17 April 2020

Pandemie und Strafvollzug

Auswirkungen der Krise auf den Schutz von Ehe und Familie und die Resozialisierung

Ein Ausbruch des Coronavirus hätte im Gefängnis schwerwiegende Folgen. Dort ist ein hoher Anteil an potenziellen Risikopatient*innen eingesperrt, viele Gefangene sind suchtkrank, leiden an Hepatitis C oder HIV, und es gibt ältere Inhaftierte (hier, hier). Außerdem bewegen sich die Gefangenen zusammen mit den Bediensteten auf sehr engem Raum. Erfahrungen aus einem Gefängnis in den USA zeigen, dass sich das Coronavirus sehr schnell verbreiten kann; wobei dort in den Gefängnissen vielfach mehr Gefangene eingesperrt sind als in Deutschland. Aber auch in deutschen Gefängnissen gibt es häufig kaum Ausweichmöglichkeiten, etwa beim Essen oder beim Duschen. Teilweise werden mehrere Gefangene in einem Haftraum untergebracht.

Es gibt bereits Berichte über infizierte Gefangene in Deutschland (z. B. hier, hier). Aus der staatlichen Schutzpflicht folgt, dass der Strafvollzug die medizinische Versorgung sicherzustellen und die Gefangenen vor einer Ausbreitung des Virus zu schützen hat (zur Schutzpflicht Hong; Kießling). So müssen beispielsweise Desinfektionsmittel und Schutzkleidung zur Verfügung gestellt werden, da das Virus auch über das Personal in die Anstalt gelangen kann.

Als Ausdruck der staatlichen Schutzpflicht ist der Vollzugsalltag teilweise so umorganisiert worden, dass der Kontakt zwischen den Gefangenen – beispielsweise in Berlin – erheblich beschränkt wurde. Auch Maßnahmen zur Resozialisierung – die auf die Verhinderung zukünftiger Straftaten abzielen – bergen Ansteckungsrisiken, z. B. Gruppentherapien zur Drogensuchtbewältigung oder Bildungsmaßnahmen.

Der Kontakt nach außen wurde ebenfalls stark beschränkt. Besuche werden offenbar bundesweit nicht mehr zugelassen, Ausnahmen bestehen für Anwält*innen (z. B. hier, hier). Die Besuche sind für viele Gefangene eine wichtige Kontaktmöglichkeit nach außen; die Trennung von ihren Bezugspersonen wird von vielen Gefangenen als besonders belastend empfunden (umfangreich Fährmann, S.70 ff. m. w. N.). Gerade in Zeiten einer Krise wollen vielen Gefangenen wissen, wie es ihren Bezugspersonen geht. Auch kann der Kontakt sehr entlastend sein, da Gefangene so Probleme mit Vertrauensperson besprechen können. Wie hoch die Belastung durch ein Besuchsverbot sein kann, offenbaren Erfahrungen aus italienischen Gefängnissen. Besuchsbeschränkung aufgrund der Pandemie haben anscheinend Aufstände zumindest mitbeeinflusst, wobei mindestens 6 Gefangene gestorben sind.

Um die Trennung von Bezugspersonen zu kompensieren, wurden die Telefonmöglichkeiten offenbar in vielen Anstalten ausgeweitet und Telefonate werden bezuschusst und es sollen vermehrte Skype-Gespräche zugelassen werden (z. B. hier, hier, hier).

Aber reichen diese Maßnahmen aus, um die Kontaktbeschränkungen zu kompensieren?

Besuchsbeschränkung und Grundrechtsausübung

Auch wenn all diese Einschränkungen dem Schutz der Gefangenen dienen, wirken sich diese für die Gefangenen und ihre Familien teilweise gravierend aus. Insbesondere ihre Rechte aus Art. 6 GG und das Recht auf Resozialisierung sind stark betroffen.

Art. 6 Abs. 1 GG dient u. A. dem Schutz vor Eingriffen des Staates in Ehe und Familie (BVerfGE 6, 55 (72)). Eine Familie ist die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern (BVerfGE 10, 59 (66)). Der Schutz umfasst den Kontakt zueinander, alle Bereiche des Zusammenlebens und die gegenseitige Unterstützung (BVerfGE 76, 1 (42)). Auch bei der Ehe sind alle Bereiche des Zusammenlebens geschützt (BVerfG Rn. 81f.).

