Nostalgische Justizstaatsskepsis
Jonathan Sumption ist einer der schillerndsten Intellektuellen des Vereinigten Königreichs. Publizistisch war er vor allem als Mediävist in Erscheinung getreten. Neben frühen kleineren Studien hat er zwischen 1990 und 2015 eine inzwischen auf vier Bände angeschwollene, vielfach gelobte und erfrischend detailbesessene Geschichte des Hundertjährigen Krieges vorgelegt. Er war viele Jahre als höchst erfolgreicher Barrister tätig. Von 2012 bis zu einem Ruhestand 2018 war er Richter am Supreme Court of the United Kingdom. In einem farbenfrohen Portrait seiner Karriere nannte ihn The Guardian einmal „the brain of Britain“.
Nunmehr ist – zählt man eine politische Polemik gegen Equality aus dem Jahr 1979 nicht hierzu – sein erstes originär juristisches Buch erschienen: „Trials of the State: Law and the Decline of Politics“ (Profile Books, London, 2019). Das Buch beruht auf einer Radio-Vortragsreihe der BBC („The Reith Lectures“), die in fünf Folgen auf Radio 4 ausgestrahlt wurde. Man könnte den zugrunde liegenden Vortrag auch im MP3-Format herunterladen und anhören. Die Schrift ist daher auch keine wissenschaftliche Abhandlung mit Fußnotenapparat, sondern ein populäres Format, dessen zupackende Sprache juristischen Leserinnen und Lesern bisweilen Stolpersteine in den Weg legt, etwa wenn der EuGH semantisch zum „European Court“ oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausnahmslos zu „the Strasbourg court“ (mit kleinem c) deklassiert wird.
Zu viel Recht, zu wenig Vertrauen in Alltagsvernunft
Mit einem Bauchgefühl des Unbehagens beobachtet der Verfasser, wie das „Imperium des Rechts“ immer größere Landgewinne verzeichnet und in immer mehr Bereiche des täglichen Lebens vordringt. Gesetzgebung nehme überhand, die Zahl der Rechtsberater explodiere. An die Stelle eines liberalen Vertrauens in die Alltagsvernunft der Menschen sei eine unübersichtliche Normenflut getreten. Ständig würden neue Straftatbestände geschaffen. Das Verwaltungsrecht wachse und werde immer komplizierter, was immer mehr spezialisierte Tribunale als Streitschlichtungsinstanz habe entstehen lassen. Die tiefere Bedeutung der rule of law werde verkannt, wenn man sie materialisiere und mit der Erwartung verbinde, alle Konflikte anhand rechtlicher Maßstäbe entscheiden zu können. Eine Quelle des gefühlten Niedergangs hat Sumption schnell ausgemacht: Die fortschreitende Demokratisierung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe zu Partizipation der Massen am öffentlichen Leben und damit zu beständig wachsenden Forderungen an den Staat geführt (S. 6 f.).
Der Ruf nach kollektiver Normierung habe den Respekt vor individuellen Lebensentscheidungen erodiert. Das mag bisweilen so sein, übergeht aber, dass ein Großteil moderner Gesetzgebung genau dazu dient, individuelle Lebensentscheidungen unter den Realbedingungen einer Massengesellschaft mit ihren vielfachen Freiheitsgefährdungen auch denjenigen praktisch zu ermöglichen, die in einer schwachen Machtposition sind. Die wenigen Beispiele, mit denen Sumption seine These zu untermauern versucht, stehen auf schwankendem Boden. Sind etwa tierethisch begründete Verbote wirklich Ausdruck illiberaler Regelungswut (S. 12 f.) oder nicht vielleicht einfach Produkt eines moralischen Selbstverständnisses, das durch Politik formalisiert und in allgemeinverbindliche Gesetzgebung übersetzt wurde? Im Fall des mutmaßlich unheilbar kranken Charlie Gard wurde aufgrund einer – inhaltlich möglicherweise angreifbaren – familiengerichtlichen Entscheidung die lebenserhaltende Behandlung eingestellt und den Eltern zudem verweigert, das Kind zwecks alternativer Therapieversuche ins Ausland zu verbringen. Dass hier die behandelnden Ärzte letztlich Verantwortung auf die Gerichte abgewälzt haben (S. 16), ist wohl richtig. Die Justizialisierungsthese stützt dies aber kaum, denn auch der Gesetzgeber bürdet der Justiz häufig Entscheidungen auf, indem er ethisch besonders heikle Konflikte bewusst ungeregelt lässt, damit aber keineswegs praktischen Entscheidungsbedarf reduziert. Dass die richterliche Intervention in einem Fall, in dem es um Leben und Tod des Kindes ging, ein Beispiel dafür sein soll, Privatautonomie in ureigensten Angelegenheiten einzuschränken („human choices even in cases where they do no harm to others”, S. 12), verwundert. Leben, Tod und Leiden eines Kindes als rein private Verfügungsmasse der Erziehungsberechtigten?
