Gesundheitlicher gleich wahlrechtlicher Notstand?
Thüringer Neuwahlen in Corona-Zeiten
2021 ist Superwahljahr. Dazu zählt auch eine Wahl, die eigentlich gar nicht anstünde: die Wahl zum Thüringer Landtag. Regulärer Wahltermin wäre hier erst 2024, doch hatten sich nach den Ereignissen um die Ministerpräsidentenwahl im Februar/März 2020 die Fraktionen von CDU, Linke, SPD und Grünen darauf verständigt, durch Selbstauflösung des Landtags eine Neuwahl im Jahr 2021 herbeizuführen. Vorletzte Woche wurde der geplante Wahltermin vom 25. April auf den 26. September, den Tag der Bundestagswahl, verlegt. Auch dann noch wird die Corona-Pandemie ihren Schatten auf die Wahl werfen. Vor diesem Hintergrund fand am vergangenen Dienstag, den 19. Januar im Innen- und Kommunalausschuss des Thüringer Landtags eine Expertenanhörung zu einem Gesetzentwurf statt, der eine pandemiegerechte Durchführung der Wahl sicherstellen soll (die Stellungnahmen sind hier zum Teil veröffentlicht).
Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sieht zum einen ein Sondergesetz vor, das ausschließlich für die vorzeitige Neuwahl gelten soll. Das zugrundeliegende Anliegen, die besonderen pandemiebedingten Regelungen in Gesetzesform und damit in parlamentarischer Verantwortung zu treffen, ist zu begrüßen. Zum anderen soll im Wahlgesetz eine Vorschrift aufgenommen werden, welche die letztes Jahr in § 52 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes eingeführte Verordnungsermächtigung kopiert. Zu Letzterer sei auf die von anderen Autoren auf dem Verfassungsblog geäußerte Kritik (hier und hier) verwiesen. Abgesehen von den konkreten Problemen der Verordnungsermächtigung, bleiben zwei übergeordnete Fragen unbeantwortet: Warum soll eine Vorschrift, die der Bundesgesetzgeber auf das Jahr 2021 befristet hat, ins Landeswahlgesetz auch für die Zeit darüber hinaus aufgenommen werden? Und vor allem: Warum bedarf es überhaupt einer Verordnungsermächtigung, wenn das Sondergesetz für die vorgezogene Neuwahl doch gerade zeigt, dass auch eine parlamentarische Reaktion auf Notlagen möglich ist? Doch auch der Inhalt des Sondergesetzes selbst ist problembehaftet. Zwei Aspekte stechen besonders hervor: die Möglichkeit einer Zwangsbriefwahl und die Kandidatenaufstellung mit Abstand.
Zwangsbriefwahl im wahlrechtlichen Gesundheitsnotstand
Kernstück des geplanten Sondergesetzes ist § 5. Danach kann der Landeswahlausschuss im Falle der „Feststellung eines wahlrechtlichen Gesundheitsnotstands […] im gesamten Wahlgebiet, in einem Wahlkreis oder in einem Teil eines Wahlkreises“ anordnen, dass die Wahl in dem betreffenden Gebiet ausschließlich als Briefwahl stattfindet. Die Feststellung soll, wenn das gesamte Wahlgebiet betroffen ist, der Landtag, andernfalls die Landesregierung im Einvernehmen mit dem für das Gesundheitswesen zuständigen Landtagsausschuss treffen. In der Sache soll ein wahlrechtlicher Gesundheitsnotstand dann vorliegen, wenn „eine übertragbare Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes in der Bevölkerung so zahlreich oder in so schwerer Ausprägung auftritt oder aufzutreten droht, dass dadurch Gesundheit und Leben einer Vielzahl von Menschen […] ernsthaft gefährdet erscheint und es für die Wahlberechtigten unzumutbar ist, zum Zwecke der Stimmabgabe einen Wahlraum aufzusuchen.“
Kumulative Voraussetzungen sind also eine Gesundheitsgefährdung und die Unzumutbarkeit der Wahl im Wahllokal. Woraus sollte sich aber diese Unzumutbarkeit für Wahlberechtigte ergeben? Schließlich steht es schon jetzt jedem Wähler frei, seine Stimme per Briefwahl abzugeben. Wer nicht ins Wahllokal gehen will, der muss es auch nicht. Die Allgemeinheit der Wahl – dass jeder wählen kann – ist auch in der Pandemie sichergestellt. Deshalb dürfte der eigentliche Sinn der Vorschrift eher auf das Pandemiegeschehen insgesamt gerichtet sein. Es gilt zu verhindern, dass es durch die Anwesenheit von Personen im Wahllokal (Wähler, Wahlhelfer, Beobachter) zu Infektionen kommt. Aus diesem Blickwinkel wäre eine Zwangsbriefwahl erforderlich, wenn ein hinreichender Infektionsschutz durch Hygiene- und Schutzkonzepte für die Wahllokale nicht sichergestellt werden kann. Daran sollten folglich die Voraussetzungen des wahlrechtlichen Gesundheitsnotstands anknüpfen.
