Offenkundig „offenkundig“ nicht verstanden
Anmerkungen zur Mietenstopp-Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs
Nachdem das Bayerische Staatsministerium die Zulassung des Volksbegehrens „#6 Jahre Mietenstopp“ versagt hatte, musste gem. Art. 64 Abs. 1 S. 1 LWG der Bayerische Verfassungsgerichtshof über dessen Zulassung entscheiden und lehnte sie am 16. Juli 2020 ab. Diese Entscheidung des BayVerfGH (mit 6 zu 3 Stimmen ergangen) überzeugt inhaltlich nicht und ist ein Exempel dafür, dass auch nach vielen Jahrzehnten verfassungsrechtlicher Entwicklung zentrale Fragen der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit ungeklärt sind.
Streitentscheidend waren zwei Fragen: Hat das Land Bayern die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Miethöheregulierung? Und: Inwieweit kann der BayVerfGH über die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes befinden?
Vorgeschichte
Ende 2018 brachte der Berliner Verwaltungsjurist Peter Weber in einem JZ-Beitrag das Konzept der Miethöheregulierung auf Landesebene ins Spiel. Nachdem diese Idee in Berlin auf Interesse stieß, folgten die ersten rechtlichen Einschätzungen über die Verfassungsmäßigkeit landesrechtlicher Mietpreisbegrenzungen, darunter zwei Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom Februar und Juni 2019; darin stellte der Dienst apodiktisch fest, dass dem Land Berlin keine Gesetzgebungskompetenz für das Mietpreisrecht zukomme.
Das erste umfassendere Rechtsgutachten wurde im Frühjahr 2019 von den Professoren Franz Mayer und Markus Artz erstellt. Es folgten Gutachten von Hans-Jürgen Papier (2x), Ulrich Battis, Thorsten Kingreen, Fischer-Lescano/Gutmann/Schmid und Thomas Dünchheim. Die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz der Länder wurde überwiegend bejaht. Allein Papier und Dünchheim kommen zum Ergebnis, dass dem Land Berlin die Gesetzeskompetenz für den Mietendeckel fehlt. Konsultiert man daneben noch die Aufsatzliteratur und Blogbeiträge (hier, hier und hier) zum Thema, lässt sich auch im Schrifttum keine ablehnende Mehrheitsmeinung zuungunsten einer Länderkompetenz ausmachen. Auch die ersten Gerichtsentscheidungen zum Berliner Mietendeckel sind uneinheitlich: Einige erachten den Berliner Mietendeckel als insbesondere formell verfassungswidrig (LG Berlin v. 12.3.2020, Az. 67 S 274/19), andere hingegen als verfassungsmäßig (AG Berlin-Mitte v. 6.5.2020, Az. 123 C 5146/19).
Eine eindeutige Antwort auf die Kompetenzfrage gab es und gibt es nach wie vor nicht. Inzwischen sind beide Senate des BVerfG mit dem Berliner Mietendeckel befasst. Berichterstatter sind voraussichtlich Yvonne Ott (Erster Senat) und Peter Huber (Zweiter Senat).
Prüfungsmaßstab des BayVerfGH
Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit ist im Grunde nicht dazu berufen, über die Auslegung des Grundgesetzes zu entscheiden. Ihr Prüfungsmaßstab ist das Landesverfassungsrecht. Dies bedeutet aber nicht, dass sich Landesverfassungsgerichte gänzlich einer bundesverfassungsrechtlichen Prüfung enthalten müssen. Die Parallelität der Verfassungsräume von Bund und Ländern kann heute nur als komplementäre Aufgabenzuweisung verstanden werden: Primär für die Auslegung des Grundgesetzes ist das BVerfG zuständig; primär für die Auslegung des Landesverfassungsrechts die Landesverfassungsgerichte.
Der BayVerfGH verschafft sich in ständiger Rechtsprechung mit Hilfe des Rechtstaatsprinzips der Bayerischen Verfassung einen Kontrollzugriff auf die Vereinbarkeit von Akten der Landesstaatsgewalt mit dem Grundgesetz und bedient sich methodisch eines Offenkundigkeitskriteriums (Rn. 43).
Trotz dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabes kommt der BayVerfGH zu dem Schluss, dass der landesrechtliche Mietenstopp offenkundig gegen die bundesstaatliche Kompetenzordnung und damit gegen das Rechtsstaatsprinzip der Bayerischen Verfassung verstößt.
