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07 October 2021

Verletzung von Schutzpflichten durch die Bundesrepublik in Afghanistan?

Verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Implikationen im Fall der Beendigung einer militärischen Intervention

Der Abzug ausländischer Streitkräfte aus Afghanistan fast 20 Jahre nach der durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ausgelösten militärischen Intervention im Rahmen der sogenannten Operation Enduring Freedom löste dramatische Entwicklungen aus. Denn fast zeitgleich zur Ankündigung und Durchführung des Truppenabzugs nahmen die Taliban innerhalb kürzester Zeit große Teile Afghanistans ein und brachten das Staatsgebiet weitgehend ohne militärische Auseinandersetzung unter ihre Kontrolle. Zahlreiche Menschen, darunter Entwicklungshelfer:innen, Ortskräfte, Lehrkräfte, Medienvertreter:innen und viele andere, sahen und sehen sich durch die Herrschaft der Taliban Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Sie fürchten um ihre freiheitliche Lebensweise. Mit Blick auf den Abzug von Angehörigen der Bundeswehr stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland verfassungs- und völkerrechtlichen Schutzpflichten zugunsten bestimmter gefährdeter Personen unterworfen war und ist – und zwar nicht nur im Hinblick auf eigene Staatsangehörige, sondern auch zugunsten weiterer Personen, auch über die eng umgrenzte Gruppe der sogenannten Ortskräfte hinaus. In Anbetracht der Gefahrensituation versuchte die Bundesregierung durch Notevakuierungsmissionen, Ortskräfte sowie – neben Staatsangehörigen aus Deutschland und weiteren Ländern des globalen Nordens – besonders gefährdete Personen über den Flughafen Kabul außer Landes zu bringen. Den kurzfristigen Evakuierungen ging eine unzutreffende Lageeinschätzung der beteiligten Staaten voraus. Deshalb musste die Ausreise entgegen der ursprünglichen Planung statt über mehrere Monate hinweg innerhalb weniger Tage erfolgen. Viele Menschen konnten nicht mehr rechtzeitig ausreisen und sind nun möglicherweise Racheakten der Taliban, aber auch freiheitsverletzender Repression ausgeliefert.

Die Frage nach der Verantwortung für die entstandene Situation und für die Folgen des überstürzten und teilweise chaotischen Truppenabzugs wurde deshalb in den vergangenen Wochen intensiv aufgeworfen und kontrovers diskutiert. Neben der politischen stellt sich die Frage nach der rechtlichen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland. Ausgehend von der Grundrechtsbindung im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik analysieren wir die Anforderungen von grundrechtlichen Schutzpflichten und ihre Überformung durch das Völkerrecht im Fall der Beendigung einer militärischen Intervention. Dabei greifen wir auch die völkerrechtliche Schutzverantwortung und die humanitär-völkerrechtliche Pflicht zur Hilfeleistung auf. Wir kommen zu dem Zwischenergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland ihren grundrechtlichen Schutzpflichten – vor allem jener des Lebensschutzes gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG – und völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht in vollem Umfang nachgekommen ist. Es sind – so unsere vorläufige Analyse – verfassungs- und völkerrechtliche Pflichten verletzt worden.

Grundrechtsbindung in extraterritorialen Konstellationen und Bestehen einer Schutzpflicht

