28 May 2020

Notebooks für Alle

Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag und das Recht auf Bildung in Zeiten von Corona

Im Zentrum der Diskussionen um die von der Politik getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus steht die Wirtschaft. Im Vergleich dazu laufen die Auswirkungen der Schulschließungen auf Kinder und Jugendliche bislang weitgehend unter dem politischen und medialen Aufmerksamkeitsradar. Dabei korrespondiert mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag auch die Pflicht des Staates sicherzustellen, dass alle Kinder und Jugendlichen in gleicher Weise am Schulunterricht teilnehmen können und nicht aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden. In letzter Konsequenz müssen Staat oder Schulträger deshalb auch die Kosten für die notwendigen Lernmittel tragen.

Staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag

Unter Normalbedingungen wacht die Bildungsverwaltung sekundiert durch die verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung mit guten (und einigen weniger guten) Gründen über die strikte Durchsetzung der Schulpflicht, die der Erfüllung des in Art. 7 Abs. 1 GG normierten staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages dient. Der Staat beansprucht für sich nicht nur, das Schulwesen zu planen und zu organisieren sowie selbst Schulen zu errichten. Unabhängig und notfalls auch gegen den Willen der Eltern will er auch Unterrichts- und Erziehungsziele festlegen, Ausbildungsgänge ausgestalten und über die inhaltliche Gestaltung des Unterrichtsstoffes bestimmen. Sind Eltern bzw. Erziehungsberechtigte damit nicht einverstanden und wollen sie ihr Kind aus religiösen, pädagogischen oder sonstigen Gründen dem Schulwesen vollständig (Homeschooling) oder jedenfalls im Hinblick auf bestimmte Schulfächer (z.B. Sportunterricht) oder Unterrichtsinhalte (Mandalas zeichnen, Harry Potter lesen oder Filme wie „Krabat“ schauen), entziehen, wird dem elterlichen Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und/oder der Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unter Verweis auf Art. 7 Abs. 1 GG nicht nur kollidierendes Verfassungsrecht entgegengehalten. Letztendlich, so die grundsätzlich zutreffende Argumentation, erfordere das individuelle Selbstentfaltungsrecht jedes einzelnen Kindes und die nicht zufällig in der jüngeren Rechtsprechung immer wieder hervorgehobene Integrationsfunktion der Schule gerade in hochgradig pluralistischen Gesellschaften die Inklusion aller Kinder in das staatlich verantwortete Schulwesen.

Mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag verbunden sind indes nicht nur Befugnisse des Staates, in die Rechte der Schüler*innen und ihrer Eltern einzugreifen. Bereits unter normalen Bedingungen treffen den Staat, da die Schüler*innen „von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit“ (BVerfGE 93, 1 [18]) zur Anwesenheit in der Schule verpflichtet sind, in besonderer Weise Schutz- und Fürsorgepflichten gegenüber den Schüler*innen, z.B. was den Schutz ihrer Gesundheit angeht. Findet unter Bedingungen einer Pandemie, wenn auch nur auf einzelne Tage begrenzt und aufgeteilt in zahlenmäßig begrenzte Lerngruppen, Präsenzunterricht weiterhin statt, sind diese Pflichten mit Rücksicht auf die Gefährdungslage zu konkretisieren. Schulen müssen gegebenenfalls vom zuständigen Gesundheitsamt abzunehmende Hygienekonzepte entwickeln, in denen neben den allgemein geltenden Regelungen schulbezogen beispielsweise die Zuordnung von Tischen zu einzelnen Schüler*innen, das Betreten und Verlassen des Schulgebäudes, das Verhalten in den Pausen oder die Nutzung der gemeinsamen Sanitärbereiche bzw. der Fachräume geregelt werden müssen (aktuell hierzu: VG Leipzig, Beschluss vom 15.5.2020, Az.: 3 L 245/20, juris). Wesentlich interessanter, bislang jedoch deutlich weniger diskutiert sind hingegen die Pflichten des Staates, wenn er seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht mehr im Schulgebäude erfüllt, sondern die Schüler*innen gewissermaßen ins Homeoffice schickt, indem der Unterricht in die Wohnungen der Schüler*innen verlagert wird.