Offenkundigkeit. Dass es nicht aufgeht, wenn Gerichte etwas Nicht-Offenkundiges als offenkundig behaupten, konnte man vor einigen Wochen bereits in der PSPP-Entscheidung des BVerfG besichtigen. So auch hier.
Zunächst fällt auf, dass die Richtermehrheit an zentralen Stellen nicht argumentiert, sondern apodiktisch feststellt (Rn. 60ff.; 66; 68). Dies ist auf den eingeschränkten Prüfungsmaßstab zurückzuführen: Etwas Offenkundiges muss nicht ausführlich begründet werden, denn es ist ja offenkundig. Wäre das reasoning des BayVerfGH ausführlicher ausgefallen, wäre darin ein Widerspruch mit dem Offenkundigkeitskriterium zu sehen.
Offenkundigkeit bedeutet, dass es über eine Rechtsfrage nur eine vertretbare Meinung geben kann. Der Landesgesetzgeber hat keine Kompetenz, über den Sitz der Bundeshauptstadt zu befinden. Das ist offenkundig. Ist aber offenkundig, dass die Länder keine öffentlich-rechtliche Mietpreisregulierung einführen dürfen? Historisch lässt sich diese Annahme nicht halten. Öffentliches Mietpreisrecht flankierte nach dem Zweiten Weltkrieg stets das zivile Mietrecht.
Ferner spricht die intensive argumentative Auseinandersetzung im Schrifttum dafür, dass es gut vertretbar ist (und so zudem vielfach vertreten wird), dass eine Landeskompetenz besteht. Nicht zuletzt waren sich ja auch die Richter*innen des BayVerfGH uneinig: Das Urteil erging nicht einstimmig, sondern mit drei Gegenstimmen. Wäre der Kompetenzverstoß offenkundig, hätte er allen Richter*innen einleuchten müssen, da konsequenterweise jede andere Auslegung nicht mehr vertretbar, willkürlich oder evident verfassungswidrig wäre.
Selbst das BVerfG befand in einer Kammerentscheidung hinsichtlich des Berliner Mietendeckels, dass die Kompetenzfrage als offen zu bezeichnen sei. Der BayVerfGH hält diese Kammerentscheidung des BVerfG nicht für relevant (Rn. 81), da die Kammer ihre Aussage in Bezug auf das Berliner Modell, nicht hingegen das Bayerische Modell getroffen habe und beide Miethöheregulierungsmodelle strukturell verschieden seien. Natürlich schlägt sich die formelle Kompetenzzuweisung auch materiell-rechtlich nieder, da die Kompetenz nicht nur das „ob“, sondern auch die Reichweite eines Regelungsregimes bestimmt. Gleichwohl geht es bei der Zulässigkeit beider Modelle im Kern darum, ob den Ländern noch Spielräume zukommen, die der Bund auf Bundesebene mit der Mietpreisbremse nicht vollständig ausgeschöpft hat. Gerade dies ist die Frage, die das BVerfG nicht voreilig beantworten wollte, der BayVerfGH aber schon.
Gesetzgebungskompetenz
Der BayVerfGH ist der Ansicht, der Bundesgesetzgeber habe mit der Mietpreisbremse (§§ 556d ff. BGB) eine abschließende Regelung getroffen. Es sei „nicht ersichtlich“, dass der Bundesgesetzgeber den Ländern Regelungsspielräume im Bereich des Miethöherechts überlassen wollte (Rn. 62). Diese Auslegung wird teilweise auch im Schrifttum vertreten.
Vor dem Hintergrund des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs überzeugt es aber nicht, diese Auslegung als einzig vertretbar darzustellen, da „beachtliche“ Argumente bestehen, dass der Gesetzesentwurf des Volksbegehrens mit Bundesrecht vereinbar sein könnte (Sondervotum Rn. 90, 93, 95, 98).
Die Annahme einer Sperrwirkung durch den BayVerfGH ist zudem problematisch, weil die Richtermehrheit als Nachweis nicht die Gesetzgebungsmaterialien zur Mietpreisbremse vorbringt, sondern auf zwei Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, also eine Literaturansicht, rekurriert.