Durch den Vollzug der Freiheitsstrafe werden Gefangene von ihrer Familie und ihren Ehepartner*innen räumlich getrennt, wodurch das Zusammenleben von Eheleuten und Familienmitgliedern verhindert und der Kontakt zueinander erheblich beschränkt wird. Also ist die Inhaftierung ein schwerer Eingriff in den Schutzbereich von Ehe und Familie, der sowohl die Gefangenen als auch ihre Kinder, Eltern und Ehepartner*innen betrifft.

Ferner haben inhaftierte Eltern nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sowohl das Recht als auch die Pflicht, für die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen (BVerfGE 121, 69 (92)). Selbst bei einer Trennung besteht ein Recht auf Umgang, damit sich Eltern über das körperliche und geistige Befinden der Kinder fortlaufend persönlich informieren, die Beziehung zu ihnen aufrechterhalten und dem Liebesbedürfnis beider Seiten Rechnung tragen können (BVerfG Rn. 19). Pflege und Erziehung setzen Nähe und Kontakt zwischen Eltern und Kindern voraus, sodass die Inhaftierung einen erheblichen Eingriff in das Erziehungsrecht bedeutet (umfassend Fährmann, S. 218 ff. m. w. N.). Viele Kinder reagieren auf die Inhaftierung von Elternteilen mit Angst, Betroffenheit und Enttäuschung, wodurch die Entwicklung von aggressivem Verhalten, Leistungsabfall in der Schule, Schlafstörungen und Depressionen beeinflusst werden können (z. B. Murray/Murray).

Der Kontakt zu familiären Bezugspersonen kann sich zudem sehr positiv auf den Resozialisierungsprozess auswirken. Bezugspersonen können den Abbruch einer kriminellen Karriere positiv beeinflussen, weil wesentliche Faktoren dafür der Aufbau einer stabilen Beziehung sowie ein stabiles Arbeitsverhältnis sind (vgl. zur Desistance-Forschung Sampson/Laub). Bezugspersonen können den Gefangenen nicht nur entsprechende Beziehungen ermöglichen, sondern ihnen dabei helfen, einen Arbeitsplatz nach der Entlassung zu finden (Fährmann, S. 262, umfassend Fährmann, S. 45 ff.).

Das BVerfG führt zur Resozialisierung u. A. aus:

„Verfassungsrechtlich entspricht diese Forderung [nach Resozialisierung] dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. (…). Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen. Nicht zuletzt dient die Resozialisierung dem Schutz der Gemeinschaft selbst. Diese hat schließlich ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass der Täter nicht wieder rückfällig wird.“ (BVerfGE 35, 202 (236 f.))

Daraus wird deutlich, dass die Gefangenen einen Anspruch auf staatliche Resozialisierungsmaßnahmen, ein Abwehrrecht gegen staatliche Störungen des Resozialisierungsprozesses haben und der Staat zu Resozialisierungsmaßnahmen verpflichtet ist (ausführlich Fährmann, S. 167 ff.).

Der Besuch ist aufgrund der ohnehin schon stark beschränkten Rechte aus Art. 6 GG besonders geschützt. Telefonate können Besuche nur eingeschränkt kompensieren, da bei Besuchen die Möglichkeit besteht, sich zu sehen oder zu berühren. Auch muss berücksichtigt werden, dass in vielen Anstalten vermutlich die Infrastruktur für flächendeckende Telefonate und Skype-Gespräche fehlt bzw. nur beschränkt vorhanden ist. So ergab eine Untersuchung aus den Jahren 2013/2014, dass Gefangene in Bayern und in einigen Anstalten in Nordrhein-Westfalen ihre Bezugspersonen nur im Notfall über Telefone der Bediensteten erreichen konnten (vgl. Fährmann, S. 260, umfassend Fährmann, S. 87 ff.), vielfach über die Apparate der Sozialarbeiter*innen (wodurch weniger Resozialisierungsmaßnahmen möglich waren). So konnten Gefangene maximal wenige Minuten im Monat telefonieren bzw. gar nicht. Die Möglichkeit der Internetnutzung bestand in den Anstalten kaum und überwiegend fehlten diesbezügliche Bestrebungen. Sofern sich die Situationen in den Anstalten nicht geändert hat, können Gefangene und ihre Familienangehörigen aktuell kaum noch oder gar nicht mehr direkt kommunizieren. Da die Entwicklungen im Strafvollzug sehr langsam stattfinden, ist zumindest nicht von einem flächendeckenden Telefonangebot auszugehen, vor allem, da in Art. 35 Abs. 1 S. 1 BayStVollzG Telefonieren nur in Ausnahmefällen vorgesehen ist. Ein breites Telefonangebot ist vom Gesetzgeber nicht gewollt.

