18 June 2015

Ökonomenstreit produziert Juristenstreit: zum OMT-Verfahren zwischen EuGH und BVerfG

Die Vorabentscheidung zur OMT-Vorlage des BVerfG stärkt den EuGH auf kommunikativer und inhaltlicher Ebene. Durch die Sachentscheidung stärkt er den dialogisch ausgerichteten Verfassungsgerichtsverbund zu den nationalen Verfassungsgerichten — im Gegensatz zum Verhältnis zum EGMR. Im materiellen Teil stößt man auf eine kurze, prägnante Entscheidung, die zwar hinter der Verhältnismäßigkeitsprüfung des Generalanwalts zurückbleibt. Dafür verortet sie in ruhigem, sachlichen Ton den entscheidungserheblichen, nur bedingt justiziablen ökonomischen Sachverstand auf europäischer Ebene. Und dessen normative Validität unterliegt dem Anspruch nach der exklusiven Prüfung des EuGH.

Den verschiedenen Dimensionen der Entscheidung soll mit Blick auf die Fortsetzung des Hauptsacheverfahrens in Karlsruhe nachgegangen werden.

1. Prozessuales — Dialog vor Dogmatik

Der Gedanke, sich angesichts der komplexen ökonomischen und politischen Wertungen dadurch in judicial self restraint zu üben, dass die Vorlagefragen Karlsruhes für unzulässig zu befinden seien — die Auslegungsentscheidung des EuGH wäre ohnehin nur potenziell entscheidungserheblich — wurde vom EuGH zugunsten einer Sachentscheidung verworfen. Dass dem wie auch immer inhaltlich zu bewertenden Dialogangebot des Bundesverfassungsgerichts in Form einer Sachentscheidung begegnet wurde, zeigt nicht nur, dass der EuGH auf eine Auslegungsfrage auch dann antwortet, wenn die Gefolgschaft unsicher ist (auf die Verfassungsvorbehalte wird auch nicht direkt eingegangen). Darüber hinaus entlastet die Gelegenheit zur Sachentscheidung die EU-Organe auch von dem Eindruck, angesichts der öffentlichen Debatten und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen hinsichtlich der rechtlichen und ökonomischen Zulässigkeit bzw. Sinnhaftigkeit des EZB-Handelns als »legibus solutus« dazustehen (EZB und Kommission brachten gegen den zweiten, abstrakt formulierten, ansonsten aber identischen Vorlagefragenkomplex keine Unzulässigkeitseinwendungen vor, vgl. hier und hier).

Prozessual übersetzt: auch ein nicht umgesetzter Akt geldpolitischer Kommunikation in Form einer Pressemitteilung kann zum Verfahrensgegenstand werden, wenn das vorlegende Gericht diesen für entscheidungserheblich hält. Insofern greift eine weite Vermutungsregel für eine Entscheidungserheblichkeit. Der kommunikative Verfassungsgerichtsverbund scheitert damit trotz der recht bestimmten »Anfrage« des BVerfG und des recht unbestimmten Gegenstands nicht am EuGH. In diesem Kontext wird für den EuGH zugleich eine grundsätzlich erwünschte Befassung in der Sache möglich, ohne dass eine — dem EuGH unerwünschte — Ausweitung des unionsrechtlichen Individualrechtsschutzes in den Fokus gerät: entsprechende Nichtigkeitsklagen von 5.217 Klägern gegen die Maßnahmen der EZB wurden auf Unionsebene bereits zuvor als unzulässig verworfen, unter Hinweis auf die Möglichkeit der Anregung eines Vorabentscheidungsverfahrens (vgl. hier, vom EuGH bestätigt).

Eines der Regierungsvorbringen zur Zulässigkeit ist dennoch bemerkenswert: denkt man das Vorbringen der spanischen Regierung, die Rechtsbehelfsverfahren vor nationalen Verfassungsgerichten dürften nicht so ausgestaltet sein, dass die Voraussetzungen für die unionsrechtlichen Klagemöglichkeiten unterlaufen werden zu Ende, steht man vor einer Art prozessrechtlichem Anwendungsvorrang des Unionsrechts, der selbst die weitergehende Überlegung des Generalanwalts Cruz Villalón, die Bestimmung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten einer kongruenten unionsrechtlichen Auslegung über Art. 4 II 1 EUV unterzuordnen, obsolet macht. Soweit auf unionsrechtlicher Ebene ein Interesse an einem engen Individualrechtschutz besteht, bleibt das Vorabentscheidungsverfahren für den EuGH der institutionell besser handhabbare Prüf- und Kommunikationskanal dar.