Zudem genügt ein „nicht ersichtlich“ nicht für die Bejahung einer Sperrwirkung. Der Bundesgesetzgeber ist im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung gerade in der Pflicht, darzulegen, ob eine abschließende Regelung seitens des Bundesgesetzgebers getroffen wurde. Der Bundesgesetzgeber zieht nämlich die zugunsten der Länder vermuteten Kompetenzen an sich und verhindert so ein Tätigwerden der im Grundsatz berechtigten Länder. Geht insofern aus einem Bundesgesetz nicht zweifellos hervor, dass dieses abschließend ist, steht der Bundesgesetzgeber in der Pflicht, einen entsprechenden Beweis zu liefern.
Der BayVerfGH ist zudem – zutreffenderweise – der Ansicht, dass die Länder nicht dazu befugt sind, kompetenzgemäß getroffene Entscheidungen des Bundesgesetzgebers „nachzubessern“ (Rn. 60).
Damit wird aber das Verhältnis zwischen der bundesrechtlichen Mietpreisbremse und dem landesrechtlichem Mietenstopp nicht zutreffend beschrieben. Eine Nachbesserung der bundesrechtlichen Mietpreisbremse würde nämlich bedeuten, dass der Landesgesetzgeber Vorschriften erließe, die das Äquivalenzinteresse der Mietvertragsparteien adressierten (vgl. BT-Drs. 18/3121, S. 14).
Darum geht es bei landesrechtlichen Miethöheregelungen indessen gerade nicht. Sie adressieren ein Marktversagen, das zwar durchaus aber nicht nur auf unbillige Mietvertragsabsprachen rückführbar sein kann. Die wohl wichtigste Ursache für das Marktversagen ist der defizitäre Wohnraumbestand. Der aktuelle Mietpreismarkt kann nur durch den Ausgleich von Angebot und Nachfrage im Wege des Wohnungsbaus beruhigt werden. Die Mietpreisbremse adressiert diesen Umstand nicht, ein Mietenstopp für mehrere Jahre hingegen schon: Er hat zum Ziel, den Marktakteuren die Zeit zu verschaffen, das Wohnungsbaudefizit zu beheben und Angebot und Nachfrage wieder ins Verhältnis zu bringen. Die vertraglichen Interessen Privater spielen nur eine Nebenrolle.
Es geht also nicht um rechtliche Nachbesserung, sondern um rechtliche Flankierung. Rechtlich nachgebessert hat der Bundesgesetzgeber die Mietpreisbremse jüngst selbst, was vom BayVerfGH konzediert wird (Rn. 63).
Auch die Annahme, der maßgebliche Unterschied zwischen Mietpreisbremse und Mietenstopp liege in der Höhe der zulässigen Miete, überzeugt nicht (Rn. 74).
Der öffentlich-rechtlich ausgestaltete Mietenstopp ist eine umfassendere Konzeption mit Regeln, die von der Mietpreisbremse nicht nur funktional, sondern auch konzeptionell abweichen. So muss die Festsetzung oder Erhöhung eines Mietzinses nach dem Mietenstopp immer gegenüber dem im Einzelfall gegenläufigen öffentlichen Interesse an angemessenen Mietpreisen gerechtfertigt werden.
Zudem wird die Verantwortung für den Marktverlauf beim Mietenstopp vom Land übernommen und nicht der freien marktwirtschaftlichen Entwicklung überlassen. Die Durchsetzung eines angemessenen Mietpreises erfolgt im öffentlichen Interesse, um ein Marktversagen zu korrigieren. Dies geschieht durch ein verwaltungsrechtliches Verfahren, welches rechtsstaatlichen Prinzipien folgen muss, und insofern von privaten Marktregulierung abweicht, die sich an Opportunitätserwägungen und dem Primat des eigenen Vorteils orientiert.
Schutzgut des Mietenstopps ist nicht zuletzt der Mietpreismarkt. Dieser soll Mietzinsvereinbarungen schützen, die der Gesetzgeber für unangemessen hält. Die Mietvertragsparteien werden so als Teil einer Solidargemeinschaft betrachtet, die zum Zwecke des Allgemeinwohls von der Vereinbarung von hohen Mietzinsvereinbarungen für eine festgelegte Dauer absehen.
Daraus ergeben sich auch Rückwirkungen auf die Mietpreisbremse. Mittelbar wird die Privatautonomie beschränkt. Andererseits wird die Wirkung der bundesrechtlichen Mietpreisbremse effektuiert: Wenn die ortsübliche Vergleichsmiete sinkt, dann trägt dies auch dem Anliegen des sozialen Mietrechts Rechnung. Flankierung eben. Insofern liegt dem Mietenstopp – anders als die Richtermehrheit meint (Rn. 72 ff.) – sehr wohl ein öffentlich-rechtliches Gesamtkonzept zu Grunde.