Organische Rechtskultur versus Regelungstechnokratie?
Sumption vertraut historisch erfahrungsgesättigt auf die Politik als Modus, streitige Fragen des Miteinanders sachgerecht zu entscheiden. Vieles davon ist gut begründet, ein engagiertes Plädoyer gegen eine Abkapselung des Rechts von seinen gesellschaftlichen Bezugssystemen und namentlich von der Politik. Und hier beginnen seine Sorgen: Eine in Jahrhunderten gewachsene Kultur politischer Verständigung werde von einer technokratischen Rechtsstaatsgläubigkeit über den Haufen geworfen. Man darf nicht vergessen, es geht um ein Land, welches das Recht rückblickend als einen sehr langen gesellschaftlichen Evolutionsprozess wahrnehmen kann, dem filigrane, kulturell integrierende Traditionslinien eingeschrieben sind. Technokratisch programmierte Gesetzgebung zur EU-Richtlinienumsetzung und pflichtschuldige Rechtsanpassung an Entscheidungen des EGMR, dessen Methodik sich Sumption doch eher klischeebeladen annähert (S. 56 f.), wirken dann wie Fremdkörper. Aus dem Blickwinkel deutscher Verfassungskultur, deren Kernidentität auf radikaler Diskontinuität gründet, deren Verfassungswertesemantik selbst der politische Prozess verinnerlicht hat und die imperative Setzung als selbstverständlichen Modus legalistischer Fortschrittskatalyse nimmt, ist dieses Unbehagen nicht leicht nachzufühlen. Erst nehmen sollte man es gleichwohl.
Justizskepsis
Manches Lamento folgt reichlich ausgetretenen Pfaden. So verfällt Sumption in die vertraute Justizstaatsschelte. Bezugnahmen auf the rule of law dienten der Rechtsprechung als Einfallstor für immer größere Richtermacht (S. 34 ff.). Richter hätten zwar schon immer Recht gestaltet, in den letzten drei Dekaden hätte aber – so die letztlich nicht tragfähig belegte These – eine aus Ressentiments gegen die Politik gespeiste Bereitschaft der Gerichte zugenommen, immer mehr Sachfragen anhand prätorisch konstruierter rechtlicher Maßstäbe zu beurteilen. Kann das wirklich stimmen, zumal in einer Common Law-Rechtskultur? Hat nicht zumindest teilweise auch der (auch unionsrechtlich katalysierte) Siegeszug der Gesetzgebung gewachsene Traditionen originär richterlicher Rechtserzeugung zurückgedrängt und Machtzentren hin zu zentralen Organen der Rechtsetzung verschoben? Das Verhältnis des Parlamentsgesetzes zum evolutiven Recht aus Richterhand war zudem schon immer ambivalent. Dass Richterinnen und Richter schließlich nicht notwendig die besseren und jedenfalls schlecht legitimierte Gesetzgeber sind (S. 63 ff.), ist keine wirklich überraschende Einsicht, löst aber die unvermeidbaren Probleme der Funktionsabgrenzung nicht.
Menschenrechtsskepsis
Spitzester Stein des Anstoßes ist für Sumption der Human Rights Act von 1998 (S. 53 ff.) und die damit unvermittelt in das Herz des britischen Rechtssystems eingefallene Macht des EGMR. Dessen Entscheidungen hätten englische Richterinnen und Richter immer wieder verschreckt, ihnen aber auch eine mächtige Waffe an die Hand gegeben, mit Machtinstinkt moralisch missbilligte Politik von Parlament und Regierung auszuhebeln (S. 63). Ständig nerven Menschenrechte. Könnte die gestiegene Interventionsbereitschaft der Gerichte – so es diese wirklich gibt – nicht auch damit zusammenhängen, dass ein angemessener politischer Interessenausgleich in einer heterogeneren sowie konfliktreicheren Gesellschaft häufiger misslingt und ein stimmungsgetriebener Gesetzgeber aktionistisch Gesetze produziert, die reale Schutzbedürfnisse gegen unverhältnismäßige Eingriffe oder Diskriminierung auslösen? Sumption wittert überall nur richterliche Selbstermächtigung. Das verwundert, wenn man beispielsweise sieht, wie (auch von ihm hochgehaltene) jahrhundertealte Selbstverständlichkeiten einer freiheitlichen Rechtsordnung im Rahmen der Post-9/11-Gesetzgebung in Westminster abgeräumt wurden. Gerichte blieben dann oft der Reparaturbetrieb für Politikversagen; nur selten haben sie sich diese Rolle gewünscht.