Ausgangspunkt ist die aus Art. 1 Abs. 3 GG resultierende umfassende Grundrechtsbindung der durch das Grundgesetz konstituierten deutschen Hoheitsgewalt. Diese ist von den konkreten grundrechtlichen Anforderungen im Einzelfall zu unterscheiden. Die Grundrechtsbindung besteht unabhängig von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse. In seinem BND-Urteil aus dem Jahr 2020 hat das BVerfG klargestellt, dass die Grundrechtsbindung auch bei extraterritorialen Sachverhalten keinen Relativierungen unterliegt. Das Gericht signalisiert, partiell bekräftigt durch den „Klima-Beschluss“ aus diesem Jahr, dass dies prinzipiell auch für die Schutzpflichtdimension der Grundrechte gilt, auch wenn hinsichtlich der konkreten grundrechtlichen Anforderungen graduell abgestuft werden müsse. Zwar muss prinzipiell ein Bezug zur deutschen Hoheitsgewalt bestehen, jedoch ist grundsätzlich weder für die Grundrechtsbindung noch für die Entstehung einer Schutzpflicht ein besonders qualifizierter Bezug zum deutschen Staat erforderlich. Dabei kommt es weder auf das Vorliegen einer deutschen Staatsangehörigkeit noch auf die Personalhoheit der deutschen Staatsgewalt an, wie noch von älteren Schutzpflichtlehren teilweise gefordert. Die Grundrechte binden die deutschen Entscheidungsträger auch im Ausland gegenüber ausländischen Staatsangehörigen. Sie greifen auch zugunsten Betroffener in Afghanistan. Weitergehend wird teilweise, wie zuletzt durch das BVerwG in seinem Urteil zu US-Drohnenangriffen mittels der Ramstein Air Base, das einschränkende Kriterium einer politischen Entscheidungsverantwortung der deutschen Staatsgewalt als notwendige Voraussetzung für die Grundrechtsbindung gefordert. Dieses Kriterium ist unserer Auffassung nach dogmatisch unzutreffend, im vorliegenden Fall aber erfüllt – und zwar jedenfalls durch ein Mitverursachen der Gefahrenlage in Afghanistan im Rahmen der militärischen Intervention und ausschnittweisen effektiven Gebietsherrschaft durch die beteiligten NATO-Staaten.

Von der extraterritorialen Grundrechtsbindung zu trennen sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Bestehen einer extraterritorialen Schutzpflicht. Auch wenn man den Truppenabzug nach einer Intervention durchaus als Eingriffskonstellation einordnen könnte, problematisieren wir in diesem Beitrag die Schutzpflichtkonstellation. Vorliegend sind unter anderem das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Menschen betroffen. Es kommt daher eine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Betracht. Hierfür sind weder ein hinreichend qualifizierter Bezug zum deutschen Staatsgebiet noch andere besondere Voraussetzungen zu fordern. Die Verantwortlichkeit richtet sich vielmehr nach den Gefährdungen der grundrechtlichen Schutzgüter, die sowohl auf deutschem Staatsgebiet, jedoch ebenso durch die Eröffnung faktischer Handlungsspielräume im Ausland entstehen können – auch gegenüber ausländischen Staatsangehörigen. Positive Handlungspflichten bestehen vorliegend bereits durch das mitwirkende militärische Gefährdungshandeln der Bundesrepublik Deutschland auf fremdem Staatsgebiet durch den Auslandseinsatz der Bundeswehr als solchen.

Bei bestehendem Schutzbedarf für das Leben und die körperliche Unversehrtheit lässt sich eine Schutzpflicht schon aus Art. 1 Abs. 1 GG und aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG herleiten. Im konkreten Fall lässt sich ein solcher Schutzbedarf für die durch das gefährdende Vorverhalten an der militärischen Intervention beteiligten, in Mission für Deutschland aktiven sowie sich in Afghanistan aufhaltenden deutschen Staatsangehörigen ausmachen. Ähnliches gilt für von anderen intervenierenden Staaten angestellte oder sich anderweitig für die Ziele der Mission einsetzende Personen in Afghanistan. Trotz entgegengesetzter Ziele hat die militärische Intervention die Gefahr bewaffneter Auseinandersetzungen und terroristischer Angriffe durch die Taliban sowie Al-Qaida und später auch durch den sogenannten Islamischen Staat nicht beseitigt, sondern verschärft. Mit dem Abzug der intervenierenden Streitkräfte tritt das mit der de facto Herrschaft der Taliban verbundene Gefährdungspotenzial für das Leben und die körperliche Unversehrtheit deutscher und anderer ausländischer Staatsangehöriger sowie sogenannter Ortskräfte und weiterer besonders vulnerabler oder durch die Taliban bedrohter Bevölkerungsgruppen hinzu. Diese Gefahr anerkennend wurden jedenfalls gegenüber afghanischen Ortskräften mündliche Zusagen für eine mögliche Ausreise nach Deutschland mittels besonderer Visaerteilungen getroffen. Hier sind möglicherweise arbeitsvertragliche Pflichten sowie nachvertragliche Fürsorgepflichten zu berücksichtigen, die nach kursorischer Einschätzung der bekannten Tatsachen nur unzureichend erfüllt wurden. Damit lässt sich insgesamt ein grundrechtsrelevanter Schutzbedarf konstatieren. Es ist deshalb vorliegend eine grundrechtliche Schutzpflicht für diese Personen und Gruppen entstanden.

Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht

Nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt der schutzverpflichteten Gewalt ein weiter Einschätzungs‑, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Schutzmaßnahmen dürfen nicht vollständig unterlassen werden, gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sein. In auswärtigen Angelegenheiten erfährt dieser Spielraum nach dem BVerfG eine zusätzliche Erweiterung. Die Anforderungen an die zur Erfüllung der Schutzpflicht ergriffenen Maßnahmen hängen dabei entscheidend vom konkreten Schutzbedürfnis der gefährdeten grundrechtlichen Güter ab. Insbesondere kommt es darauf an, inwiefern die betroffenen Personen sich selbst der Gefahrenlage entziehen können, inwieweit die Gefährdungen durch die grundrechtsverpflichtete Hoheitsgewalt hervorgerufen oder noch verstärkt wurden und wie groß das Ausmaß der Gefährdung für das konkret infrage stehende grundrechtlich geschützte Rechtsgut sind. Ausgangspunkt in Afghanistan ist die eingeräumte falsche Lageeinschätzung durch deutsche Behörden, verantwortet durch die Bundesregierung, in Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten sowie örtlichen Expert:innen in Bezug auf die Machtergreifung der Taliban. Diese Lageeinschätzung machte kurzfristige Evakuierungsflüge durch die Bundeswehr notwendig, um Menschen die Ausreise aus Afghanistan zu ermöglichen und drohende Lebensgefahren insbesondere von sogenannten Ortskräften abzuwenden.

Es konnten Schätzungen zufolge durch ausländische Rettungsflüge circa 150.000 Menschen aus Afghanistan geflogen werden. Durch die deutsche Bundeswehr wurden nach Angaben des Auswärtigen Amts lediglich circa 5.000 Menschen ausgeflogen. Es wurde vorgetragen, dass aufgrund faktisch begrenzter Möglichkeiten sowie verschiedener Gefahrenquellen und wiederum Schutzpflichten für das Evakuierungspersonal nicht mehr Menschen gerettet werden konnten. Viele Afghan:innen, die für deutsche Institutionen und Organisationen tätig waren und dadurch nach Medienberichten in ihrem Leben und ihrer körperlichen Unversehrtheit durch Racheakte von Mitgliedern der Taliban gefährdet sind, wurden wie ihre gleichfalls gefährdeten Familienangehörigen zurückgelassen. Diese müssen nun aller Voraussicht nach überwiegend in Afghanistan verbleiben – ebenso wie zahlreiche weitere besonders gefährdete und vulnerable Personen. All diese Menschen sind damit der Herrschaft der Taliban überwiegend schutzlos ausgeliefert und weitgehend ohne Möglichkeit einer Flucht vor drohenden Todesgefahren.

Die Schutzpflicht besteht unabhängig vom tatsächlichen verspäteten und chaotischen Verlauf der Evakuierungen. Ein geordnetes, rechtzeitig durchgeführtes Verfahren zum Schutz dieser Menschen wäre Indiz für eine hinreichende Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht gewesen. Ursprünglich war man von einem mehrmonatigen Zeitfenster für die Ausreise deutscher Staatsangehöriger und bestimmter afghanischer Staatsangehöriger nach dem Truppenabzug ausgegangen. Menschen in Afghanistan, die spezifische Anforderungen – etwa eine erhöhte Gefährdung durch die Taliban als sogenannte Ortskraft – erfüllen, sollten ein Verfahren für einen Aufenthaltstitel basierend auf einer Aufnahmezusage im Ermessen des Bundesinnenministeriums nach § 22 S. 2 AufenthG durchlaufen. Darin sehen wir eine Anerkennung des Schutzbedarfs und des Bestehens einer Schutzpflicht. Die Bundesregierung und deutsche Behörden beharrten jedoch auf diesem restriktiv angewandten und langwierigen Verfahren sowie der überwiegend selbst zu finanzierenden Einreise nach Deutschland trotz zahlreicher Warnungen und Forderungen nach einem zeitnahen umfassenden Handeln. So wurde insbesondere ein Antrag im Bundestag zur Aufnahme sogenannter Ortskräfte abgelehnt. Aufnahmeprogramme gemäß § 23 AufenthG sowie weitere Schutzmaßnahmen hätten schon frühzeitig für besonders vulnerable oder gefährdete Personen(gruppen) eingerichtet werden können.

