Packt die Exekutive den Rechtsstaat?
Zu den sechs Punkten Thomas de Maizières für eine „bessere Justiz“
Der ehemalige Bundesminister des Innern und jetzige MdB Thomas de Maizière hat kürzlich unter anderem eine umfassende Reform der Justiz und ihrer Verwaltung gefordert. Sein Vorstoß ist auf wenig Resonanz gestoßen. Jedoch verdienen die, in den Worten des Autors, „oft nicht spektakulär[en]“ Vorschläge, durch weniger Verfahrensschritte, geringeren zeitlichen Aufwand und weniger Idiosynkrasien – „von allem die Hälfte“ – für mehr Effizienz, Effektivität und Akzeptanz staatlichen Handelns zu sorgen, durchaus Beachtung, Diskussion und auch Kritik. Zwar kommen manche der von de Maizière formulierten Punkte „verlässlich wie die Jahreszeiten“ (Friedhelm Hufen) ins Gespräch. Eine den Vorschlägen zugrunde liegende ökonomistische Sichtweise auf die Justiz scheint jedoch manchmal Effizienz mit Effektivität zu verwechseln und droht, die fein austarierte Gewaltenteilung der Verfassungsordnung zu untergraben. Wird hier womöglich ein effizienzorientiertes Paradigma stark gemacht, um mehr – weit verstandene – exekutive Einflussmöglichkeiten gegenüber der Unabhängigkeit der Justiz zu gewinnen?
Effizientere Justiz
In dem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten 17-Punkte-Papier, das auch die Vorschläge zur Justizreform enthält, bezieht sich der Ex-Minister auf den im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung vereinbarten „Pakt für den Rechtsstaat“. De Maizière fordert, über „zusätzliche Richterstellen und eine Öffentlichkeitskampagne“ hinauszugehen und eine „große Justizreform“ zu wagen. Zu den dafür notwendigen Schritten zählt er: die justizadministrative Möglichkeit der Versetzung von Richtern einer Gerichtsbarkeit in eine andere, um lokale „Engpässe“ zu beseitigen (3.), ein Weisungsrecht der Gerichtspräsidien, um Fälle von „besonderer Dringlichkeit oder großer Bedeutung“ bevorzugt behandeln und beschleunigen zu können sowie als „angemessene Antwort“ bei „mangelnder Arbeitsmoral“ (4.), die Einführung einer Fortbildungspflicht (5.), regelmäßig abschließende höchstinstanzliche Entscheidungen ohne Rückverweisung zur Tatsacheninstanz (6.), eine Urteilsbegründung direkt bei Urteilsverkündung – „selbst“ und gerade für das Bundesverwaltungsgericht (7.), schließlich die Einrichtung „umfassender“ Justizministerien in den Ländern und beim Bund, um bislang verstreute Zuständigkeiten – etwa für ganze Fachgerichtszweige – zu zentralisieren (8.).
Effizienz ./. Unabhängigkeit
Während de Maizière unter 3. eine Versetzung von Richtern „natürlich nicht durch die Regierung“ vorschlägt und unter 5. vorneweg „die richterliche Unabhängigkeit [als] ein hohes Gut“ betont, kommen spätestens bei den administrativen – wohlgemerkt: ministeriellen – Zentralisierungsbestrebungen unter 8. Zweifel auf. Im Spannungsfeld zwischen der berufsvertretend geforderten Selbstverwaltung der Justiz, ihrer verfassungsrechtlich gewaltenteiligen Unabhängigkeit (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) sowie der sachlichen (Art. 97 Abs. 1 GG) und persönlichen (Art. 97 Abs. 2 GG) Unabhängigkeit der Richter selbst scheint unter 8. eine eher harmlose Akzentverschiebung zugunsten der Exekutive vorgenommen zu werden. Das ist keine ganz neue Richtung. Bereits in der Debatte um Richter auf Zeit an Verwaltungsgerichten, die mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Art. 7. Nr. 2) 2015 in § 18 der Verwaltungsgerichtsordnung aufgenommen wurden (mehr hier), wurde das zugrunde liegende Spannungsverhältnis deutlich. Das Bundesverfassungsgericht befand dazu im März 2018:
„Dabei verlangt die funktionsbedingt erforderliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der rechtsprechenden Gewalt eine striktere Trennung der Rechtsprechung von den übrigen Gewalten, als sie durch das in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG normierte, Gewaltenverschränkungen erlaubende allgemeine Organisations- und Funktionsprinzip der Gewaltenteilung gefordert wird. Ausnahmen hiervon sind lediglich in geringem Umfang zulässig, wenn – wie etwa bei der Betrauung von Richtern mit Geschäften der Justizverwaltung – der Charakter der Gerichte als besondere Organe der Staatsgewalt nicht beeinträchtigt wird.“ (Rn. 50 und ff.).
