Offene Fragen der (Massen)Quarantäne
Die Anordnung von Quarantäne gehört seit Beginn der Corona-Epidemie zu den Schutzmaßnahmen, mittels derer die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden soll. In den letzten Wochen häufen sich Berichte über lokale Ausbrüche in Flüchtlings- und anderen Unterkünften und in Unternehmen (insbesondere Schlachthöfen) mit vielen (potentiellen) Infizierten. Die Behörden stellten deswegen ganze Unterkünfte, Wohnhäuser, -blocks und sogar Straßenzüge unter Quarantäne. Spätestens diese Massenquarantäne wirft viele rechtliche Fragen auf, deren Beantwortung eine verfassungswidrige Praxis offenbart.
Bei der „Quarantäne“ (zum Begriff sogleich) handelt es sich um einen Verwaltungsakt gem. § 35 (L)VwVfG, für den es einer Ermächtigungsgrundlage bedarf. Diese sollte nicht nur aus Sicht der Behörde eine praxisgerechte Handhabung ermöglichen, sondern muss außerdem bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen genügen.
Ermächtigungsgrundlage
Ermächtigungsgrundlage für diese Anordnungen kann nur § 30 I 2 IfSG sein, nach dem Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise „abgesondert“ werden können. Seit Mai spricht die Vorschrift nicht mehr von „Quarantäne“, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass in der Medizin zwischen der Isolierung Erkrankter und der Quarantäne möglicherweise Erkrankter unterschieden wird. Die „Absonderung“ stellt dabei den Oberbegriff dar.
Adressat*innen der Norm können – wie es die Vorschrift ausdrücklich regelt – nur Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider sein (dazu sogleich). Wichtig ist: § 28 I 1 2. HS IfSG scheidet als Ermächtigungsgrundlage aus (anders wohl zum Teil die Behörden und Koch). Der Wortlaut scheint zwar zu passen (die Behörde kann Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen), durch die Heranziehung der Generalklausel des § 28 I IfSG dürfen jedoch nicht die engeren Voraussetzungen der Standardermächtigung des § 30 I 2 IfSG – insbesondere die Beschränkung des Adressatenkreises – unterlaufen werden. Dass man im Falle der Anordnung einer Absonderung überhaupt auf die Idee kommen kann, die Generalklausel heranzuziehen, ist erst seit der Änderung des IfSG im März möglich, als der bis dahin enthaltene einschränkende Zusatz „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“ gestrichen wurde. Durch diese Streichung wollte der Gesetzgeber Ausgangsbeschränkungen ermöglichen (zur vorherigen Rechtslage Klafki, Kießling, Edenharter). Es ist schon sehr fraglich, ob diese nun auf § 28 I 1 2. HS gestützt werden können (dazu Kießling; Bethge; Klafki); für Absonderungen, bei denen die häusliche Wohnung gar nicht verlassen werden darf, ist jedenfalls § 30 I 2 IfSG spezieller.
Die Adressat*innen
Die Begriffe Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider werden in § 2 Nr. 4–7 IfSG legaldefiniert. Für eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann man diese Begriffe wie folgt aufschlüsseln:
- Krank ist eine Person, die nachweislich mit dem Erreger infiziert ist und Symptome hat.
- Krankheitsverdächtig ist eine Person, die Symptome hat, bei der aber der Nachweis einer Infektion noch aussteht.
- Ausscheider ist eine Person, die nachweislich infiziert ist, aber keine Symptome hat.
- Ansteckungsverdächtig ist eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie den Erreger aufgenommen hat, etwa weil sie Kontaktperson eines Infizierten ist (wer aktuell als Kontaktperson gilt, ist in § 2 Corona-Test-VO geregelt).
