Öffentlichkeit hat ein Recht, Gerichtsurteile zu lesen
In dieser Sache bin ich natürlich befangen. Aber der heute veröffentlichte Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Pflicht von Gerichten, ihre Urteile der Presse zur Verfügung zu stellen, verdient auch ohne dies Aufmerksamkeit.
In dem Beschluss ging es um den Fall des ehemaligen thüringischen Innenministers Christian Köckert, der sich 2010 bei einem Windparkentwickler gegen bares Geld als Berater verdingte, während er gleichzeitig als Beigeordneter der Stadt Eisenach Einfluss auf die Ausweisung von Windkraftgebieten besaß – ein Fall von Abgeordnetenbestechung, für den ihn das Landgericht Meiningen zu einer Bewährungsstrafe verurteilte.
Über dieses Strafverfahren gab es natürlich eine rege Presseberichterstattung in Thüringen. Ein Zeitungsverlag beantragte, eine anonymisierte Fassung der Urteilsgründe ausgehändigt zu bekommen – was der Präsident des LG Meiningen indessen ablehnte, und zwar nach Ansicht des OVG Thüringen zu Recht: Die Presse habe nur einen Anspruch auf behördliche Auskunft, aber in welcher Form diese erteilt wird, falle ins Ermessen der jeweiligen Behörde. Dieses Ermessen müsse das Gericht keineswegs so ausüben, dass es der Presse die schriftlichen Urteilsgründe zur Verfügung stellt. Sie seien vielmehr zu absoluter Neutralität verpflichtet, und das könne bedeuten, dass bei nicht rechtskräftigen Urteilen die Herausgabe verweigert werden könne, auf dass nicht nach einer Zurückverweisung oder in parallelen Verfahren Zeugen durch die Presseberichte beeinflusst werden.
Mit dieser Position ist das OVG Thüringen in Karlsruhe komplett durchgefallen. Vor allem in Strafverfahren, wo es um die staatliche Sanktionsgewalt geht, übe die Presse eine Kontrollfunktion aus, die einen umfassenden Informationsanspruch rechtfertige. Es gebe sehr wohl grundsätzlich einen Anspruch der Medienvertreter, Gerichtsurteile in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt zu bekommen, so die 3. Kammer des Ersten Senats. Sie verweist dabei auf den Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren und auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1997, in der das BVerwG der Praxis, die Veröffentlichung den Richtern als “Privatleute” zu überlassen und so Veröffentlichungsmonopole bestimmter Verlage zu fördern, ein Ende bereitet hatte. Die Medien, so die Kammer, hätten bei der Veröffentlichung natürlich bestimmte Sorgfaltspflichten zu beachten, aber das falle in ihre eigene Verantwortung, nicht in die der Gerichte.
Ob es Belange geben kann, die einem solchen Anspruch gegebenenfalls entgegengehalten werden können, ließ die Kammer offen. Die pauschale Sorge, dass irgendwelche Zeugen später mal beeinflusst werden können, zähle jedenfalls nicht dazu, Nach einer sechstägige Hauptverhandlung und einer ausführlichen Pressemitteilung zum Urteil sei nicht ersichtlich, warum ausgerechnet die schriftlichen Urteilsgründe unbedingt geheim bleiben müssten.
Wieso weder der Landgerichtspräsident noch das OVG auf diese Idee nicht selbst gekommen sind, darüber kann ich hier natürlich nur spekulieren. Unterstellt, die Urteilsgründe enthalten nichts, was der Justiz peinlich sein müsste – als halbwegs plausible Erklärung fällt mir nur das generelle Bedürfnis der Justiz ein, die Kontrolle über die Presseberichterstattung nicht aus der Hand zu geben: Schreiberlinge, berichtet gefälligst auf Basis unserer Pressemitteilung, da haben wir euch schon vorformuliert, was wir an dieser Entscheidung berichtenswert finden. Die Urteilsgründe aber überlasst denen, die etwas davon verstehen, nämlich den Juristen.
Ich finde es sehr löblich von den Thüringer Journalistenkollegen, sich nicht mit der Pressemitteilung abspeisen zu lassen und die Urteilsgründe zu verlangen. Ich weiß, dass das viele nicht so machen (Disclaimer: ich berichte immer auf Basis der Urteilsgründe, soweit bereits abgesetzt). Eine vernünftige und selbstbewusste Justiz sollte das eigentlich zu schätzen wissen. Dass es in Thüringen dazu einer Intervention aus Karlsruhe bedurfte – das scheint mir auf jeden Fall etwas zu sein, was der Justiz peinlich sein müsste.