Immerhin wird konzediert, dass der EGMR in jüngerer Zeit mehr Rücksicht auf politische Entscheidungsfreiräume nehme (S. 67). Die ostentative Ablehnung einer ethisch aufgeladenen Werteorientierung im Recht, deren politische Substanz ernsthaft in die Nähe kommunistischer Diktaturen des Ostblocks gerückt wird (S. 69), erinnert an die Justizstaatskritik der frühen Bundesrepublik, als eine „Tyrannei der Werte“ als Folge einer Materialisierung der Grundrechte seit der Lüth-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Wand gemalt wurde. Auf manche wirkt dieses Szenario der Rechtsstaats-Apokalypse bis heute erotisierend. Hier hätte man vielleicht doch eine etwas weniger holzschnittartige Auseinandersetzung erwartet.
Verfassungsskepsis
Ganz allgemein beäugt Sumption geschriebene und von Gerichten unmittelbar anwendbare Verfassungen mit Argwohn. Dass verfassungsrechtlich verbürgte Rechte einem institutionalisierten Misstrauen in gewählte politische Mehrheiten Rechnung tragen (S. 81), ist offensichtlich. Aber ist dieses notwendig unberechtigt? Dass eine Juridifizierung der Politik mit dem Machttransfer auf Gerichte auch Repräsentationsprobleme aufwirft (S. 83 f.), ist ebenfalls keine wirklich neue Einsicht. Literatur zum counter-majoritarian dilemma füllt Bibliotheken und fällt heute meist deutlich differenzierter aus. Die schwer vorhersehbare und dysfunktional politisierte Verfassungsinterpretation durch den U. S. Supreme Court dient Sumption als abschreckendes Beispiel, wobei er sich auf eine Handvoll allgemeinbekannter Entscheidungen aus über zwei Jahrhunderten als Referenz bezieht, die ihm offenbar ausreichen, ein ganzes Verfassungsverständnis als most unBritish zu verwerfen. Wären die USA mit ihren Defekten im politischen System (S. 109) – ungeachtet gravierender institutioneller Differenzen – derzeit nicht eher ein Beispiel dafür, wie schnell Rationalitätserwartungen an repräsentativ-demokratische Verfahren enttäuscht werden können und warum gerade deshalb als Gegengewicht effektiver Schutz von Rechten durch unabhängige Gerichte ggf. auch gegen demokratische Mehrheiten notwendig ist?
Rebellion der Tradition gegen die Zumutungen des Wandels?
Die Rechtsidee der sovereignty of parliament gerät in einer zunehmend verflochtenen Rechtsordnung, die auf Komplexität mit institutioneller Ausdifferenzierung reagiert und dabei unvermeidbar schon aufgrund des Koordinationsbedarfs verschiedener Rechtsschichten, den parlamentarische Gesetzgebung nur begrenzt abbauen kann, auch Macht auf die Gerichte verlagern muss, zwangsläufig immer mehr unter Druck. Sumption misstraut diesen Entwicklungen zutiefst, bleibt aber Alternativangebote schuldig, demokratischen Voluntarismus mit rechtsstaatlichen Sicherungsbedürfnissen zu versöhnen. Das Buch ist letztlich die lautstarke Rebellion eines public intellectual gegen die Technisierung des Rechts zu einem ubiquitären Steuerungsinstrument.
Die Widersprüche im Buch sind hierbei greifbar. Einerseits verweist Sumption immer wieder auf die Fähigkeit der Politik, Konflikte kompromisshaft im repräsentativen Verfahren zu lösen. Wenn die Politik dies dann aber tut und durch Gesetzgebung tätig wird, beklagt er illiberale Regelungswut. Die politische Konfliktlösungsfähigkeit der Repräsentationsorgane in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft gründet vornehmlich auf der Macht zur verbindlichen Regelsetzung durch Gesetzgebung. Einerseits eine Expansion von law’s empire zu beklagen, andererseits die Leistungen des politischen Betriebs zu loben, ist insoweit unredlich. So beschleicht mich der Eindruck, dass hinter der scheinbaren Kritik der institutionellen Machtverschiebung vor allem eine bisweilen selbstmitleidige Unzufriedenheit mit der Geschwindigkeit und Richtung gesellschaftlichen Wandels steckt, der sich in der Rechtsanwendung abbildet. Ein verklärender Blick zurück in die Nebel vergangener Zeiten muss dann, in die Zukunft gewendet, zwangsläufig in pessimistischer Prophetie (S. 111 f.) enden.
