, Töchtern, anderen Verwandten? Darf der das? Nur, weil der das so will? Das soll Recht sein?

Sich mit Rechtsgeschichte zu befassen heißt, im scheinbar Selbstverständlichen das Unwahrscheinliche, das Enorme zu erkennen. Das, was heute Recht ist, ist es meist irgendwann erst geworden. Wie hat sich das zugetragen, und warum? Welche historische Situation hat die Ausdifferenzierung eines bestimmten Rechts erzwungen oder, je nachdem, behindert? Rechtsgeschichte ist eine juristische Disziplin, keine historische – sie stellt solche Fragen im Interesse, das Recht in seiner Tiefenschärfe zu erkennen.

Setzkastenmethode

Wer Uwe Wesels monumentale Geschichte des Rechts in Europa liest, dem wird es an Fragen dieser Art jedenfalls nicht mangeln. Wesel erzählt die europäische Rechtsgeschichte entlang der überkommenen Epocheneinteilung – Griechen, Römer, Früh- und Hochmittelalter, Frühe Neuzeit etc. – und stellt nach einem knappen allgemein-historischen Abriss der jeweiligen Epoche dar, was in den jeweiligen Rechtsgebieten und in den jeweiligen Regionen und Ländern für Recht gegolten hat. Das erinnert ein wenig an einen Setzkasten: Aus Epochen, Rechtsgebieten und Ländern ensteht eine dreidimensionale Matrix, die Wesel Kästchen für Kästchen getreulich mit Fakten auffüllt.

Das funktioniert unterschiedlich gut: In den Anfangskapiteln gelingt es Wesel teilweise sehr geschickt, im Geflimmer der Einzelheiten die großen Züge hervortreten zu lassen – beispielsweise bei der Frage, was der Übergang von der Stammesgesellschaft zur staatlichen Herrschaft für die Ausbildung des Strafrechts bedeutet hat. Je mehr sich aber sein Stoff territorial und juristisch ausdifferenziert, desto mehr stößt seine säuberliche Setzkastenmethode an Grenzen: Auf den Absatz zum Handelsrecht in Ungarn im 19. Jahrhundert hätte man getrost verzichten können, wenn man dafür über England zur gleichen Zeit der industriellen Revolution etwas mehr erfährt als bloß die Namen der Gesetze, mit denen die GmbH und die Aktiengesellschaft erfunden wurden.

Zugang zum Recht

Wesel ist ein Autor, dessen Bekanntheit und Popularität weit über das sonst für Juraprofessoren erreichbare Maß hinausreicht. Seinen Ruhm verdankt er nur teilweise der Wissenschaft. Er schreibt seit 30 Jahren Bücher, die sich bewusst und gezielt an ein Publikum von Nichtjuristen, von „Laien“ richten. Dahinter steckt ein aufklärerisches Programm: Wesel, der Parade-Achtundsechziger unter den Rechtsgelehrten, will dem „kleinen Mann“ Zugang zu seinem Recht verschaffen und ihm die Scheu vor den Spezialisten, Insidern und Ordinarien nehmen, die ihr Herrschaftswissen mit pompösem Sprachnebel verteidigen.

Dem dient sein charakteristischer Sprachstil, der inzwischen fast zu seinem Markenzeichen geworden ist: betont einfache Syntax, kokette Wortwahl, keine Scheu vor unvollständigen Sätzen – Wesel tut alles, um sich vom akademischen Weihrauchfaßgeschwinge vieler seiner Kollegen abzugrenzen, im Dienste der Zugänglichkeit des Rechts.

Maniriertes Faux-Naïf

Auch in seinem jüngsten Buch ist sich Wesel stilistisch treu geblieben. Das verraten schon die ersten beiden Sätze: „Soll man wieder anfangen mit den alten Griechen? Ja, und zwar mit Homer.“

Doch von einem aufklärerischen Programm dahinter ist nicht viel erkennbar. Das manirierte Faux-Naïf erscheint vor allem als Pose. Anstatt stringent und präzise die Ergebnisse seines Forschens und Nachdenkens zu entwickeln, schnoddert Wesel dem Leser nicht selten etwas vor.