Für Ausscheider enthält § 30 I 2 aE IfSG die Einschränkung, dass sie nur abgesondert werden dürfen, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden. Diese Einschränkung beruht wohl auf der Annahme, dass Ausscheider weniger ansteckend sind als die anderen drei Personengruppen. Bevor das IfSG 2001 in Kraft trat, war der Ausscheider im BSeuchG tatsächlich in diesem Sinne geregelt; mittlerweile ist Bestandteil der Legaldefinition des § 2 Nr. 6 IfSG, dass die Person eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann. Einen Grund für diese „Privilegierung“ der Ausscheider in § 30 I 2 IfSG gibt es seitdem nicht mehr. Momentan werden in der Praxis bei der Anordnung von Quarantäne – soweit ersichtlich – Ausscheider auch nicht anders behandelt als Kranke, Krankheitsverdächtige und Ansteckungsverdächtige. Dies entspricht jedoch nicht der Vorgabe in § 30 I 2 aE IfSG.
Wichtig ist, dass § 30 I IfSG so konzipiert ist, dass für jede Person, die abgesondert werden soll, feststehen muss, dass sie einer dieser Kategorien unterfällt. Dafür müssen die Behörden Ermittlungen nach § 25 IfSG anstellen – mit anderen Worten: ermitteln, wer mit wem in welchem Umfang Kontakt hatte, und die in Frage kommenden Personen auf das Virus testen. Wenn ganze Flüchtlingsunterkünfte ohne diese Ermittlungen „unter Quarantäne gestellt“ werden, ist dies rechtswidrig (dazu Amhaouach). Das gleiche gilt für Regelungen in Rechtsverordnungen nach §§ 32 iVm 30 I 2 IfSG, die pauschal alle aus dem Ausland Einreisenden als ansteckungsverdächtig einstufen und für sie eine 14tägige „Quarantäne“ anordnen (so auch OVG Lüneburg, OVG Münster; aA VG Freiburg). Für die Einreise aus bestimmten, näher (und eng) definierten Risikogebieten mag ein solcher Ansteckungsverdacht per Gruppenzugehörigkeit anders zu beurteilen sein, dies stellt aber einen Grenzfall dar (vgl. auch Klafki). Jedenfalls muss es den Betroffenen möglich sein, besondere Umstände (wie eine bereits durchgestandene Infektion oder mangelnden Kontakt zur Bevölkerung) geltend zu machen, damit für sie eine Ausnahme gemacht wird.
Bei Krankheitsausbrüchen in Massenunterkünften und Unternehmen kommt es auf die konkreten Begebenheiten vor Ort an: Bei der gemeinsamen Benutzung von Sanitäranlagen, Küchen und weiteren Räumen kann ein Ansteckungsverdacht bejaht werden. Wo hingegen Abteilungen/Flure/Aufzüge etc. voneinander getrennt benutzt werden, müssen weitere Umstände hinzutreten, die für die Übertragung des Erregers sprechen. Sind hiernach tatsächlich alle Mitarbeiter*innen eines Betriebs oder alle Bewohner*innen einer Unterkunft ansteckungsverdächtig, kann die Absonderung durch eine Allgemeinverfügung gem. § 35 S. 2 (L)VwVfG angeordnet werden (vgl. z.B. das Vorgehen in Gütersloh).
Freiheitsentziehung
Wer von den Behörden wegen einer (möglichen) Infektion mit SARS-CoV-2 unter Quarantäne gestellt wird, darf seine Wohnung 14 Tage lang nicht verlassen. Zwar wird die Tür nicht verschlossen, ein Verlassen der Wohnung ist aber nach § 73 Ia Nr. 6 IfSG bußgeldbewehrt; außerdem drohen die Behörden oftmals direkt mit der Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung nach Abs. 2 (dazu sogleich). Aus diesen Gründen stellt die Absonderung eine Freiheitsentziehung gem. Art. 2 II 2 GG dar. Das wiederum bedeutet, dass das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG und der Richtervorbehalt des Art. 104 II 1 GG zur Anwendung kommen (so auch Kluckert, § 2 Rn. 209ff.). Wer nun in § 30 IfSG schaut, wird nur in Abs. 2 fündig (der nur für die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung gilt), nicht aber in Abs. 1. Mit anderen Worten: § 30 I IfSG als Rechtsgrundlage für einfache Absonderungen ist in der aktuellen Form verfassungswidrig. Er müsste eigentlich – wie Abs. 2 – Art. 2 II 1 GG als eingeschränktes Grundrecht nennen und auf die §§ 415ff. FamFG verweisen, die das Verfahren bei Freiheitsentziehungen regeln, was er jedoch nicht tut.