Die Vorschläge de Maizières, die eine aktivere Versetzung von Richtern ermöglichen sollen und ein Weisungsrecht der Gerichtspräsidenten vorsehen, scheinen aus der Blickrichtung der richterlichen Unabhängigkeit vor diesem Hintergrund bedenklich. Im obigen Fall stellte das BVerfG klar:
„Die Gewährleistung der sachlichen Unabhängigkeit wirkt aber auch innerhalb der Gerichtsbarkeit und im Innenverhältnis eines Kollegialgerichts […]. Diese bedeutet im Wesentlichen, dass die Richter nur an das Gesetz gebunden, also frei von Weisungen sind […].“ (Rn. 56 f.).
Darüber hinaus mahnte das Gericht an, dass die Verwendung von Richtern auf Zeit bei den Verwaltungsgerichten verfassungskonform auf eine einmalige Ausnahmesituation zu beschränken sei, um das Versetzungsverbot gem. Art. 97 Abs. 2 S. 1 GG gegen das „Risiko eines Missbrauchs exekutiver Gestaltungsmöglichkeiten durch den Einfluss sachfremder Gesichtspunkte“ zu schützen (Rn. 146 f., 139 ff.). Bundesverfassungsrichterin Hermanns hingegen stufte die Regelung in ihrem Sondervotum als gänzlich verfassungswidrig ein und forderte eine „Chinese wall“ (Sondervotum, Rn. 14), um eine auf Art. 97 Abs. 1 GG gestützte strikte und wirksame Trennung zwischen Verwaltung und Justiz sicherzustellen – nicht zuletzt angesichts der „Erwartungshaltungen von Seiten des Staates“ (Sondervotum, Rn. 17). Diese werden auch bei de Maizière durch Auslagerung auf die justizielle Selbstverwaltung hinreichend deutlich: Neue Personalmittel und erweiterte administrative Weisungsrechte gehen selbstverständlich mit der Erwartung einher, diese auch im Sinne des Effizienzgedankens zu nutzen – und werfen damit die Frage auf: Wer ist noch Koch und wer schon Kellner?
Grundsätzlich gilt grundgesetzlich: Aus der persönlichen Unabhängigkeit statusmäßiger Richter ergibt sich, dass sie wider ihren Willen nur durch richterlichen Beschluss an eine andere Stelle versetzt werden können (Art. 97 Abs. 2 S. 1 GG). Dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen sind nur für die „äußere Ordnung richterlicher Tätigkeit“ zulässig, etwa das Tragen der Robe oder die Ermahnung zur Pünktlichkeit (vgl. Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 97 Rn. 11 mwN). Richter sind durch den Schutz ihrer persönlichen Unabhängigkeit also „im Grundsatz für die Dauer ihrer Amtszeit unabsetzbar und unversetzbar“ (BVerfG, oben Rn. 62, vgl. auch Rn. 81) – und dieser Schutz besteht „auch gegenüber Maßnahmen der gerichtlichen Selbstverwaltung“ (Rn. 65).
Auch die verordnete Priorisierung von Fällen „besonderer Dringlichkeit oder großer Bedeutung“ stellt einen delikaten Balanceakt dar. Jedenfalls eine „direkte oder indirekte Weisung, wie der Richter künftig verfahren oder entscheiden soll“ und „Druck auf die Art der Prozesserledigung“ verstoßen gegen die sachliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG. Zulässig sind jedoch Hinweise auf „überdurchschnittlich lang nicht geförderte Akten“ (alle Zitate mwN bei Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 97 Rn. 5a). Honi soit qui mal y pense, dass die richterliche Unabhängigkeit von de Maizière nur bei der – verhältnismäßig unproblematischen – Fortbildungspflicht (5.) miterklärt wird.
Effizienz ./. Effektivität
Die Effizienz der deutschen Justiz zu steigern, ist sicherlich erstrebenswert und wird auch immer wieder von (anderer) höchstgerichtlicher Stelle angemahnt. Ob der de Maizières Vorschlägen zugrundeliegende Begriff von Effizienz jedoch als verfassungsrechtlich wirksames Argument taugt, ist eine andere Frage. Neben der administrativen Steigerung der „Schlagkraft“ durch mehr zentralisierte Verfügung über (mehr) justizielles Personal und Dienstwege scheinen die Postulate der Prozessökonomie allzu deutlich durch. Den Vorschlägen ist damit eine ökonomistische Sichtweise eingeschrieben, die Rechtsprechung als eine Ressource betrachtet, die es klug zu bewirtschaften gilt, nicht nur, weil sie Personal sowie Geld- und Sachmittel erfordert.