Gleiches Recht auf Bildung

Findet der Unterricht in der Schule statt, steht außer Frage, dass das in zahlreichen Landesverfassungen (z.B. Art. 11 Abs. 1 bwVerf; Art. 128 Abs. 1 bayVerf; Art. 27 Abs. 1 bremVerf; Art. 20 Satz 1 thürVerf) und in den Schulgesetzen der Länder garantierte Recht auf Bildung jedenfalls in Verbindung mit dem Gleichheitssatz verlangt, dass nicht einzelne Gruppen von Schüler*innen in einer Klasse mit besseren und andere Schüler*innen mit schlechteren oder gar keinen Lehrmitteln ausgestattet werden. Nutzen die Schüler*innen im Mathematikunterricht im Eigentum des Schulträgers befindliche Computer, muss die Verteilung selbstverständlich so stattfinden, dass alle Schüler*innen die gleichen Möglichkeiten haben, ihr Leistungsvermögen zu verwirklichen. Keinesfalls dürfte die Mathematiklehrerin Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch schwächeren Familien die leistungsschwächeren und für den Unterricht nur bedingt geeigneten Rechner der Schule zuordnen, während die Schüler*innen aus höheren Sozialschichten die leistungsstärkeren Computer erhalten. Handelt es sich hingegen um für den Unterricht notwendige Hilfsmittel, die nicht die Schule zur Verfügung stellt, sondern die von den Erziehungsberechtigten zu beschaffen sind (sog. Lernmittel), verfügen Letztere aber nicht über die erforderlichen finanziellen Ressourcen, um diese Mittel zu erwerben, muss der Staat dafür Sorge tragen, dass auch diese Kinder und Jugendlichen in gleicher Weise am Schulunterricht teilnehmen können und nicht aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden.

Das kommt auch in den schulgesetzlichen Bestimmungen zum Ausdruck, die eine Befreiung von der Schulbesuchspflicht (nicht von der Schulpflicht wohlgemerkt) ermöglichen. Ausdrücklich wird dort mit der Entscheidung über eine Befreiung z.B. aufgrund einer Erkrankung die Forderung verbunden, dass in diesen Fällen die gleichwertige Erfüllung des Bildungsanspruchs gesichert ist (z.B. § 36 IV 1 BbgSchulG; § 39 II 1 HmbSG; § 48 II SchulG M-V). In der Entscheidung zum menschenwürdigen Existenzminimum hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass die notwendigen Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten zum existenziellen Bedarf schulpflichtiger Kinder gehören, der von der Menschenwürdegarantie in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip garantiert ist. Ohne Deckung dieser Kosten, so das Gericht, drohe hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen: Ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien können sie die Schule nicht erfolgreich besuchen, was in der Folge ihre Möglichkeiten einschränkt, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können (BVerfGE 125, 175 [246]). Unter normalen Bedingungen der Beschulung mag es bei der Erfüllung des daraufhin vom Gesetzgeber in sozialgesetzlichen Vorschriften konkretisierten Bildungs- und Teilhabepaktes (§ 19 Abs. 2 Satz 1 i.V.m § 28 SGB II; § 34 SGB XII; § 3 AsylbLG i.V.m. §§ 34 ff. SGB XII; § 6b BKGG) um die Erstattung der Kosten für das Mittagessen, Schulausflüge, Klassenfahrten, Schulhefte, Mäppchen, Stifte oder auch Taschenrechner gehen. Verlagert der Staat jedoch seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag, dem er sich ohne Grundgesetzänderung gar nicht entziehen kann, in die Elternhäuser, fordert dieser Auftrag und das auf Seiten der Kinder und Jugendlichen damit korrespondierende Recht auf Bildung ganz andere Hilfestellungen. Neben pädagogisch-didaktischer Unterstützung und einer Flexibilisierung der Lerninhalte mit Rücksicht auf die konkreten Lebenslagen der Schüler*innen geht es vor allem darum, dass alle Schüler*innen Zugang zu der für den Heimunterricht notwendigen digitalen Infrastruktur in Gestalt von Internetzugang, Hardware und den für den staatlichen Schulunterricht verwendeten Programmen haben. Anderenfalls werden nicht nur subjektive Rechte verletzt, sondern die strukturelle Benachteiligung im deutschen Bildungssystem mit unabsehbaren individuellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen weiter vertieft.

Kostentragung

Nicht einfach zu beantworten ist schließlich die Frage, wer für die Kosten für den Erwerb beispielsweise der Hard- und Software für bedürftige Schüler*innen aufkommt. Denn während die Länder für die sogenannten inneren Schulangelegenheiten verantwortlich sind, d.h. für all jene Bereiche, die sich auf die inhaltliche und methodische Gestaltung des schulischen Unterrichts einschließlich der Anstellung des pädagogischen Personals beziehen, tragen die meist kommunalen Schulträger die Lasten der so genannten äußeren Schulangelegenheiten, welche beispielsweise die Errichtung, Ausstattung und Unterhaltung der Schulen, das nicht lehrende Personal sowie die Beschaffung der Lehr- und Lernmittel umfassen. Dementsprechend obliegt die Finanzierung der durch die Bereitstellung von Lernmitteln anfallenden Kosten in den Bundesländern entweder dem Staat (so z.B. Hessen, Niedersachsen, Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen) oder den Schulträgern (z.B. Baden-Württemberg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Schleswig-Holstein).