Apolitisches Politikverständnis
Der Verfasser beklagt, dass nach rechtlichen Normen auch dort entschieden werde, wo kein gesellschaftlicher Konsens über die moralische Bewertung einer Streitfrage bestehe. Gewählte Repräsentationsorgane wie auch angerufene Gerichte müssen freilich streitige Fragen gerade dort entscheiden, wo sie mangels Konsenses zum virulenten Streitfall geworden sind. Sumptions Pamphlet richtet sich daher letztlich im Kern gegen die Herausforderungen einer pluralistischen Ordnung und ihren Streitbeilegungs- sowie Normierungsbedarf. Hier wird kräftig unter der Komplexität und Uneindeutigkeit moderner Gesellschaften gelitten, die das demokratische Recht gerade deshalb brauchen, weil Gemeinsames jenseits der für alle verbindlichen Rechtsregeln immer weniger verlässlich verfügbar ist. Was als Vertrauen in die Alltagsvernunft der Menschen verpackt wird, verbirgt unter der urliberalen John Stuart Mill-Schale rückwärtsgewandte Homogenitätserwartungen.
Politik ist bei Sumption eine elitäre Veranstaltung, die vor allem dazu dient, professionelle Entscheidungen zu ermöglichen, die ein vom Wahlvolk emanzipiertes Gemeinwohl im Blick haben (S. 27 f.). Und die verklärten Institutionen sowie Evolutionsmechaniken des Common Law waren stets fest in der Hand einer kleinen (und teuren) Juristenkaste. Es nimmt nicht wunder, dass originär demokratietheoretische Erwägungen, die über eine – gerade nicht genuin demokratische – Idealisierung des rationalen Diskurses hinausgehen, kaum eine Rolle spielen. Das vollmundige Credo praise of politics gründet auf dem apolitischen Politikverständnis eines Funktionsaristokraten.
Take back control
Man mag einzelne Kritikpunkte teilen oder auch nicht. Gewiss darf man die Bedeutung der Institutionen des Rechts, deren Symbolik und die Vermittlungsleistungen einer evolutiv gewachsenen Rechtskultur für die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft nicht unterschätzen. „Nations are prisoners of their past“ (S. 100). Ethos und Traditionen einer evolutiv gewachsenen Rechtsordnung sind unverzichtbar für die soziale Akzeptanz und Verständlichkeit von Recht. Respekt vor den Eigentümlichkeiten der sehr unterschiedlichen Rechtskulturen und -praktiken, die immer auch Speicher historischer Erfahrungen und sozialer Erfahrbarkeit sind, gehörte bislang jedoch nicht zu den ausgeprägten Stärken des funktionalen europäischen Integrationsprozesses, schon gar nicht zu denen der Judikatur des EuGH. Als Warnung, die Leistungsfähigkeit des Rechts im Allgemeinen sowie gerichtlicher Verfahren im Besonderen nicht zu überschätzen, bleiben die Kernaussagen des Buches gleichermaßen richtig wie letztlich trivial.
Die meisten Monita, die Sumption vorzubringen hat, wirken altbacken. Larmoyante Abgesänge auf die Alltagsvernunft und ein Leiden am Normenstaat füllen auch hierzulande die Feuilletons. „Trials of the State“ ist wie ein Volkshochschulkurs im Granteln über den Traditionsverfall im Recht einer modernen Gesellschaft mit ihrem inhärenten Drang zur Verrechtlichung. Dass sich Sumptions Leitmotive einer heilen Welt politischer Florettgefechte, regulativer Enthaltsamkeit und rechtlich unbeschränkter Souveränität des Parlaments im gegenwärtigen institutionellen Setting einer inter- wie supranational verflochtenen Rechtsordnung nicht verwirklichen lassen, ist offensichtlich. Die nostalgische Trotzhaltung verdeutlicht daher vor allem, auf welchem Nährboden take back control gediehen ist. Als elitäre Mentalitätskartografie des Brexit-Landes sollte man die Streitschrift gelesen haben.
Stephen Sedley, a former Lord Justice of Appeal, reviews it in the London Review of Books: see ‘A Boundary Where There Is None’ – https://www.lrb.co.uk/v41/n17/stephen-sedley/a-boundary-where-there-is-none. He’s equally unimpressed.