Applaus für Putzke/Zenthöfer (“Der Anspruch auf Übermittlung von Abschriften strafgerichtlicher Entscheidungen”, NJW 2015, S. 1777 ff.) , auf die sich das BVerfG in einem zentralen Puhkt stützt.
Zugriff auf den Aufsatz über die Homepage von Prof. Dr. Holm Putzke: http://holmputzke.de/index.php/veroeffentlichungen
Hallo Herr Putzke, schön, dass Sie auch den Verfassungsblog lesen. Wir stimmen ja sonst nicht immer so überein miteinander…
@ MJS: „Ein Zeitungsverlag beantragte, eine anonymisierte Fassung der Urteilsgründe ausgehändigt zu bekommen – was der Präsident des LG Meiningen indessen ablehnte, und zwar nach Ansicht des VG Meiningen wie des OVG Thüringen zu Recht.“
Laut den Absatz-Nr. 4 und 5 des Beschlusses des BVerfG hat das VG das LG verpflichtet, die schriftlichen Urteilsgründe herauszurücken.
„2. Die Beschwerdeführerin beantragte beim Präsidenten des Landgerichts (im Folgenden: Antragsgegner) die Übersendung einer Kopie des Strafurteils. Der Antragsgegner lehnte dies ab. Durch Beschluss hat das Verwaltungsgericht den Antragsgegner antragsgemäß verpflichtet, der Antragstellerin Auskunft über die schriftlichen Urteilsgründe des ergangenen Urteils durch Übersendung einer anonymisierten Kopie des vollständigen Urteils zu erteilen.
3. Auf die Beschwerde des Beigeladenen änderte das Oberverwaltungsgericht mit angefochtenem Beschluss die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ab und lehnte den Antrag der Beschwerdeführerin auf Auskunftserteilung ab.“
Also stimmten VG und OVG doch nicht überein?!
Sie haben Recht, mein Fehler, vielen Dank für den Hinweis und Entschuldigung an das VG Meiningen. Ist im Text jetzt korrigiert.
Der Kommentator “Kommentator” (meinetwegen Herr Putzke) hat Recht: Der Kammerbeschluss des BVerfG stützt sich zentral auf den NJW-Aufsatz von Putzke/Zenthöfer. Auf sonst nichts. Schon gar nicht, wie für eine stattgebende Kammerentscheidung erforderlich, auf einschlägige Rechtsprechung des BVerfG (die es für die “für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage” [§ 93c I S. 1 BVerfGG] auch gar nicht gibt). Das ist zwar alles andere als atypisch, aber trotzdem schlimm.
Die Überschrift ist ein wenig irreführend: Dass die Öffentlichkeit ein Recht hat, Gerichtsurteile zu lesen, ist weithin unbestritten – und deshalb veröffentlicht die Justiz auch zahllose Entscheidungen, allein in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2015 bis heute bereits 4232 in der kostenlosen Datenbank NRWE.
Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ging es nur – wie aus dem Blogbeitrag ja dann auch deutlich wird – um einen sehr schmalen Ausschnitt: Urteile, die nicht rechtskräftig sind. Und damit auch nicht um ein endgültiges Verweigern, sondern nur um einen zeitlichen Aufschub der Veröffentlichung.
Es erstaunt die Nonchalance, mit der das Bundesverfassungsgericht mögliche Gefahren für die Rechtsfindung übergeht: Dass etwa ein vernommener Zeuge aus den veröffentlichten schriftlichen Urteilsgründen (die ja in aller Regel deutlich ausführlicher sind, als die mündliche Urteilsbegründung) Schlüsse zieht und sein Aussageverhalten bei einer etwaigen zweiten Verhandlung entsprechend anpasst, ist doch alles andere als ein abwegiger Gedanke. Nur: Ob im konkreten Fall tatsächlich eine solche Gefahr besteht, wird die Gerichtsverwaltung, gegen die sich der presserechtliche Auskunftsanspruch richtet, in aller Regel nicht wissen und deshalb – folgt sie den jetzt aufgestellten Regeln des Bundesverfassungsgerichts – kaum jemals (verwaltungs-) gerichtsfest begründen können.