Das Verfahren nach §§ 415ff. FamFG
In der Praxis wird bislang von den Behörden – soweit ersichtlich – auch nicht die Anordnung der Absonderung durch eine*n Richter*in (ggf. nachträglich, Art. 104 II 2 GG) durch eine entsprechende Anwendung der §§ 415ff. FamFG herbeigeführt. Zwar kann darauf wohl in den Fällen verzichtet werden, in denen die Betroffenen selbst von der Notwendigkeit der Maßnahme überzeugt sind, da eine Freiheitsentziehung nur dann vorliegt, wenn die Absonderung „gegen den Willen“ der Person angeordnet wird (vgl. die Definition in § 415 II FamFG). Sobald ein Betroffener jedoch seinen entgegenstehenden Willen äußert, müsste die zuständige Behörde einen Antrag nach § 417 FamFG beim Amtsgericht stellen.
Das Gericht muss dann den Betroffenen gem. § 420 FamFG persönlich anhören. Zwar kann von dieser zwingenden Vorschrift gem. § 420 II 2. Var. für den Fall eine Ausnahme gemacht werden, dass der Betroffene „an einer übertragbaren Krankheit im Sinne des IfSG leidet“. Der BGH hat jedoch im Jahr 2017 klargestellt, dass diese Ausnahme eng auszulegen ist: Ggf. muss die Richterin die Anhörung vor Ort mit entsprechender Schutzkleidung durchführen; falls die bestehende Infektionsgefahr tatsächlich eine Anhörung ausschließt, ist dies durch ein ärztliches Gutachten zu belegen. Eine Ausnahme rein aus Praktikabilitätsgründen in Massenverfahren ist in § 420 FamFG nicht vorgesehen. Kann tatsächlich auf eine Anhörung verzichtet werden, hat das Gericht dem Betroffenen gem. § 419 I 2 FamFG einen Verfahrenspfleger zu bestellen. Spätestens hier stellt sich also wieder rein praktisch die Frage, wie das in Massenverfahren bewerkstelligt werden kann.
Durchsetzung der Absonderung
Auch der Umgang mit den sogenannten „Quarantäneverweigerern“, die ihre Wohnung trotz angeordneter Absonderung verlassen, wirft rechtliche Fragen auf. Zum Teil wird vertreten, dass in diesen Fällen sofort Abs. 2 einschlägig ist, dass also sofort eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung zu erfolgen hat (damit drohen – wie erwähnt – die Behörden zum Teil in ihren Quarantäneverfügungen). Auch die bislang vorhandene Kommentarliteratur ist der Ansicht, das allgemeine Verwaltungsvollstreckungsrecht werde durch § 30 II IfSG gesperrt. Diese Ansicht übersieht jedoch, dass § 30 II IfSG einen Sonderfall des unmittelbaren Zwangs regelt, für den es im allgemeinen Verwaltungsvollstreckungsrecht keine Rechtsgrundlage gibt; aus der Existenz einer Sonderregelung für ein besonders grundrechtsintensives Instrument kann nicht auf die Unanwendbarkeit der milderen Vorschriften geschlossen werden. Von daher ist es nur konsequent, dass die Behörden aktuell die Absonderung ganzer Wohnblocks zunächst dadurch durchsetzen, dass sie die Bewohner durch Bauzäune am Verlassen der Häuser hindern und nicht alle Verweigerer sofort in geschlossenen Einrichtungen unterbringen.
Bei einer beharrlichen Weigerung kommt dann die Unterbringung nach § 30 II IfSG in Betracht (wiederum nach Anordnung durch eine*n Richter*in gem. §§ 415ff. FamFG). Zu diesem Zweck sollen z.B. im Umfeld von Gütersloh eine ehemalige Kaserne und andere größere Gebäude hergerichtet werden. S. 1 sieht grundsätzlich die Unterbringung in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses vor; Ansteckungsverdächtige und Ausscheider können gem. S. 2 auch in einer „anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung“ abgesondert werden. Eine Unterbringung in einem Krankenhaus ist bei Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern deswegen nicht zwingend notwendig, weil sie keine Krankheitssymptome zeigen und somit nicht behandlungsbedürftig sind.