Die Zwangsbriefwahl rückt den Wahlvorgang maximal weit vom verfassungsrechtlichen „Leitbild der Urnenwahl“ (BVerfGE 134, 25/32) ab. Die demokratische Wahl besteht nicht nur in der Aggregation der individuellen Entscheidungen der Wähler. Sie ist vielmehr ein kollektiver und öffentlicher Vorgang, der „die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar macht“ (ebd.). Durch die Briefwahl wird der Wahlvorgang von der öffentlichen Angelegenheit aller – einer res publica im doppelten Sinne des Wortes – zur privaten Sache des Einzelnen. Hinzukommt, dass bei der Briefwahl weniger Schutz vor Beeinflussungen und Manipulationen besteht (vgl. bereits BVerfGE 21, 200/205 ff.). Die Grundsätze der Öffentlichkeit, Freiheit und Geheimheit der Wahl streiten deshalb dafür, dass eine Zwangsbriefwahl nur dann zulässig ist, wenn eine besonders große, nicht anders abwendbare Gefahr für den Infektionsschutz besteht. Näher zu bestimmen, wann diese Schwelle überschritten ist, ist freilich nicht ganz leicht.
In Anbetracht dieser Probleme – dass der Gesetzentwurf die Zwangsbriefwahl aus einem ungeeigneten Blickwinkel angeht, die Gefahrenschwelle im Tatbestand höher anzusetzen ist und die Zwangsbriefwahl den Charakter der demokratischen Wahl in prinzipieller Weise tangiert – besteht großer Verbesserungsbedarf. Daneben stellen sich auch Fragen eher praktischer Natur: Bis zu welchem Zeitpunkt kann die Zwangsbriefwahl angeordnet werden? Die Briefwahlunterlagen müssen ja noch gedruckt, verteilt, ausgefüllt und eingereicht werden. Und was ist mit Personen, die zum Zeitpunkt der Anordnung bereits Briefwahlunterlagen ausgefüllt haben? Sollen diese erneut wählen müssen, auf die Gefahr hin, dass sie dessen überdrüssig sind und deshalb ihr Stimmrecht nicht mehr ausüben? Bei diesen Punkten dürfte noch einiges zu präzisieren sein.
Kandidatenaufstellung mit Abstand
Die andere bedeutende Vorschrift des Entwurfs ist § 2 Abs. 2 und 3, der den Prozess der innerparteilichen Kandidatenaufstellung betrifft. Diese erfolgt normalerweise – so sieht es das Wahlrecht vor – in einer Mitglieder- oder Vertreterversammlung und damit in physischer Präsenz (vgl. § 23 ThürLWG). Dass eine solche Veranstaltungsform in der gegenwärtigen Pandemie wenig ratsam erscheint, liegt auf der Hand. Ebenso offenkundig wahr ist aber, dass die Anforderungen an die innerparteiliche Demokratie (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG) dadurch nicht aufgehoben werden. Der Wahlrechtsgesetzgeber muss hier einen Ausgleich finden. Es gibt gute Gründe zu bezweifeln, dass dieser Ausgleich im Thüringer Gesetzentwurf geglückt ist.