@Maximilian Steinbeis
Die Entscheidung des VG Meiningen ist ebenfalls veröffentlicht: http://dejure.org/2015,5483
@Gast
Es ist richtig, daß es keine Präzedenzfälle zum Thema “Urteilsherausgabe” in der Senatsrechtsprechung gibt. Aber es gibt Entscheidungen sowohl der Senate als auch der Kammern zum Auskunftsanspruch der Presse. Hätte ein Fall wie dieser Ihrer Meinung nach (“schlimm”) vor den Senat gehört? Eine solch enge Auslegung von “geklärt” unter Abkehr der bislang praktizierten Abstraktionshöhe würde die BVerfG-Rechtsprechung, aufs Ganze hochgerechnet, zum Erliegen bringen. Ich stimme Ihnen zu, daß manchmal die Kammern ihre Zuständigkeiten sehr strapazieren. Aber die Kritik gerade an einem Fall wie diesem festzumachen, erscheint mir übertrieben.
@Martin Keller
Eine kleine Korrektur der Zahlen: NRWE umfaßt nicht 4.232 Entscheidungen, sondern rund 122.000 (davon 231 mit KLs-Aktenzeichen, als Stichprobe aus dem strafrechtlichen Bereich).
Ihre Einwände lassen sich hören, aber so richtig durchdrungen ist die Problematik in der Praxis auch sonst nicht. Der BGH veröffentlicht etwa alle seine strafrechtlichen Entscheidungen mit Gründen sofort, wenn diese vorliegen. Auch in den Fällen, wenn das Verfahren an eine neue Strafkammer zurückverwiesen wird. Auch in diesen Fällen haben Zeugen theoretisch die Möglichkeit, ihre (neue/erstmalige) Aussage den Ausführungen des BGH anzupassen. Allerdings gebe ich zu, daß die Problematik eher Fragen der Beweiswürdigung betrifft, die beim Revisionsgericht nur sehr gefiltert eine Rolle spielen (aber es doch können). Aber auch die rechtliche (Neu-)Einordnung durch das Revisionsgericht kann das Aussageverhalten beeinflussen (willkürlich gewähltes Beispiel: Vodafone-Verfahren).
Davon abgesehen: Die angesprochene Problematik dürfte vor allen diejenigen Zeugen betreffen, die mehr oder weniger im Lager des Angeklagten stehen. Dann haben sie aber sowieso Zugang auf das Urteil, denn dem Angeklagten wird es ja gerade nicht vorenthalten (so kafkaesk geht es noch nicht zu). Entsprechendes gilt für Zeugen, die Nebenkläger sind (oder in dessen Lager stehen).
Wie gesagt, die Problematik ist nicht durchdrungen. Dann kann sie aber auch nicht zulasten der Presse einfach mal so als tragende Begründung aus dem Ärmel geschüttelt werden, zumal wenn die Begründung im konkreten Fall unsubstantiiert bleibt.
Vermutlich hätte die Sache in den Senat gehört, eigentlich hätte man auch 1 BvR 23/14 nicht mehr in der Kammer entscheiden sollen; in der regulären Besetzung der Kammer wäre der hier diskutierte Fall wohl auch in den Senat gelangt.
@Þórsmörk
Was meinen Sie mit regulärer Besetzung in Bezug auf die Kammerentscheidung http://dejure.org/2014,31604?
Die Frage hat sich erledigt. Ich sehe gerade, daß Sie ja die jetzige Entscheidung meinen.
Liebe/r OG,
4.232 Entscheidungen waren es bis zum Zeitpunkt meines Postings allein im Jahr 2015.
Was Sie mit „nicht so richtig durchdrungen“ meinen, ist mir nicht ganz klar. Ja, der BGH veröffentlicht seine Beschlüsse zeitnah. (Immerhin, wir „Praktiker“ bekommen vorab ein kleines Briefchen – oder ein großformatiges, wenn es eine Aufhebung ist.) Allerdings: Die ausführliche Würdigung einer Zeugenaussage passt nicht so recht zu einem Revisionsgericht. Wenn der BGH wegen fehlerhafter Beweiswürdigung aufhebt, fasst er sich doch eher kurz (zuletzt etwa 4 StR 327/15, „Gütersloher Weihnachtsmord“).
Dass die Zeugen, auf die es ankommt, eher im Lager des Angeklagten stehen – reine Spekulation. Mag so sein oder auch nicht.