Vorlagepflicht zum BVerfG?
Über die Fragen der konkreten Gesetzgebungskompetenztitel hinaus lässt sich in diesem Verfahren ein weiterer interessanter Aspekt föderaler Verfassungsinteraktion nachzeichnen. Hier legt ein Verfassungsgericht eines Landes die föderale Kompetenzordnung aus, wie sie in der Bundesverfassung niedergelegt ist, und nimmt insofern die Funktion der bedeutungsfindenden Normkonkretisierung wahr, welche immer auch gewisse schöpferische Elemente enthält und im Rechtsstaat vorrangig der Judikative zugewiesen ist. Welcher Judikative jedoch?
Das Grundgesetz regelt die judikative Aufgabenteilung hinsichtlich seiner Auslegung maßgeblich in Art. 100 Abs. 3 GG. Danach hat ein Landesverfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen, wenn es bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes abweichen will.
Zwar sind die Verfassungsgerichte der Länder somit im Grundsatz zur Auslegung des Grundgesetzes befugt, die Reichweite dieser Auslegungskompetenz wird aber dadurch begrenzt, dass bei Auslegungsdivergenzen die Letztentscheidung dem BVerfG zugewiesen ist. Vor dem Hintergrund dieser Aufgabenverteilung reduziert der BayVerfGH seinen Kontrollmaßstab bei der Auslegung des Grundgesetzes auf offenkundige Verstöße. Diese Beschränkung auf einen Offenkundigkeitsmaßstab fügt sich in das System der föderalen Aufgabenverteilung insoweit ein, als sie eine Entscheidung auf Grund von Normen des Grundgesetzes nur dann ermöglicht, wenn eine abweichende Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht als von vornherein ausgeschlossen erscheint.
Die Beschränkung auf einen Offenkundigkeitsmaßstab lässt sich aber auch aus den Besonderheiten des Verfahrens nach Art. 64 LWG ableiten. In diesem wird ein im Rahmen der Volksgesetzgebung vorgelegter Gesetzesentwurf kontrolliert. Trotz der grundsätzlichen Gleichrangigkeit von Volksgesetzgebung und Parlamentsgesetzgebung im Freistaat Bayern unterliegt nur der Volksgesetzgeber einer solchen Präventivkontrolle. Deshalb sollte die verfassungsgerichtliche Präventivkontrolle der Volksgesetzgebung inhaltlich nicht überspannt werden (Rn. 104, Sondervotum).
Zudem hat der BayVerfGH nach Art. 64 Abs. 2 S. 2 LWG spätestens drei Monate nach Anrufung durch das Innenministerium zu entscheiden. Konzeptionell kann man das Verfahren dementsprechend als verfassungsgerichtliches Eilverfahren auffassen. Solche sind aber nicht darauf ausgelegt, grundlegende Verfassungsrechtsfragen zu entscheiden.
Hätte der BayVerfGH folglich gemäß Art. 100 Abs. 3 GG das BVerfG anrufen müssen, weil dieses in seiner Kammerentscheidung hinsichtlich des Berliner befunden hat, dass die Kompetenzfrage als offen zu bezeichnen sei – wenngleich auch in einem Eilverfahren?
Ob und inwieweit Aussagen einer Kammer im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes eine Vorlagepflicht auslösen können, ist in der Praxis unklar und im Schrifttum umstritten. Dafür spricht, dass auch in solchen Verfahren verfassungsrechtliche Aussagen von Bedeutung getroffen werden können. Dagegen spricht jedoch, dass Eilverfahren zumindest eben strukturell nicht darauf ausgelegt sind, Schauplatz tragender Verfassungsinterpretationen zu sein.
Dass letzteres Argument in Bezug auf beide Verfahren in die Diskussion eingeführt werden kann, veranschaulicht, dass die Verfahren nach Art. 64 LWG und § 32 BVerfGG sich konzeptionell gleichen. Sie sind verfassungsgerichtliche Verfahren unter Zeitdruck mit begrenztem Prüfungsmaßstab, die nicht auf die endgültige Klärung von Rechtsfragen ausgelegt sind.