Nach § 2 Abs. 2 des Entwurfs sollen Parteien ihre Bewerberwahlen gemäß § 5 Abs. 2 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (GesRuaCOVBekG) durchführen können. § 5 Abs. 2 Nr. 1 GesRuaCOVBekG ermöglicht es Mitgliedern, an der Mitgliederversammlung ohne Anwesenheit am Versammlungsort teilzunehmen und Mitgliederrechte im Wege der elektronischen Kommunikation auszuüben. Die Vorschrift gilt an sich für Vereine und nach Absatz 4 auch für Parteien, nicht jedoch für Kandidatenaufstellungen. Für Letztere erscheint die Regelung auch wenig geeignet, ermöglicht sie doch eine Teilnahme mittels jeglicher elektronischen Kommunikation – also auch per Telefon oder Chat –, während es doch ohne Weiteres möglich wäre, mittels einer Bild- und Tonübertragung ein höheres Maß an Partizipation sicherzustellen. Hinzukommt, dass es der derzeitige technische Stand wohl nicht erlaubt, eine elektronische Wahl durchzuführen, die sowohl geheim als auch im Nachhinein nachvollziehbar und damit hinreichend transparent abläuft. Freilich ist zurecht darauf hingewiesen worden, dass die demokratische Einbuße, wenn staatliche Wahlen wegen Unmöglichkeit der Kandidatenaufstellung verschoben werden müssten, noch größer sein könnte.
Nicht minder problematisch ist der Verweis auf § 5 Abs. 2 Nr. 2 GesRuaCOVBekG, der vorsieht, dass Mitglieder ihre Stimmen vor der Durchführung der Mitgliederversammlung schriftlich abgeben können. Denn die physische Wahlversammlung dient indes nicht nur der Stimmabgabe, sondern auch der Vorstellung der Kandidaten und ist damit auch Teil der Entscheidungsgrundlage für die Stimmabgabe. Um die individuelle Briefwahl mit der Chancengleichheit der Bewerber zu vereinbaren, muss deshalb zumindest verlangt werden, dass die parteiinterne Bewerbungsphase vorab auf adäquate Weise durchgeführt und vollständig abgeschlossen wird.
Sogar gänzlich ohne physische Mitgliederversammlung soll die Kandidatenaufstellung nach § 2 Abs. 3 des Thüringer Entwurfs auskommen. Die Wahl soll entweder ausschließlich als Briefwahl oder im Wege elektronischer Kommunikation erfolgen, wobei im letzteren Fall „die Schlussabstimmung“ per Briefwahl durchzuführen ist. Auch diese Regelung weist Verbesserungsbedarf auf. Zum einen sollte vorgegeben werden, dass in diesen Fällen vor dem Wahlvorgang zumindest eine virtuelle Versammlung abzuhalten ist, damit auf diese Weise zumindest die Vorstellung der Kandidaten erfolgen kann. Zum anderen stellt sich in der zweiten Variante erneut das Problem der elektronischen Abstimmung. Ob hier „die Schlussabstimmung“ per Brief helfen kann, um die nötige Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Abstimmung zu gewährleisten, ist fraglich. Denn eine solche ist bisher weder parteien- noch wahlrechtlich vorgesehen, geschweige denn vorgeschrieben. Bei der Aufstellung einer Liste ist es möglich, über jeden Listenplatz nacheinander abzustimmen und danach keine Abstimmung mehr über die Liste als Ganze durchzuführen. Eine Schlussabstimmung, die per Briefwahl – und damit hinreichend transparent und nachvollziehbar – erfolgen könnte, gibt es dann schlichtweg nicht. Auch dieses Problem ignoriert der Entwurf bisher.
Fazit
Für das weitere Gesetzgebungsverfahren steht aufgrund der Verschiebung des Wahltermins nun ein größerer Zeitraum zur Verfügung. Diese Zeit sollte genutzt werden, denn der Gesetzentwurf betrifft mit seinen beiden Hauptpunkten der Zwangsbriefwahl und der Kandidatenaufstellung zentrale Aspekte der Landtagswahl. So sehr das Grundanliegen, die Wahl pandemiegerecht auszugestalten, berechtigt ist, so sehr besteht noch Verbesserungs- und Präzisierungsbedarf. Es würde deshalb überraschen, wenn der Entwurf am Ende ohne bedeutende Veränderungen verabschiedet würde.