28 September 2015

Ohrfeige im Polizeigewahrsam: Menschenwürde kennt keine Bagatellgrenze

Es ist so lange nicht her, dass der Schlag ins Gesicht des Gegenübers eine wenn schon nicht übliche, so doch im Großen und Ganzen sozial akzeptierte und respektierte Sache war. Mit einer Ohrfeige stellt die Frau ihre Ehre, mit einem Fausthieb der Mann seine Männlichkeit, und mit einem ganzen Assortissement aus Klapsen, Nasenstübern, Watschen, Kopfnüssen und weißgottnichtallem alle beide ihre Autorität gegenüber aufmüpfigen Kindern wieder her. Immer ins Gesicht musste es jedenfalls gehen, aus dem der Geschlagene gerade noch so unverschämt und rotzfrech herausgeschaut hat, anstatt, wie es sich gehört, die Augen schamvoll zu Boden zu richten. Das ist zwar heute umfassend verboten, aber wenn die Frechheit nur groß genug ist, sind wir auch heute nicht gefeit davor, das schon mal ganz in Ordnung oder zumindest verständlich zu finden, wenn da jemandem “die Hand ausrutscht”.

Dieser Art von klammheimlichem Verständnis hat heute die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs, zumindest was die Polizei betrifft, ein klares Ende bereitet.

Der Fall spielt in Saint-Josse-ten-Noode, einem der härtesten Kieze von Brüssel in fußläufiger Entfernung vom Europaviertel und Heimat der Familie Bouyid. Diese Familie lag seit Jahren in Konflikt mit der örtlichen Polizei, die sich wechselseitig allerhand Übertretungen und Übergriffe beschuldigten. Zwei ihrer Söhne fanden sich schließlich auf der Polizeiwache wieder. Was dort genau geschah, ist strittig, aber offenbar haben sie sich dort recht rotzig aufgeführt, woraufhin die Dienst habenden Polizisten sie jeweils mit einer Ohrfeige ruhig zu stellen versuchten.

Ist das ein Verstoß gegen das Verbot von erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK)? Ach woher denn, fand vor knapp zwei Jahren die 5. Kammer des EGMR, und zwar einstimmig. Zwar sei unnötige physische Gewalt gegenüber Gefangenen prinzipiell immer eine Verletzung von Art. 3, aber nur, wenn sie ein “Mindestmaß an Härte” (“a minimum level of severity”) überschreitet. Die Ohrfeigen für die Gebrüder Bouyid seien zwar furchtbar unprofessionell und ethisch und disziplinarisch unakzeptabel, aber eine Menschenrechtsverletzung? Also bitte. In einer so aufgeheizten Situation, das kann man doch irgendwie verstehen.

Das sieht jetzt die Große Kammer (mit drei Gegenstimmen, darunter der Belgier Paul Lemmens und der Brite Paul Mahoney) doch entschieden anders. Das “Mindestmaß an Härte” sieht die Große Kammer hier sehr wohl erreicht. Denn hier geht es um die Menschenwürde, und wenn Polizisten die Würde von Menschen, die sich in ihrem Gewahrsam befinden, antasten, dann sei dies immer eine Verletzung von Art. 3.

Es geht um Schläge ins Gesicht, und das bietet dem Gerichtshof Gelegenheit, seine in dem (von mir wenig geliebten) Burka-Urteil aufgestellte Gesichts-Philosophie weiterzuentwickeln:

A slap has a considerable impact on the person receiving it. A slap to the face affects the part of the person’s body which expresses his individuality, manifests his social identity and constitutes the centre of his senses – sight, speech and hearing – which are used for communication with others.

Anders als die Kammer zuvor hält die Große Kammer die Tatsache, dass die Polizisten sich durch das aufmüpfige Gebaren der Brüder Bouyid hatten provozieren lassen, für keine valide Entschuldigung:

… even under the most difficult circumstances, the Convention prohibits in absolute terms torture and inhuman or degrading treatment or punishment, irrespective of the conduct of the person concerned (…). In a democratic society ill-treatment is never an appropriate response to problems facing the authorities.

Mir scheint, alles andere wäre eines Menschenrechts-Gerichtshofs unwürdig.

Kein Zweifel: mit dem individuellen Polizisten, der in Sint-Josse jeden Tag den Gesetzhüter machen soll, möchte ich nicht tauschen. Das ist sicher ein harter Job, dem ich nicht gewachsen wäre. Ich kann auch nicht beurteilen, ob es nicht jenseits von strukturellem Rassismus vielleicht handfeste Gründe gegeben hat, den 17-jährigen Said Bouyid, nur weil er seine Schlüssel vergessen hat und an seiner eigenen Haustür klingelt, einer Identitätskontrolle zu unterziehen und ihn, weil er sich nicht ausweisen kann, umgehend auf die Wache zu schleppen. Ich weiß auch nicht, mit welchen Worten er gegen seine Verhaftung protestiert hat, vielleicht hat er ganz fiese Schimpfwörter benutzt, die sich so ein rechter belgischer Polizist von einem mageren arabischen Teenager nicht gefallen lässt.

Mag alles sein.

Aber es geht nicht um den individuellen belgischen Polizisten. Es geht um die belgische Polizei. Es geht darum, ob man in Belgien davor sicher sein kann, in Polizeigewahrsam gedemütigt zu werden. Und was das “minimum level of severity” betrifft: wie doll das weh tut, was die Polizisten machen, ist überhaupt nicht der Punkt. Und wenn sie mich nur mit dem Zeigefinger in den Bauch pieksen: In dem Moment, wo sie das mit mir als ihrem Gefangenen machen, den sie festgenommen und buchstäblich in ihrer Gewalt haben, just because they can, ist die Schwelle zur Menschenwürdeverletzung überschritten.

Schläge ins Gesicht sind dazu da, zu demütigen, eine vermeintliche Ehrverletzung oder Herabwürdigung in gleicher Münze zu vergelten. Wenn Polizisten, nur weil sie sich von meinem Mangel an Ehrerbietung provoziert fühlen, das mit mir machen dürfen, dann hat der Menschenwürdeschutz in Europa ein Loch. Das hat die Große Kammer mit ihrer heutigen Entscheidung erkannt, und dafür gebührt ihr großes Lob.

Update 20.2.2016: Das Urteil Bouyid v. Belgien ist soeben von den Leser_innen des Blogs Stasbourg Observers zum besten EGMR-Urteil des Jahres 2015 gewählt worden.


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