Aber auch normativ ist Rechtsprechung ein so nachgefragtes wie knappes Gut: Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG genießt ebenso Verfassungsrang wie der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch nach dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und das Gebot des Art. 19 Abs. 4 GG, Rechtsstreitigkeiten durch die Gerichte möglichst rasch und umfassend zu erledigen. Sie alle erfordern eine funktionsfähige Justiz und Richter mit „uneingeschränkte[r] Verantwortung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes“ (BVerfG, oben Rn. 133) – der Effizienzgedanke aber ist der Effektivität klar nachgelagert, und „[n]ur unabhängige Richter können dem Anspruch der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in vollem Umfang gerecht werden“ (Rn. 81). Sie spielen aus Sicht der Verfahrensbeteiligten die zentrale Rolle, nicht nur, um die unparteiische Streitbeilegung im Einzelfall zu gewährleisten, sondern gerade auch als Maßstab für die allgemeine Akzeptanz des Rechtsstaates – und damit letztlich seiner demokratischen Fundierung und Legitimation. Effektive Justiz ist damit gute Justiz. In der gewaltenteiligen Verfassungsordnung hat sie die Aufgabe, Rechtsstreitigkeiten verbindlich und nachhaltig zu befrieden und gerade die starken verfassungsrechtlichen Garantien richterlicher Unabhängigkeit machen diesen Anspruch haltbar.
Effizienz hingegen stellt kein allgemeines Rechtsprinzip oder gar hochrangiges Verfassungsgut dar – auch nicht aus Sicht der rechtssuchenden Öffentlichkeit (siehe eingehend Eidenmüller zur Effizienz als Rechtsprinzip, insb. S. 463 ff.: „Die Gerichte können keine Promotoren des Effizienzdenkens sein“ [S. 488] – man möchte hinzufügen: erst Recht nicht in eigener Sache). Hier könnte es de lege Maizière ferenda zu einem Zielkonflikt zwischen weisungsgebundener Effizienzsteigerung und der „Pflicht der Richter, sich gegen derartige Versuche zur Wehr zu setzen“ sowie dem korrespondierenden gesetzgeberischen Schutzauftrag als „Verfassungsgebot bestmöglicher Verwirklichung der persönlichen Unabhängigkeit“ (vgl. BVerfG, oben Rn. 60 f.) kommen.
Zielführender als schlichtes, ökonomisches Effizienzdenken in Erledigungszahlen ist vielleicht die Forderung von vermittelter Rationalität als Element einer erhöhten Transparenz und Akzeptanz richterlichen Argumentierens und Entscheidens, wie sie von de Maizière in Punkt 7. erhoben wird: Die – jedenfalls möglichst zeitnah zu erfüllende – Begründungspflicht verdeutlicht den erklärten und wesentlichen Anspruch der Justiz, „argumentativ überzeugende Entscheidungen“ zu treffen, die praktisch wirksam und auch für das bei ihr Recht suchende, nichtjuristische Publikum nachvollziehbar sind.
Angesichts derart robust zupackender Vorschläge, die exekutive Elemente in der Justiz nicht unerheblich stärken sollen, ist es wichtig, eine Debatte über das richterliche „Amtsethos“ (BVerfG, oben Rn. 60, 133, Sondervotum Rn. 17) zu führen – eine Diagnose „mangelnder Arbeitsmoral“ allein ersetzt sie jedenfalls nicht. Die fein austarierte Gewaltenteilung gerade zwischen kontrollierter Exekutive und unabhängig kontrollierender, selbstkontrollierter Judikative sollte die gebotene Achtung und mehr als Lippenbekenntnisse erfahren. Das lehrt nicht zuletzt die bedenkliche Entwicklung in Polen und andernorts, die nicht nur regelmäßiges Thema auf dem Verfassungsblog ist, sondern auch jüngst wieder vom Europäischen Gerichtshof gerügt wurde. Bei dieser Balance können auch kleine Schritte manchmal große Auswirkungen haben – und die Verlockungen größerer Flexibilität und mehr Ressourcen mit den Mitspracherechten ihrer Gönner saldiert im Ergebnis auch zu weniger Justiz führen. Womöglich sollte es auch (und vielmehr?) um die Bedingungen gehen, die ein „nachhaltiges“ richterliches Argumentieren und Entscheiden als sauberes Handwerk ermöglichen. Eine dieser Bedingungen ist Zeit, und die sollte in der Justiz nicht allzu leichtfertig zum knappen Gut erklärt werden.