Selbst wenn man annimmt, dass in Verfahren des Eilrechtsschutzes keine für Art. 100 Abs. 3 GG relevanten Auslegungen des GG getroffen werden, so müssen „Eilverfahrensaussagen“ zumindest in strukturell ähnlichen Verfahren wie dem des Art. 64 LWG berücksichtigt werden. In beiden Verfahren ist gefragt worden, ob eine Landeskompetenz für Mietpreisregulierung offenkundig nicht besteht, und das BVerfG hat geantwortet, dass diese Frage als offen bezeichnet werden muss. Wenn das BVerfG genau die Frage, die sich im landesverfassungsgerichtlichen Verfahren stellt, bereits beantwortet hat, dann muss dies für Art. 100 Abs. 3 GG relevant sein. Das ist die Rechtseinheit, die Art. 100 Abs. 3 GG bei der Auslegung des Grundgesetzes sicherstellen soll.
Mit Blick auf die 3-Monatsfrist aus Art. 64 Abs. 2 S. 2 LWG hätte dem BayVerfGH auch im Rahmen des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 3 GG offen gestanden, einen Eilantrag nach § 32 BVerfGG zu stellen.
Insgesamt ergibt sich, dass der BayVerfGH aus Art. 100 Abs. 3 GG verpflichtet war, die Kompetenzfrage bezüglich einer landesrechtlichen Mietpreisregulierung dem BVerfG zur Entscheidung vorzulegen.
Schluss
Die Richtermehrheit hat mit ihrer Entscheidung argumentativ nicht überzeugt und inhaltlich die Präventivkontrolle von Volksgesetzgebung überspannt. Die Entscheidung ist zudem Beispiel dafür, dass die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit weiterer Konturierung bedarf.
Am Beitrag fällt eine gewisse Divergenz auf: Zu Beginn heißt es, die Auslegung des GG sei primär dem BVerfG vorbehalten, die Auslegung von Landesverfassungsrecht den LVerfG. Im letzten Abschnitt heißt es dann, die LVerfG seien zur Auslegung des Grundgesetzes befugt, die Reicheweite dieser Auslegungskompetenz sei aber begrenzt.
Ob der Unterschied gewollt ist, kann dahinstehen. Denn es ist beides schlicht unzutreffend. Ein LVerfG ist ein Gericht im Sinne der Art. 20 III; 92; 97 I. Die Besonderheiten entstehen nur durch den eigenen Verfassungsraum und weil das Tätigkeitsfeld eines LVerfG deshalb in großerem Umfang durch Landesrecht ohne besondere Rücksicht auf die Gerichtsverfassung des Bundes ausgeformt werden kann. Wenn aber das Landesrecht die Zuständigkeit des LVerfG verfassungsgemäß begründet hat, dann ist es in diesem Umfang ein ganz normales Gericht. Es ist dann bei der Auslegung von Recht nicht anders begrenzt, wie jedes andere Gericht. Dass ein Landgericht nicht zur Entscheidung über einen Abgabenbescheid berufen ist, bedeutet nicht, dass ihm die Auslegung der AO verwehrt wäre. Wenn es darauf ankommt und das Landgericht die Auslegung verweigert, verletzt es seine Amtspflicht. Und so geht es auch den LVerfG:
Es dürfte kaum Zweifel bestehen, dass ein LVerfG den Vorgaben des GG aus Art. 20 III GG unterworfen ist, weil es staatliche Gewalt ausübt. Auch wer meint, dass dies nicht unmittelbar aus Art. 97 I GG folgt, wird diese Wirkung spätestens über Art. 28 III GG nicht verneinen können. Andernfalls wäre Art. 28 GG so zu verstehen, dass mit Schaffung der Verfassungsräume der Länder in den LVerfG eine Art Exklave des Rechtsstaats entsteht. Es wäre einzigartig und mit Art. 28 III GG nicht zu vereinbaren.
Wenn die LVerfG dem unterfallen, dann kann kein Zweifel bestehen, dass sie das Grundgesetz auslegen müssen (nicht nur: dürfen!). Im Hinblick auf die Kompetenz folgt dies schon daraus, dass die Landeskompetenz nur in Abhängigkeit zur Bundeskompetenz entwickelt werden kann. Aber auch im Übrigen muss das gesamte Bundesrecht angewandt werden, schon um dem Art. 31 GG Genüge zu tun. Und ein LVerfG kann auch selbst Grundrechte verletzten. (ZB Art. 101 I 2 GG, aber auch Art. 38 GG i.V.m. Art. 28 III GG ist gut denkbar.)