Besonders muss darauf hingewiesen werden, dass bei sogenannten Ortskräften durch die Bundesregierung berechtigtes Vertrauen erweckt wurde, dass die Ausreise zeitnah vor dem Vormarsch der Taliban ermöglicht werde. Daher hatten sich viele Personen hierauf verlassen und keine Zuflucht in Nachbarländern gesucht. Aufgrund des tatsächlich sehr kurzen Zeitfensters für eine mögliche Ausreise wurde kurzfristig ein eher intransparentes Verfahren zur Überprüfung und Feststellung besonders gefährdeter Personen aufgelegt. Es wurden nur bestimmte Personen aus Afghanistan notevakuiert, statt umfassend, schnell und unbürokratisch humanitäre Hilfe zu leisten. Verfahren des Einreise- und Aufenthaltsrechts wurden aus politischen Gründen trotz der akuten humanitären Notsituation zur Kontrolle und Steuerung von Fluchtbewegungen verwendet, ohne dem grundrechtlichen Schutzbedarf hinreichend etwa durch Ausnahmeregelungen nachzukommen. Aus flüchtlings- und migrationsrechtlicher Perspektive ist darüber hinaus zu beachten, dass die intervenierenden Staaten selbst – zumindest mittelbar – Ursachen gesetzt haben, die zur potenziellen politischen und religiösen Verfolgung durch die Taliban geführt, und somit die Gründe für eine angestrebte Flucht mit bewirkt haben. Denn gerade die Einbindung sogenannter Ortskräfte durch die intervenierenden Staaten ist heute ein wesentlicher Grund für die Verfolgung durch die Taliban und damit eine mittelbare Fluchtursache. Nachdem sich durch die de facto Machtübernahme der Taliban sowie das Verhalten der Nachbarländer eine Fluchtmöglichkeit allein auf den Flughafen Kabul beschränkt hatte, stellt sich die Nicht-Rettung aus Afghanistan wie eine Zurückweisung und damit wie ein schutzloses Zurücklassen angesichts von Lebensgefahren dar.

Völkerrechtliche Überformung der Schutzpflicht

Zu den erfüllungsseitigen Anforderungen an die grundrechtliche Schutzpflicht gehören auch völkerrechtliche Aspekte, die den Spielraum der Exekutive lenken und bestimmen. Das für die Bundesrepublik geltende Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht legen der Bundesregierung verschiedene Pflichten auf, die insbesondere aufgrund des menschenrechtlichen Bezuges im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei der Auslegung der grundrechtlichen Schutzpflicht zu beachten sind. Menschenrechtliche Aspekte seien aufgrund der sich stellenden komplexen Fragestellungen hier nur am Rande erwähnt. Jedenfalls finden die EMRK sowie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) grundsätzlich auch in extraterritorialen Konstellationen Anwendung. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind im Lichte der Verpflichtungen aus der EMRK und dem IPbpR – soweit diese im konkreten Fall anwendbar sind – zu konturieren und zu erfüllen.

Neben der menschenrechtlichen Perspektive sind jedoch auch weitere völkerrechtliche Aspekte hinsichtlich der Schutzverpflichtungen der Bundesregierung zu beachten. Mit der Ausübung von Hoheitsgewalt – auch im Rahmen einer militärischen Intervention – sind völkerrechtliche Pflichten verbunden, die unbeschadet der umstrittenen Rechtsnatur des Konzepts der Schutzverantwortung, in diesem paradigmatisch zum Ausdruck kommen. Dieses Konzept formuliert die Verantwortung eines Hoheitsträgers für den Schutz der ihm unterworfenen Bevölkerung vor schwersten Menschenrechtsverletzungen. Als weitere Säule beinhaltet es internationale Unterstützung zur Verhinderung solcher Menschenrechtsverletzungen. Hier ist zu erinnern, dass die afghanische Regierung dem Einsatz der ausländischen Streitkräfte in Afghanistan zugestimmt und mit diesen Vereinbarungen zum Abzug getroffen hatte. Gegenüber der afghanischen Bevölkerung sind damit sowohl die afghanische Regierung als auch die durch ihren militärischen Einsatz Hoheitsgewalt ausübenden Staaten der völkerrechtlichen Schutzverantwortung unterworfen. Daraus resultiert im konkreten Fall die Pflicht, vorsorgliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung im Vorfeld des Truppenabzugs zu treffen. Deshalb waren die an den Auslandseinsätzen in Afghanistan beteiligten Staaten zur Organisation eines geordneten Abzugs verpflichtet, um zu verhindern, dass weite Teile der Bevölkerung schutzlos Lebensgefahren ausgesetzt werden. Es mussten zumindest hinreichende Schutzvorkehrungen getroffen werden. Die Bundesregierung hat diesen Verpflichtungen selbst bei der sich abzeichnenden schnellen Machtübernahme der Taliban nicht umfassend Rechnung getragen, weil sie nicht alle Möglichkeiten zur Rettung von Menschenleben ausgeschöpft und trotz der humanitären Notsituation an etablierten Verfahren zur Steuerung und Begrenzung von Fluchtmöglichkeiten festgehalten hat.

