This article belongs to the debate » Esra, zehn Jahre später
28 July 2017

Nur wer Fiktion Fiktion sein lässt, kann Tatsachen Tatsachen sein lassen

Als Buchverleger habe ich die gerichtlichen Auseinandersetzungen in den verschiedenen Instanzen um den Verbotsantrag gegen Maxim Billers Roman „Esra“ vor allen Dingen deshalb in so unangenehmer Erinnerung, weil die Anwälte der Kläger von der ersten Sekunde an auf oft unerträgliche Weise den Kunstcharakter des Romans leugneten und dem Autor (und dem Verlag) unterstellten, mit dem Buch einen kaum verdeckten Anschlag auf die Würde realer Personen begangen zu haben.

Die Debatte mit den mal mehr oder weniger, aber stets ignoranten Richtern der Landes- und Oberlandesgerichte drehte sich in immer demselben Kreis: der Autor, der Verlag und der Anwalt erläuterten umfänglich am Romantext, aber auch anhand vieler historischer Beispiele, dass es sich bei einem Roman wie „Esra“ um Literatur handelt, deren Qualität bzw. Wahrheit sich nicht aus der Übereinstimmung einzelner Elemente des Romans mit der Wirklichkeit ergeben. Das Bedauerliche ist, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil im Kern diesen Unterstellungen Recht gegeben hat, indem es in seinem Mehrheitsvotum letztlich noch weiter als im „Mephisto“-Fall Tür und Tor für die Einschränkung der Kunstfreiheit geöffnet hat.

Gerichtsurteile, auch Urteile von Bundesverfassungsgerichten, sind immer gesellschaftspolitische Entscheidungen, in denen sich die Macht-, das heißt auch Definitionsmacht-Verhältnisse einer Gesellschaft spiegeln und diese andernteils selbst beeinflussen. Bei allen juristischen Feinargumentationen über „je-desto-Formeln“, „kunstgerechter Prüfung“ etc. bedeutet das Urteil doch im Kern, dass außerkünstlerische Gesichtspunkte je nach Stärke, medialer Unterstützung, Zeitgeist, oder der jeweiligen Definition von persönlicher Gekränktheit in der Lage sind, autonome Kunstwerke zu schädigen oder zu eliminieren.

Dabei würde auch bei erneuter Lektüre jedem gutwilligen Leser des Romans vom ersten Satz an schon intuitiv deutlich, dass das Erkenntnisinteresse des Autors (und hier auch des Erzählers) nicht auf Kränkung realer Figuren zielt, sondern auf die Entfaltung eines komplexen literarischen Textgeflechtes. Ich rede hier noch gar nicht von kunstspezifischen Analysen, die das Bundesverfassungsgericht ja sogar einfordert, letztlich selbst aber nicht stringent durchgeführt hat. Der unvoreingenommene Leser liest eine tragische Liebesgeschichte, die im Kern danach fragt, wie Fremdheit und Ausgrenzung zu Fremdheit in Liebesbeziehungen führt und wie verzweifelt Menschen Auswege aus einer solchen tragischen Situation suchen. Literatur geht es auch hier um die Erfassung und Vermessung der universellen Conditio humana, sie besitzt hierin ihre Würde und ihre einzigartige humane Kraft.

Die schlichte Tatsache ist, dass die Mehrheit der Richter vor dieser Wahrheit kapituliert hat.

Natürlich hatte und hat dieses Urteil erhebliche negative Auswirkungen, von denen jede(r) LektorIn, jede(r) VerlegerIn berichten kann: kostspielige Rechtsanalysen von Romanmanuskripten, juristische oder mit finanziellen Risiken begründete Interventionen gegen Übereinstimmung von Persönlichkeitsmerkmalen zwischen Romanfiguren und realen Personen, vorgelagerte Selbstzensur (sollte ich die Geschichte nicht lieber in Hamburg als in München spielen lassen? – als wäre dies künstlerisch egal. Ist es aber nicht.).

Erschwerend kommt hinzu, dass es in den letzten Jahren bei vielen Autorinnen und Autoren ein gut begründetes Interesse an sogenannter Autofiktion gibt (z.B. Karl Ove Knausgard, Thomas Melle, Joachim Meyerhoff, Natascha Wodin), das so in ganz besonderer Weise bedroht ist. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr nichtliterarische Tatsachenpublikationen, die sich mit dem Gattungsbegriff „Roman“, „Tatsachenroman“, „Dokudrama“ etc. versuchen, sich juristisch zu schützen. In einer solchen Situation aber käme es darauf an, das immer weiter verschwindende Bewusstsein über den spezifischen Vertrag zwischen  Leser und Romanautor aufrechtzuerhalten, d.h. literarische Bildung und kulturelle Sensibilität zu stärken.

Die Fake-News-Debatte und die postmoderne Idee von der Totalfiktionalität aller medialen Aussagen führen aber genau in die entgegengesetzte Richtung.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat auch hier keine hilfreichen Abgrenzungen geschaffen, ganz im Gegenteil: erst wenn klar ist, was Fiktion bedeutet und welchen Wert sie hat, kann auch die politische und juristische Tragweite von Tatsachenaussagen erfasst werden. Jenseits dessen sind alle Katzen grau.


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