Was genau mit „anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtungen“ gemeint ist, verrät der Gesetzgeber nicht. Nach Sinn und Zweck des § 30 und des IfSG insgesamt (vgl. § 1) muss jedenfalls die Übertragung der Krankheit durch die baulichen Begebenheiten verhindert werden können. Da bei Ausscheidern die Infektion feststeht, muss insbesondere bei einer Absonderung mehrerer Personen verhindert werden, dass Ausscheider Personen mit dem Erreger anstecken, die zwar als ansteckungsverdächtig gelten, aber tatsächlich nicht infiziert sind. Die Behörde muss außerdem gem. § 29 IfSG überwachen, bei wem sich Symptome entwickeln und wer medizinische Versorgung benötigt. Was § 30 II IfSG jedenfalls nicht erlaubt, ist die Unterbringung Kranker und Krankheitsverdächtiger – also Personen mit Symptomen – in Einrichtungen, die keine Krankenhäuser sind.
Änderungsbedarf
Bereits Ende der 1980er Jahre wurde darauf hingewiesen, dass die Vorgängervorschrift des § 30 IfSG im BSeuchG keinen Richtervorbehalt enthielt (Schenke, DVBl 1988, 165 (170)). Damals diskutierte man darüber, Prostituierte und andere „HIV-Risikogruppen“ zu „zwangskasernieren“ (wozu es zum Glück nicht kam). In den letzten Jahren wurde § 30 IfSG nur ganz vereinzelt in Fällen offener Lungentuberkulose angewendet. Die Corona-Epidemie und spätestens die aktuellen Massenausbrüche zeigen nun wieder, dass die Vorschrift dringend einer Überarbeitung bedarf, damit die Absonderung als wichtige Schutzmaßnahme auf eine verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage gestützt werden kann.
Hallo,
mich beschäftigt schon einige Zeit die Frage, ob die üblichen Quarantänemaßnahmen freiheitsentziehende Maßnahmen sind. Bei der häuslichen Quarantäne kann man vielleicht noch argumentieren, dass die Tür nicht abgeschlossen ist. Das überzeugt mich zwar nicht, weil man dann eine OWi oder gar Straftat begeht.
Aber bei einer Qurantäne wie dem Hochhaus in Göttingen, bei dem die Polizei dafür sorgt, dass keiner das Gebäude verlässt, handelt es sich aus meiner Sicht klar um eine Freiheitsentziehung. Folge ist, dass ein richterlicher Beschluss notwendig ist. Wird der richterliche Beschluss nicht eingeholt, dürfte es sich um eine Freiheitsberaubung handeln. Oder habe ich irgendwo einen Denkfehler?
Die gleiche Frage beschäftigt mich auch. Ich bin von der Mutter meiner Kinder getrennt lebend. In der ersten Woche der Herbstferien hatte ich meine Kinder, (Sohn 7 J. und Tochter, 5 J.) bei mir. Die gesamte Woche hat meine Tochter, die in diesen Tagen ihren 5. Geburtstag gefeiert hat, in meiner Etagenwohnung unter Quarantäne verbringen müssen, weil eine ihrer Kindergärtnerinnen positiv auf Covid 19 getestet worden ist. Der Corona-Test meiner Tochter verlief negativ. Trotzdem wurde die Quarantänemaßnahme trotz meiner telefonischen Intervention beim Gesundheitsamt nicht aufgehoben. Die Quarantäne musste in der 2. Ferienwoche bei der Mutter fortgesetzt werden.
Auch ich würde gerne prüfen lassen, ob die Androhung von Strafen und Zwangsmitteln bei Verstoß gegen die Quarantäneauflagen nicht mindestens den Straftatbestand der Nötigung, wenn nicht gar der Freiheitsberaubung erfüllen.