2. Materielles — Ökonomische Expertise als übersetzte normative Kollision

Stellt man die Vorabentscheidung des EuGH dem Vorlageersuchen des BVerfG gegenüber, wird deutlich, dass die materielle Kollision auf einem Import gegensätzlicher Ansichten aus der Ökonomie beruht und die Auseinandersetzung in der Sprache des Rechts juristisch fortgesetzt wird. Das BVerfG hat sich einer Fallhöhe ausgesetzt, die einen gesichtswahrenden Rückzug als dritte Möglichkeit neben der Aktivierung der Verfassungsvorbehalte oder der Akzeptanz der gegebenen Auslegung durch den EuGH unwahrscheinlich macht.

Ob der Ankauf von Staatsanleihen im bekannten Kontext aus ökonomischer Lesart weder eindeutig als geldpolitische noch als wirtschaftspolitische Maßnahme eingeordnet werden kann, weil er zumindest von einer Ebene auf die andere übergreift, ist juristisch deshalb unerheblich, weil das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dem Kompetenzdenken eine legitimatorische Komponente einschreibt, die eine Zuordnungsentscheidung erfordert. Die daran anknüpfende ultra vires-Kontrolle verlangt also eine juristische Zuordnungsentscheidung; die ökonomisch verschwommene Perspektive muss auf rechtlicher Ebene scharf gestellt werden.

Entsprechend plastisch lässt sich die gegensätzliche Nutzbarmachung der systemfremden ökonomischen Rationalität durch BVerfG und EuGH ablesen: Sowohl das BVerfG als auch der EuGH wollen die Abgrenzung zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik anhand der Zielsetzung der Maßnahme sowie der Mittel zur Zielerreichung vornehmen. Während das BVerfG zur Abgrenzung aber eine »objektiv zu bestimmende« Herausarbeitung der Zielsetzung verlangt, findet sich der Terminus objektiv beim EuGH nicht ein einziges mal — die (subjektive) Pressemitteilung, mit der die EZB ihre Zielsetzung als ökonomisch sachverständiges Organ selbst erläutert, wird übernommen. Hier steht die weitgehende Zurückhaltung des EuGH durch Abstellen auf die subjektive ex ante-Zielsetzung der EZB, die kompetenzbegründende Wirkung entfaltet dem Ansatz des BVerfG gegenüber, dessen »objektiver« Ansatz auf eine wenigstens hypothetische Folgenbetrachtung hindeutet.

Während das BVerfG das OMT-Programm so als wirtschaftspolitische Maßnahme, die nur mittelbar währungspolitisch wirkt, einordnet (»Finanzhilfen«), kommt der EuGH zum umgekehrten Schluss, es handle sich um eine währungspolitische Maßnahme mit nur mittelbarer wirtschaftspolitischer Wirkung (»Wiederherstellung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus«). Am deutlichsten wird die ins Recht getragene systemfremde Kollision im Folgenden: nach dem BVerfG beruhen Zinsaufschläge — unter Berufung auf die »überzeugende Expertise der Bundesbank« — nicht auf der irrationalen Furcht des Marktes und lassen sich nicht einfach in einen rationalen und irrationalen Teil aufspalten, sondern spiegeln die Skepsis gegenüber mangelnder Haushaltsdisziplin wieder. Der EuGH kann hingegen i.R.d. Zielsetzung der EZB keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler erkennen, wenn diese von einer »besonderen Lage« spricht, die das Zinsniveau über die makroökonomischen Unterschiede hinaus ansteigen ließ.