Dazu fügt sich die Auffassung im Sondervotum (RZ 89), wonach der VerfGH nicht zur “verbindlichen Auslegung” des Grundgesetz berufen sei. Auch das verkennt, dass dieser Rechtsordnung der Begriff “verbindliche Auslegung” fremd ist. Selbst Art. 100 I-III GG geben nicht vor, dass eine Auslegung des GG durch das BVerfG zwingend ist. Art. 100 I GG entzieht den anderen Gerichten nur die Verwerfungskompetenz. Ob Art. 100 II und III GG den anderen Gerichten wirklich die Entscheidungskompetenz nehmen sollen oder die Entscheidungen ohne Vorlage nur fehlerhaft machen, lässt sich so oder so sehen. Den Normen liegt aber gerade die Aussage zu Grunde, dass ein Gericht nicht absolut an die Auffassung des BVerfG gebunden sein kann. Art. 97 I GG gebietet hier gerade, dass jede/r Richter/in die Auffassung des BVerfG prüft und verbietet es, eine fremde Auffassung ungeprüft zu übernehmen. Ein Gericht, dass trotz vom BVerfG abweichender Auffassung den Art. 100 (I-III) GG nicht nutzt und nur die Auffassung des BVerfG zu Grunde legt, fehlt die innere Resilienz, die für das Amt notwendig ist. Insoweit ist es – abseits der engen Bindung des § 31 I BVerfGG und für Gerichte, die nicht LVerfG sind – sogar zwingend, eine Entscheidung zu treffen, die dem BVerfG widerspricht, soweit diese Überzeugung auf methodisch vertretbarem Wege gefunden wurde. Davon zu trennen ist natürlich die Frage, ob es sinnvoll ist, die eigene Auffassung nicht aufgrund der Auffassung des BVerfG zu überdenken. Wenn aber Art. 100 III GG nicht eingreift, dann ist jedes Gericht eines Landes frei, das Grundgesetz so auszulegen, wie es ihm (methodisch vertretbar) beliebt. Ob Art. 100 III GG deshalb nicht greift, weil das Gericht kein LVerfG ist oder das LVerfG den ersten Zugriff auf die Rechtsfrage hat, ist dabei gleichgültig. Das erstbefasste LVerfG kann sich dann nicht hinter dem BVerfG verstecken: Es muss entscheiden und die Verantwortung tragen.
Die Forderung, nun nach Art. 100 III vorzulegen, kann daher allein dann durchgreifen, wenn es wirklich eine abweichende Rechtsprechung des BVerfG gäbe (anderes LVerfG mal außen vor). Dann hätte das LVerfG mit der Entscheidung praktisch zwangsläufig Art. 101 I 2 GG verletzt.
Das ist aber nicht der Fall und hierzu ist der Artikel unbrauchbar. Dass in 1 BvQ 15/20 eine abweichende Rechtsprechung enthalten ist, ist aus vielerlei Gründen des Verfassungsprozessrechts so nicht mehr vertretbar. (Und m.E. ist diese Auffasung auch generell nicht mehr vertretbar zu begründen). Eine Auseinandersetzung zu der (sehr umfangreichen und über Jahrzehnte geformten) Rechtsprechung des BVerfG zu diesem Komplex findet im Beitrag nicht statt, sodass auch hier nicht mehr der Ort dazu ist.
Die Auffassung des VerfGH, dass generell keine Gesetzgebungskompetenz besteht, teile auch ich nicht. Der Vorwurf, dass die Auffassung unvertretbar sei, lässt sich dem VerfGH aber nicht machen. Die Entscheidung des VerfGH wird dadurch aber darauf heruntergekocht, wie der Begriff “offenkundig” zu verstehen ist. Das ist dann eine rein bayrische Angelegenheit, für die das GG die “Infrastuktur” bereithält, für dessen Auslegung der VerfGH vom GG aber nur wenige Vorgaben enthält. Dass die Verf. hier eine andere Ansicht haben, ist eben nicht mehr als eine andere Ansicht.
Diese Entscheidung ist auch kaum ein Beispiel für die fehlende Abstimmung der Verfassungsräume. Die Konstellation entsteht hier nur, da das LVerfG ohne bestehendes Gesetz entscheiden muss. Sonst wäre Art. 100 I 2 Var. 2 GG einschlägig. Gegen die Entscheidung des VerfGH steht zudem die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung und es gibt auch etwaige Beschwerdeführer. Die Problemfälle sind dort, wo es keine Möglichkeit zum Rechtsschutz gegen ein übergriffiges LVerfG gibt oder niemanden, der den Rechtsschutz suchen würde.