Komplette Lernmittelfreiheit im Sinne kostenfreier Zurverfügungstellung von Lernmaterialien, die für den Unterricht notwendig sind, besteht freilich nur noch in wenigen Bundesländern, weshalb die Erziehungsberechtigten immer häufiger zumindest einen Eigenanteil aufwenden müssen. Davon befreit sind allerdings durchweg Erziehungsberechtigte, die Sozialleistungen beziehen oder deren Einkommen unter einer bestimmten Höchstgrenze liegt. Der Bund, der die Verantwortung dafür trägt, dass das gesamte menschenwürdigen Existenzminiums sichergestellt ist, dürfte (abseits des Ausbaus der Netzwerkkapazitäten) demgegenüber nur subsidiär als Kostenpflichtiger in Betracht kommen. Er kann sich aber jedenfalls nicht durch einen abstrakten Verweis auf Landeskompetenzen dieser Verantwortung entziehen „und mit dieser Begründung von der Berücksichtigung solcher Ausgaben absehen, die nach seinen eigenen normativen Wertungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendig sind“ (BVerfGE 125, 175 [241).

Erfolgreiches Lernen

Was vollständige oder partielle Schulschließungen und in die Elternhäuser verlagerter Heimunterricht für Schüler*innen bedeuten kann, interessiert maximal die zu Hauslehrer*innen umfunktionierten Eltern sowie einige wenige Expert*innen. Sowohl in individueller als auch gesellschaftlicher Hinsicht kann sich das nicht nur kurzfristig als verheerend erweisen. Dabei sind alle wesentlichen Funktionen von Schule betroffen. Allen voran ihre Eigenschaft als „Zuteilungsapparatur von Lebens-Chancen“ (Helmut Schelsky), weil die gegenwärtigen Bedingungen des schulischen Lernens im deutschen Bildungssystem strukturell ohnehin schon vorhandene Benachteiligungen bestimmter Gruppen von Schüler*innen weiter verschärfen wird. Die soziale Herkunft und ein Migrationshintergrund bestimmten schon vor dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie wie in kaum einem anderen OECD-Mitgliedsstaat über die Teilhabe an bestimmten Bildungsangeboten, den Kompetenzerwerb oder die schulischen Abschlussqualifikationen.

Schule ist aber auch ein sozialer Raum, in dem Kinder und Jugendliche sich nicht nur kognitiv entwickeln und gefördert werden. In ihr machen Kinder und Jugendliche sozio-emotionale Erfahrungen, die für individuelle Entwicklungsprozesse von kaum zu überschätzender Bedeutung sind, allein aufgrund der Zeit, die sie in der Schule verbringen. Viel stärker noch als Erwachsene sind Kinder auf sozialen Austausch angewiesen. Freund*innen können sie derzeit aber nicht oder nur noch sehr eingeschränkt treffen. Sport, Bewegung und spielerische Aktivitäten, die für manche Kinder vor Corona zumindest in der Schule stattgefunden haben, reduzieren sich. Ein strukturierter Tagesablauf, den der von der Schulpflicht geprägte Alltag zuvor hatte, fällt weg.

Gerade Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozio-familiären Lagen leiden unter der Art und Weise, wie derzeit unter den Bedingungen der Bekämpfung einer Pandemie Schule gehalten wird. Das gilt sowohl für den Wegfall des Präsenzunterrichts in der Schule wie auch für den Heimunterricht. Der schulische Unterricht ermöglicht ihnen im besten Fall den Aufbau stabiler und vertrauensvoller Beziehungen zu Lehrer*innen bzw. sozialpädagogischem Schulpersonal. Sie können extern motiviert werden und finden sich in vorgegebenen Arbeitsstrukturen und vorhersehbaren Abläufen wieder. Regeln, Rituale und Wertschätzung können erfahren, Differenzen zum Elternhaus registriert, destruktives Verhalten professionell bearbeitet oder psychische Problemlagen begleitet werden.

All das sind nicht nur wichtige Bedingungen für die persönliche Entwicklung, sondern ebenso für ein erfolgreiches Lernen, die in den familiären Beziehungen der Kinder und Jugendlichen nicht immer gegeben sind. Heimunterricht wiederum ist in mehrfacher Hinsicht anspruchsvoll. Er setzt räumliche Kapazitäten in den familiären Haushalten voraus, ist abhängig vom kulturellen Kapital des Elternhauses, einer lernförderlichen Atmosphäre, zeitlichen Ressourcen und nicht zuletzt technischen Voraussetzungen.

„Notebooks für alle“

Viele dieser Voraussetzungen, wie die räumlichen Gegebenheiten in den Elternhäusern der Schüler*innen, sind zweifellos wichtig für ein erfolgreiches Lernen. Sie sind aber nicht unabdingbar für die Teilnahme am Unterricht und betreffen gleichsam nur die Modalitäten des Lernenkönnens. Andere, wie eine lernförderliche Atmosphäre in den Familien oder das den Eltern zur Verfügung stehende Zeitbudget, sind vom Staat schon aus grundrechtlichen Gründen nicht oder jedenfalls nur schwach beinflussbar. Die technischen Voraussetzungen sind im Falle des Heimunterrichts hingegen zwingend erforderlich, um überhaupt am schulischen Unterricht teilnehmen zu können. Insofern nimmt der Staat den ihm obliegenden Bildungs- und Erziehungsauftrag nur dann grundrechtskonform und diskriminierungsfrei wahr, wenn er dafür sorgt, dass alle schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen am Unterricht teilnehmen können.


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