Die rechtliche Zuspitzung dieser ökonomischen Parteinahmen gipfelt in der Erkenntnis des BVerfG, die Berufung auf eine Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus würde jedwedes wirtschaftspolitisch bedingte Krisenszenario der geldpolitischen Intervention öffnen und so das Verbot monetärer Staatsfinanzierung aushebeln. Dem steht die Feststellung des EuGH gegenüber, die Berufung hierauf begründe — unter Gewährung einer aufgrund der ökonomischen Expertise der EZB weiten Einschätzungsprärogative — die Handlungskompetenz (vgl. ab hier). Man könnte überspitzt fragen: scheitert der verfassungsrechtliche Kooperationsverbund an einem ökonomischen »Stellvertreterkrieg« oder stehen sich darüber hinaus divergierende Gemeinwohlinteressen gegenüber, die die verschiedenen Ansätze der Gerichte erklärbar machen?

3. Legitimation durch Sachverstand oder Legitimation gegen Sachverstand?

Die Stärke der EuGH-Entscheidung ist die dogmatisch zurückhaltende und aufgrund der komplexen Sachlage aus Rechtssicht gerade deshalb sehr gut vertretbare, in sich geschlossene Argumentation. Die im Fall notwendige rechtliche Auslegung und Kompetenzabgrenzung braucht den Rückgriff auf fremden Sachverstand, bei dem dann eine auf offensichtliche Verfehlungen beschränkte zurückhaltende Prüfung angezeigt erscheint. Neben dieser Positionierung macht der EuGH es dem BVerfG schwer, sich auf die Expertise der Bundesbank zu berufen, wenn er darauf verweist, dass man von der EZB »mit Rücksicht darauf, dass geldpolitische Fragen gewöhnlich umstritten sind« nicht mehr erwarten kann, als ihren wirtschaftlichen Sachverstand anzuwenden und zu einer — gezwungenermaßen — nicht unumstrittenen Entscheidung zu gelangen. Für die rechtliche Auflösung der ökonomischen Kollision zugunsten des EuGH spricht auch der Umstand, dass die EZB nicht vom Himmel gefallen ist, sondern von den Mitgliedstaaten primärrechtlich ausgestaltet, legitimiert und mit der notwendigen Unabhängigkeit und Expertise ausgestattet wurde. Auch der EuGH verortet die Legitimation bei den Mitgliedstaaten und nutzt entstehungsgeschichtliche Argumente (hier und Rn. 126); das ausgestaltete Zentralbanksystem ist konsentierte Einrichtung der Primärrechtsgeber und war so gewollt, lautet die Botschaft des EuGH.

Diese Stärken der EuGH-Entscheidung stellen dennoch zugleich seine größte Schwäche dar. Vielleicht erweist sich eine isolierte rechtsdogmatische Argumentation hier gerade als blinder Fleck. Die EZB ist, ohne auf den Abstimmungsmodus im Rat und die daran gemessen eigentümliche staatliche Kapitalbeteiligung einzugehen, mindestens im selben Maß »institutionell befangen«, wie es die Deutsche Bundesbank ist. Ihre Gemeinwohlorientierung deckt sich mit jenen der Deutschen Bundesbank räumlich nicht, sie sind territorial anders radiziert — wie die auf ihrer Ebene das letzte Wort innehabenden Gerichte. Versteht man die Verfassung als Ort der strukturellen Kopplung von Recht und Politik, sollte sich im Umfeld eines Verfassungsgerichts nicht auf eine geschlossene rechtsdogmatische und einseitige ökonomische Parteinahme zurückgezogen werden. Die Entscheidungen fallen beide im Kontext eines Integrationszusammenhangs, dessen Finalität und Weite politisch improvisiert wird. Die Frage ist: gibt es eine Instanz, die dies leisten kann?