Schlussbemerkung: Die Verbindung der Verf. zum Gutachtenersteller Mayer wird dem Leser nicht sofort ersichtlich. Es drängt sich in dieser Konstellation doch auf, den Beitrag mit einer Erklärung zur wirtschaftlichen Abhängigkeit zu beenden, sei es nur um diese zu verneinen.
Vielen Dank für Ihren sehr ausführlichen Kommentar.
Das ist so nicht richtig: Wenn die Rede davon ist, dass ein LVerfG primär für die Auslegung des LVerfRechts zuständig ist, dann ist damit nicht gleichzeitig die Aussage verbunden, dass es nicht über die Auslegung des GG befinden darf. Die Auslegungskompetenz ist nur eine sekundäre, die in ihrem Umfang und ihrer Verbindlichkeit nur begrenzt sein kann.
Ich empfehle Ihnen zu dieser Anmerkung die Lektüre des § 31 BVerfGG.
Die Vorlagefrage ist einer Verletzung von Art. 101 I 2 GG vorgelagert. Die Frage, ob eine Kammerentscheidung eine Vorlagepflicht nach Art. 100 III GG auslösen kann, lässt der Beitrag offen. Wir führen ausdrücklich aus, dass diese Frage im Schrifttum umstritten ist. Wenn Sie nun unterstellen, es gebe Rechtsprechung dazu, dann bitte ich Sie um einen Nachweis. Die Kommentierungen geben für eine solche eindeutige Rechtslage nichts her.
Aus diesem Grund machen wir hier einen Auslegungsvorschlag für den Fall eines Eilverfahrens – soweit der Umfang eines Blogbeitrages dies auch zulässt ;)
Richtig, wegen eines möglichen Verstoßes gegegen Art. 101 I 2GG. Dies setzt aber voraus, dass der BayVerfGH zu einer Vorlage verpflichtet war ;)
Kein Kommentar.
Leider wurden einige Teile meiner Antwort nicht übernommen. Hier ergänzend zur Orientierung:
1. Absatz bezieht sich auf die Kritik, der Beitrag weise Widersprüche auf.
2. Absatz bezieht sich auf die Anmerkung, die Rechtsordnung kenne keine “verbindliche Auslegung”.
3. Letzter Absatz bezieht sich auf den Hinweis, die Einreichung einer Verfassungsbeschwerde sei möglich.
und “kein Kommentar” bezieht sich auf die Schlussbemerkung.
Der Hinweis auf die Rechtsprechung bezog sich nicht auf solche zu den Artt. 70 ff., sondern auf solche zu Art. 100 (insb. I, weniger (aber auch) III) GG und § 80 I, II 1 BVerfGG. Damit der VerfGH überhaupt eine zulässige Vorlage, die an 1 BvQ 15/20 anknüpft, hätte fassen können, hätte das BVerfG in großem Umfang Rechtsprechung aufgeben müssen.
Und insoweit ist ihr Lesehinweis zu § 31 BVerfGG unbehelflich.
Denn es fehlt jede Darlegung, warum 1 BvQ 15/20 eine Bindung auslösen können sollte. Ein “Offenlassen” löst keine Bindung aus und die (zumindest ablehnende) BvQ-Entscheidung ebenfalls nicht. Selbst wenn sie über die prozessuale Handhabe eine (wie auch immer geformte) Bindung fordern wollen, müssten Sie darauf eingehen, dass BvQ ein (echtes) Eilverfahren ist, das Verfahren vor dem VerfGH aber eine Hauptsache, die (“nur”) beschleunigt geführt wird. Zudem erscheint auch begründungsbedürftig, wie sich der Unterschied auswirkt, dass das bayrische Verfahren kein Gesetz zum Gegenstand hat, sondern ein Gesetzgebungsverfahren. (Bei diesem Punkt sehe ich es aber wie wohl auch Sie, wonach das im Ergebnis keinen Unterschied machen darf.)