Mir als „Praktiker“ erscheint es jedenfalls einigermaßen sinnvoll, während eines laufenden (!) Strafverfahrens die Zeugen nicht über die Feinheiten (nur darum geht es) der erstinstanzlichen Beweiswürdigung in Kenntnis zu setzen. Dass es nicht immer klappt (weil z. B. der Angeklagte seine Urteilsausfertigung an einen Zeugen weitergibt) – geschenkt. Trotzdem kann doch zumindest das Mögliche getan werden… Welcher Schaden wird denn angerichtet, wenn die FAZ ihre gehaltvolle Urteilsbesprechung erst einige Monate später publizieren kann?!
(Abgesehen einmal davon, dass ich (langjähriger Abonnent) in der FAZ ohnehin noch NIE eine solche gelesen habe…. Das Interesse der Medien an den Urteilen ist vergleichbar mit den Beweisanträgen der Strafverteidiger: Sobald der „beantragte“ Auslandszeuge vor der Saaltür steht, erlischt es schlagartig.)
Herzlich grüßt
Keller
@Keller
Sie haben recht. Ich habe den Bezug zu 2015 falsch gelesen.
Eine genauere Betrachtung von NRWE gerade für das Jahr 2015 zeigt allerdings, daß sich unter den rund 4200 Entscheidungen nur drei Urteile mit KLs-Aktenzeichen befinden sowie eine weitere Sachentscheidung (Nichteröffnungsbeschluß: https://goo.gl/mxaC3U). Der am Anfang Ihrer Kritik stehende Hinweis auf eine gute Grundversorgung an veröffentlichter Rechtsprechung trifft also für das Strafrecht gerade nicht zu. Ich lasse dahingestellt, wie wichtig dieser Ausgangspunkt für Ihre Argumentation ist.
Mit “nicht so richtig durchdrungen” meine ich, daß sich ersichtlich bislang niemand die Mühe gemacht hat, Kriterien dafür aufzustellen, wann eine Verfahrensgefährdung durch Herausgabe eines Urteils an die Presse (oder Urteilsveröffentlichungen im Allgemeinen) vorliegt. Stattdessen wird mit einiger gewissen Nonchalance (um einen Ausdruck von Ihnen aufzugreifen) oder – allenfalls – einem Bauchgefühl operiert (das sich vor allem in politischen Fällen wie dem vorliegenden besonders regt; siehe auch die “Festung Koblenz” im Fall von Ex-Minister Deubel: http://goo.gl/lKW8kw). Daß dies jedenfalls im Grundrechtsbereich (Pressefreiheit) keine saubere Abwägungsarbeit ist, sollte klar sein. Wenn der Fall einer Gefährdung eines Strafverfahrens durch Bekanntwerden der Urteilsgründe vorliegt, dann muß es auch möglich sein, diese Gefährdung konkret zu benennen. Das hat das OVG aber nicht getan, sondern unabhängig vom Fall abstrakt argumentiert (“Bei einer Veröffentlichung des Urteils im Wortlaut besteht jedoch die Möglichkeit, dass Zeugen beeinflusst werden.”, ” lässt sich eine Gefährdung von Strafverfahren hier nicht von der Hand weisen”). Auch insoweit möchte ich eine Formulierung von Ihnen aufgreifen: “reine Spekulation”. Daran hat das BVerfG zu Recht Anstoß genommen.
Und wenn an bestimmten Stellen des Urteils eine Gefährdung festgemacht werden kann, ist es logisch, daß durch Schwärzung gerade dieser Stellen die Gefahr gebannt werden kann. Die Gesamtverweigerung des Urteils kann dann auf diese Argumentation nicht gestützt werden (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).
Ihr Anmerkung zur (hier nicht beteiligten) FAZ mag stimmen oder nicht. Vergessen Sie aber nicht, daß zur Presse auch die Fachpresse gehört und daß Urteilsbesprechungen aus rechtswissenschaftlicher Sicht im Kommunikationssystem Recht gerade auch während der Anhängigkeit einer Revision ihren Wert haben. Statt hinterher aufzuzeigen, was falsch war, kann die Fachpresse so auf den Ausgang des Verfahrens konstruktiv einwirken.