Dem Bundesverfassungsgericht ist zuzugeben, dass die Berufung auf einen — ökonomisch definierten, rechtlich weitgehend nicht justiziablen — gestörten geldpolitischen Transmissionsmechanismus nicht zum Türöffner für erhebliche wirtschaftspolitische (seien es auch nur mittelbare) Auswirkungen werden kann. Jegliche aufgrund wirtschaftspolitischer Verfehlungen einzelner Staaten eingetretene Störungen führten so zu einem kompetenziell korrekten Eingreifen der EZB, um geldpolitisch »auszuputzen« und langfristig eine politisch nicht ausdrücklich legitimierte Umverteilung in die Wege zu leiten, mag es sich dogmatisch korrekt auch um eine vom Wortlaut gedeckte Anhäufung des anteiligen Ausfallrisikos halten. Das Schweigen der Politik ist nicht als Zustimmung zu werten, sondern als fehlender Konsens. Wenn im unabhängigen EZB-Rat tatsächlich allein die technisch-geldpolitische Motivation eine Rolle spielt und der Politik die Kraft zur Stellung der Legitimationsfrage fehlt, sollte ein Verfassungsgericht sie stellen. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht bloße Oppositionsersatzbank eines rückwärtsgewandten, spezifischen Zeitungsleserklientels (in diesem Sinne aber Werner Heun, der hier eine allein deutsche ökonomisch-juristische Minderheit gegen den Rest Europas und der Welt sieht). Es steht an der Schnittstelle zwischen Recht und Politik.

Die Judikative als Kompensator mangelnder europapolitischer Kommunikation der Exekutive

Über das Ergebnis und den Rechtsfolgenausspruch in Karlsruhe kann nur spekuliert werden. Was würde aus einem ultra vires- oder Identitätsverstoß für Deutschland mit Blick auf die anteilige deutsche Haftung überhaupt folgen, wenn der deutsche Vertreter im EZB-Rat ohnehin regelmäßig überstimmt wird? Wird das Bundesfinanzministerium bzw. die Bundesbank dazu angehalten, die Begleichung einer möglichen anteiligen Verlusthaftung (Art. 33.2 des Protokolls über die ESZB/EZB-Satzung) aus grundgesetzwidrigen EZB-Maßnahmen zu verweigern und damit verfassungsrechtlich gehalten, auf ein Vertragsverletzungsverfahren bzw. ein Verfahren nach Art. 271 lit. d) AEUV zuzusteuern?

Hinzu kommen Veränderungen im Senat: mit dem Ausscheiden der Richter Lübbe-Wolff und Gerhardt wird eine 4:2-Mehrheit für die Feststellung eines Verfassungsverstoßes benötigt (§ 15 III, IV 3 BVerfGG). Scheidet ein weiterer Richter aus, steht eine mögliche Beschlussunfähigkeit an, die zu einem Neubeginn der Beratungen unter neuer Zusammensetzung führt (§ 15 III 2 BVerfGG). Angesichts der Ausgewogenheit der sich gegenüberstehenden Argumentationen wird das Gericht in seine Entscheidungsfindung damit auch einspeisen müssen, dass ihm selbst die Legitimationsfrage gestellt wird. Damit eignet sich das OMT-Verfahren womöglich trotz der selbst beigebrachten Fallhöhe des BVerfG wenig für die Feststellung einer Verfassungsverletzung — hier könnte die dem EuGH zukommende Fehlertoleranz ins Spiel kommen.

Was das dialogische Verfahren zwischen BVerfG und EuGH hervorgebracht hat, ist abgesehen von der anhaltenden Spannung in der Hauptsache die nicht zu unterschätzende Aufforderung an die Politik, angesichts möglicher langfristiger sozialer Transferwirkungen über das Verfahren hinaus stärker erklärend aufzutreten und angesichts der Folgen die Legitimationsfrage im Kontext der Abwägung von partikularem und europäischem Gemeinwohl zu stellen. In Slowenien und der Slowakei haben die Regierungen bereits erhebliche Probleme, weitergehende Wohlstandstransfers zugunsten angeschlagener Staaten vor ihren Bürgern zu rechtfertigen. Ein Abstellen auf alternativlose Sachzwänge unter Zurschaustellung einer Gipfeldiplomatie überzeugt keinen thematisch und fachlich distanzierten Wähler eines politischen Gemeinwesens, für andere Gemeinwesen vertieft einzustehen.

Der Autor dankt den Kollegen aus dem öffentlichen Recht der Universität Göttingen, die am 16. Juni zu einem fruchtbaren Mitarbeiterkolloquium für eine erste Diskussion der OMT-Entscheidung des EuGH zusammenkamen.


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