Irritierend wirkt dabei besonders Wesels Angewohnheit, den Text mit missbilligenden Einstreuungen wie „Ja nun also“ oder „Nun ja“ zu würzen, wenn es etwa um kontroverse Geschichtsdeutungen geht, die er nicht teilt, oder um historische rechtliche Zustände, die für Wesels Geschmack das nötige Maß an sozialer Gerechtigkeit vermissen lassen – so als gebe es unter vernünftigen Menschen dazu nicht mehr zu sagen. Gelegentlich überschreitet Wesel auch entschlossen die Grenze zur Albernheit, etwa wenn er das Fehlen von Menschenrechten im französischen Verfassungsrecht von 1875 mit den Worten quittiert: „Nous avons. Vous avez. Wo’s er nu? Nu’s er weg. So blieb es bis 1940.“

Die gekünstelte Anspruchslosigkeit beschränkt sich keineswegs immer nur auf den Stil: So erfährt man bei Wesel beispielsweise, dass in Österreich 1869 die Verfassungsbeschwerde erfunden worden ist. Warum gerade in Österreich, dem Land, das obendrein 1920 als erstes in Europa die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle eingeführt hat? Was hat der Donaumonarchie bzw. –republik zu dieser doch einigermaßen bemerkenswerten Pionierrolle in Europa verholfen? Bei Wesel liest man dazu lediglich dies: „Man fasst sich an den Kopf. Der erste Gerichtshof Europas für Verfassungsbeschwerden. In Österreich. Unter Kaiser Franz Josef.“ Man fasst sich an den Kopf, in der Tat.

Recht und Religion

Wesels Gegenstand ist das Recht in Europa. Dessen „europäischer Eigenart“ will er auf die Spur kommen, was sein jetziges Werk von seinem Vorgänger, einer 2001 erschienenen universellen Geschichte des Rechts, unterscheidet. Was er damit meint, bleibt lange vage und wird erst im Schlusskapitel präzisiert: Die Unterscheidung zwischen Recht und Religion ist es, so Wesel, die das europäische Recht gegenüber den Rechtskulturen Indiens, Chinas und der arabischen Welt kennzeichnet.

Erst diese Unterscheidung, die sich schon im antiken Griechenland findet, machte das Nebeneinander von ius und fas, irdischem und göttlichem Recht, Kirchengesetz und profanem Fürsten- und Gewohnheitsrecht möglich und damit die permanente Auseinandersetzung und Wechselwirkung beider Sphären, die der europäischen Rechtsgeschichte ihre Dynamik verlieh und der wir fast alle modernen Institution in Staat und Recht verdanken – vom Strafprozess bis zum Verwaltungsstaat.

Oder die individuelle Verfügung über das Eigentum, um darauf zurückzukommen: Dass sich diese Erfindung der Römer in Zentraleuropa gegen die Ansprüche der Verwandtschaft durchsetzen konnte, hatte mit der Kirche zu tun, die an frommen Schenkungen interessiert war und ihre Gerichtsbarkeit auf das Erbrecht ausdehnte, um dem Testament zur Anerkennung zu verhelfen.

Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Religion als Programm, um daran die Geschichte des Rechts in Europa entlangzuerzählen – was hätte das für ein Buch werden können, von einem Autor mit Wesels Wissensfülle und Breite des Horizonts zumal. Die Setzkastenmethode passt indessen dazu schlecht. Man erfährt von allem Möglichen zu viel und von der „europäischen Eigenart“ des Rechts zu wenig. Das Buch ist übervoll mit Geschichte, aber es fehlt an Geschichtsschreibung. Das ist jammerschade.

Fluchtpunkt Emmely

Am Ende des Buches gewinnt Wesel seinem selbst gewählten Thema noch eine erstaunliche Volte ab: Die Trennung von Recht und Religion nämlich, so schreibt er in seiner unseligen Neigung zu abgedroschenen Redensartlichkeiten, bringe allerhand „Risiken und Nebenwirkungen“ mit sich. „Man denke nur an die Umweltprobleme und die Finanzkrise 2008.“ Sie fördere Rechtsstaat und Rationalität, verdränge aber die Gerechtigkeit aus dem Recht und in den Sozialstaat.

Und um dies illustrieren, schließt das Buch nach mehr als 700 Seiten mit einem aktuellen Fall, den man aus der Zeitung kennt – dem Fall Emmely. Die ostdeutsche Kassiererin, der gekündigt worden war, weil sie angeblich zwei Getränke-Bons unterschlagen hatte. Der Fall, so Wesel offenbare, dass es im Arbeitsrecht an Gerechtigkeit fehle und sich dies gerade ändere, oder wie Wesel es formuliert: „The times, they are a changin’, sang Bob Dylan.“

So kommt die besagte Kassiererin zu guter Letzt zu der Ehre, zum Fluchtpunkt von drei Jahrtausenden europäischer Rechtsgeschichte zu werden.

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