In Afghanistan bestand darüber hinaus die letzten beiden Jahrzehnte ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt, für den die Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts zu beachten waren. Auch wenn die afghanischen Streitkräfte den Kämpfern der Taliban weitgehend kampflos das Feld überlassen haben und die ausländischen Truppen abgezogen sind, bleibt für eine (umstrittene) Übergangszeit humanitäres Völkerrecht weiter anwendbar. Dieser Aspekt wird unter dem Begriff des ius post bellum thematisiert. Erst wenn von einer dauerhaften und nachhaltigen Beendigung des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts im Rahmen der faktischen Machtübernahme der Taliban gesprochen werden kann, erlöschen humanitär-völkerrechtliche Pflichten in Bezug auf das ehemalige Konfliktgeschehen und damit auch Regelungen zur humanitären Hilfeleistung im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Truppenabzugs und hierdurch ausgelöster humanitärer Hilfsbedarfe. Soweit die Bundeswehr auf Seiten der afghanischen Regierung zumindest mittelbar als Konfliktpartei einzuordnen war, bildet dies einen Anhaltspunkt für eine solche Pflicht zur humanitären Hilfeleistung in dieser Funktion. Auch wenn für Nicht-Konfliktparteien keine Pflicht zur Hilfeleistung besteht, gibt es doch gute Argumente für ein Recht zur Hilfeleistung jenseits der zumindest mittelbaren Beteiligung an einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Es ist denkbar, dass ein solches Recht im konkreten Fall durch die Beteiligung Deutschlands an der Intervention sowie am Aufbau ziviler Strukturen in Afghanistan zur Pflicht geworden ist.

Fazit

Im Ergebnis bestehen aufgrund unserer vorläufigen Analyse in Bezug auf die Beendigung einer militärischen Intervention wie jener in Afghanistan Schutzpflichten der deutschen Staatsgewalt nach dem Grundgesetz, bei deren Erfüllung auch völkerrechtliche Verpflichtungen zu beachten sind. Diesen Schutzpflichten ist die Bundesrepublik nur unzureichend nachgekommen, so dass die Pflicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit in verschiedenen Stadien der Beendigung gegenüber zahlreichen Grundrechtsträger:innen verletzt wurde. Unabhängig von der Frage, ob Gerichte diese Argumente ihrer Entscheidung zugrunde legen würden, ist eine verfassungspolitische Verantwortung der Bundesregierung für eine angemessene Konfliktfolgenbewältigung gegeben. Wünschenswert ist, dass die Bundesregierung die Grundrechte als Handlungsanleitung und Orientierungshilfe ihrer Politik zugrunde legt. Schutzpflichten bestehen auch nach dem vollständigen Truppenabzug weiterhin und verlangen Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Afghan:innen.

Durch die Geschehnisse zeigen sich einmal mehr die mannigfaltigen Herausforderungen, die sich bei Auslandseinsätzen stellen. Die Anforderungen der Grundrechtsbindung und Schutzverpflichtung enden nicht mit der Beendigung eines Auslandseinsatzes. Sie intensivieren sich vielmehr, wenn hierdurch das konkrete Gefährdungspotential steigt und Schutzbedarf ausgelöst wird, wenn berechtigtes Vertrauen erzeugt wird, dass diesem Rechnung getragen werde. Eine hinreichende Schutzpflichterfüllung erfordert eine sorgfältige Prüfung, vorsorgliches und frühzeitiges Handeln und eine Berücksichtigung früher Warnungen sowie Schutzkonzepte und organisiertes, kurzfristiges Vorgehen, um humanitäre Notlagen und Lebensgefahren zu vermeiden und sie nicht selbst durch eigenes Verhalten hervorzurufen oder gar zu intensivieren.


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