@OG
Ach, die Fachpresse. Die bespricht doch lieber den tausendsten Schluckauf eines OLG zum Fahrverbotsrecht als ein landgerichtliches KLs-Urteil. Und wenn doch, dann mit solcher Verzögerung, dass der Delinquent längst Halbstrafe gemacht hat. Und glauben Sie im Ernst, ein BGH-Senat mit seinen vier Augen und sechs Ohren wirft einen Blick in irgendeine professorale Abhandlung, bevor er seinen Beschluss raushaut?!
Ich hatte mit dem Hinweis auf die FAZ aber gar nicht beabsichtigt, um Details zu streiten. Mich stört nur die Diskrepanz zwischen dem Aufplustern und Spreizen der selbsterklärten Herolde der Pressefreiheit und ihrer dann doch meist recht kläglichen Justizberichterstattung.
PS. Schön, dass Ihnen meine Formulierungen so gut gefallen, dass sie sie sogar selbst übernehmen.
@Keller
Könnten die von Ihnen vermißten, zumal zeitnahen Besprechungen von KLs-Urteilen nicht gerade etwas damit zu tun haben, daß sie zu wenig veröffentlicht werden? Der von Ihnen erwähnte Drang von Juristen, zu Entscheidungen ihren Senf abzugeben, muß sich ja auch erstmal ausgelöst werden. Ich glaube, wir haben hier auch ein Henne-und-Ei-Problem.
Ganz so beratungsresistent wie Sie tun, sind BGH-Richter auch nicht. Nehmen Sie nur die Entscheidung http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/3/14/3-88-14.php aus dem Jahr 2014, wo sich der BGH für seine Entscheidung (Freispruch) unter anderem auf eine Dissertation aus dem Jahr 2014 stützte (mit dem schönen Titel “Deutscher Strafrechtsimperialismus”, http://www.verlagdrkovac.de/978-3-8300-7884-5.htm). Ich glaube im Ernst, daß sich der BGH (von einigen Richtern abgesehen) Impulse der Literatur genauso gerne auf nimmt wie jede andere Hilfe bei der Strukturierung des Stoffes (wie durch die Schriftsätze und die Zuschriften des GBA). In allen BGH-Entscheidungen, die etwas grundsätzlichere Fragen betreffen, findet sich eine Auswertung der Literatur. Diese eine Entscheidung nenne ich nur deshalb, weil sie zeigt, daß nicht jede Dissertation l’art pour l’art ist.
Wie Gast oben herausstrich, hat auch die BVerfG-Kammer sich zentral auf den Aufsatz von Putzke/Zenthöfer in NJW 2015, 1777 gestützt. Na, sicher tun Gerichte so etwas.
Wenn ich übrigens von “Rechtswissenschaft” spreche, dürfen nicht nur Professoren an Ihrem geistigen Auge vorbeimarschieren. Ich meine damit jede analytische Beschäftigung mit einer Entscheidung, beispielsweise auch in Praktikerzeitschriften oder einem Fachblog wie diesem hier.
@ OG
Ich kann Ihre Auffassung nicht ganz teilen.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich die Gelegenheit, bei einem OLG (“dem Größten” – Eigenwerbung) einem Strafsenat anzugehören – im Rahmen der obergerichtlichen Erprobung. “Selbstverständlich” ist jeder von mir eingeschickte, noch so langweilige Beschluss veröffentlicht worden – in renommierten Fachzeitschriften, aber auch in obskuren Blättern wie dem “RdL” (für Nicht-Eingeweihte: “Recht der Landwirtschaft”). Etliche Beschlüsse sind auch besprochen worden.
Hingegen am LG: Noch NIE hat sich eine Zeitschrift herabgelassen, eines “meiner” eingesandten KLs-Urteile abzudrucken, mag es auch noch so interessant gewesen sein. (Allerdings: Qs-Entscheidungen werden gelegentlich gebracht, weil “wir” dort – außer bei Haft- und manchen Arrestentscheidungen – letzte Instanz sind.)
Dass der BGH nie in die Fachzeitschriften schaut, nehme ich zurück. Das war einfach der Freude an der Möglichkeit zur anonymen Polemik geschuldet.
@Keller
Ich freue mich, daß Sie sich als überzeugter Urteilsveröffentlicher zu erkennen geben. Ich hoffe doch, daß Sie die (ärgerlicherweise) von der Fachpresse abgelehnten Urteile wenigstens NRWE zur Verfügung gestellt haben.