Dass das Verständnis des § 31 I (nicht: II) BVerfGG, wonach die Norm mehr als nur die Erstreckung der materielle Rechtskraft einer Entscheidung im Bezug auf den konkreten Verfahrensgegenstand (!) auf die gesamte öffentliche Gewalt beschreibt, nicht der Weisheit letzter Schluss und verfassungsrechtlich nicht wirklich haltbar ist, war gerade Inhalt der Anmerkung. Das BVerfG bekennt sich – soweit mir bekannt – jedenfalls seit Jahrzehnten nicht mehr zu dieser Auffassung. Aus der Literatur ist mir keine tragfähige Begründung bekannt, wie dieses Verständnis verfassungskonform sein könnte. Die Auffassung unter Bezug auf Art. 94 II 1 Var. 2 GG zu rechtfertigen, macht § 31 II BVerfGG sinnlos. Dass dann jede Entscheidung des BVerfG Gesetzeskraft haben müsste, wäre a) praktisch nicht mehr handhabbar, b) weder vom einfachen Gesetzgeber, noch vom Verfassungsgeber gewollt und würde c) effektiv bedeuten, dass das Grundgesetz mit einem eigenartigen Originalismus, der sich auf den Zeitpunkt der Erstbefassung des BVerfG bezieht, verstanden werden müsste. Oder glauben Sie, dass das BVerfG eine Gerichtsentscheidung nur deshalb aufhebt, weil sie sich ausdrücklich über irgendwelche Auffassungen des BVerfG aus den 50er Jahren hinwegsetzt, selbst wenn die Entscheidung mit einem heutigen Verfassungsverständnis in Einklang zu bringen ist? Ich glaube das nicht.
Das ist aber nur erläuternde Anmerkung gewesen. Art. 100 III GG ist ja eindeutig, dass eine Vorlagepflicht für ein LVerfG bei Abweichung besteht, egal wie § 31 I BVerfGG zu verstehen ist. Zu diesem Punkt kommt der Beitrag aber nicht, weil schon die Auslösung einer Vorlagepflicht durch 1 BvQ 15/20 nur behauptet, aber nicht begründet wird.
Die Möglichkeit, eine zulässige Verfassungsbeschwerde zu erheben, ist gerade nicht davon abhängig, dass der VerfGH seine Vorlagepflicht tatsächlich verletzt hat. Das ist Frage der Begründetheit.
Zur Schlussbemerkung: Souveränität spricht daraus nicht. Es ist rein gar nichts daran auszusetzen, dass Inhalt zweifach verwertet wird oder eine wirtschaftliche Abhängigkeit besteht. Es geht allein um die Transparenz.
Was bei dem Thema insgesamt verwundert, ist die Tatsache, dass es hier noch keiner mit dem Regelungstitel ,, Verteilung von Grund und Boden” versucht hat.
Seit der Föderalismusreform kann hier ausdrücklich von Bundesrecht abgewichen werden, bzw. ist ausweislich Fundstellennachweis A das Themenfeld bundesrechtlich ohnehin vakant.
Darunter dürfte jedoch nicht nur die Frage, ,,An wen?”, sondern auch, ,,Auf welche Weise?”, fallen.
Möglich wäre danach (sehr verkürzt dargestellt) eine Definierung, dass eine “Weiterverteilung” von für Wohnzwecke bestimmtem Grund und Boden im Wege der Vermietung nicht nach dem Prinzip des Höchstbietenden erfolgen darf, sondern sich ein Eigentümer, oder sonstig Verfügungsberechtigter sich ausdrücklich nach sozialen Aspekten (wer hat die Wohnung am nötigsten) zu richten habe:
Zur Verwirklichung dieses Prinzips, würde dann für “Wohnraummangel-Gebiete” festgelegt, dass diese “Weiterverteilung” an Niemanden erfolgen darf, der bereit ist einen höheren, als den gesetzlich festgelegten Mietzins bezahlen (etwas abweichende Formulierungen wären auch denkbar).
Gleichzeitig könnte man eine Umwandlung in ETWs verhindern, indem man die “Weiterverteilung” von Eigentum(s_teilen) stark einschränkt, sowie einem mutwilligen “leer-stehen-lassen” entgegen wirken, indem man (außer bei selbstbewohnenden Eigentümern im selben Hause) eine “Pflicht zur Weiterverteilung im Wege der Vermietung oder Verleihung” einführt.
Wie gesagt, hier nur sehr grob umrissen, wäre das zumindest einen Versuch wert.
Tatsächlich dachte ich zunächst, die Berliner Gesetzgebung würde sich auf genau diesen Titel beziehen und wundere mich, warum man sich auf verfassungstechnisch heikleres Niveau begeben hat.