Telefonieren im Gefängnis ist zudem vielfach extrem teuer, sodass sich viele Gefangene nur wenige Telefonate leisten können. Die Tarife wurden bereits vom BVerfG als verfassungswidrig eingestuft. Auch wenn Gebühren gesenkt wurden oder die Gefangenen sogar Freiminuten erhalten haben, muss kritisch geprüft werden, ob die Gefangenen wirklich ausreichend telefonieren können, um den Verlust der Besuchsmöglichkeiten in Teilen kompensieren zu können. Dabei muss berücksichtigt werden, dass aufgrund der Pandemie Arbeitsmöglichkeiten der Gefangenen wegfallen können, sodass sie noch weniger Geld zur Verfügung haben als es ohnehin schon der Fall ist.

Es wird deutlich, dass durch das Besuchsverbot nunmehr einige Gefangene nur noch sehr wenig direkten Kontakt haben oder sogar nahezu komplett von ihren Familien getrennt sein können. Das stellt einen schweren Eingriff sowohl in die Rechte der Gefangenen, als auch ihrer Familien dar. Es sind Situationen möglich, in denen die Rechte aus Art. 6 GG kaum noch wahrgenommen werden können. Aber auch für Gefangene mit Telefonmöglichkeiten wirkt sich ein Besuchsverbot schwerwiegend aus, da sie so ihre Bezugspersonen auf unbestimmte Zeit nicht mehr sehen können. Zusätzlich können Kontakte nach außen weniger resozialisierungsfördernde Wirkung entfalten, während Resozialisierungsmaßnahmen im Strafvollzug nicht oder nur beschränkt stattfinden können. Dadurch wird das verfassungsrechtliche Resozialisierungsprinzip erheblich beeinträchtigt. Ob der Resozialisierungsprozess aktuell noch wirksam gefördert werden kann, ist zu bezweifeln, vor allem, da die Resozialisierungsbedingungen in Haft ohnehin schlecht sind (z. B. Graebsch/Burkhardt).

Alternative Lösungsansätze

Besuchsverbote und eingeschränkte Resozialisierungsmaßnahmen sind aufgrund der Schwere der Eingriffe und des staatlichen Resozialisierungsauftrags unter Gewichtung der gegenläufigen Interessen nur über einen beschränkten Zeitraum zu rechtfertigen. Zwar gibt es Gefangene, die die Abgeschiedenheit begrüßen. Gerade potenzielle Risikopatient*innen könnten sich im abgeschotteten Gefängnis sicher fühlen. Für einige Gefangene ist der Kontakt zu Bezugspersonen auch nicht so wichtig, da sie nur noch wenige oder sogar gar keine haben (lange Haftstrafen haben vielfach zerstörerische Auswirkungen auf Beziehungen). Auf der anderen Seite gibt es Gefangene mit Familien, die zudem ein geringes Risiko von einem schwerwiegenden Verlauf einer COVID-19 Erkrankung aufweisen. Für diese Gefangenen und ihre Familien wirkt das Besuchsverbot besonders schwer, da mit der zunehmenden Dauer der Trennung das Risiko steigt, dass Beziehungen die Haft nicht überstehen. Je länger die Eingriffe dauern, desto mehr stellt sich die Frage, ob sie erforderlich und angemessen sind. Aufgrund der Höhe der Gesundheitsrisiken und der Ausbreitungswahrscheinlichkeit können die Eingriffe zunächst wohl zumindest für einen kurzen Zeitraum gerechtfertigt sein, da Anstalten kurzfristig den Schutz der Gefangenen sicherstellen müssen. Je länger die schweren Eingriffe dauern und je weniger Kompensationsmaßnahmen es gibt, desto höhere Anforderungen bestehen aber an die Pflicht der Vollzugsbehörde, Alternativkonzepte zu erarbeiten, die die Ansteckungsrisiken so minimieren, dass Besuche und Resozialisierungsmaßnahmen so weit wie möglich stattfinden können, um den verfassungsrechtlichen Interessen aller Gefangenen Rechnung zu tragen. Dabei ist zu beachten, dass neben den untersuchten Rechten noch zahlreiche andere Grund- und Menschenrechte beeinträchtigt sein können, abhängig von den verhängten Maßnahmen.

Alternative Lösungsansätze könnten z. B. eine stärkere Gruppenbildung sein, die sicherstellt, dass Gefangene immer nur mit den gleichen Personen interagieren, um das Ausbreitungsrisiko zu beschränken. So könnte es unter der Berücksichtigung von weiteren Schutzmaßnahmen wie Mundschutz und Desinfektion auch zu rechtfertigen sein, dass die Gefangenen wieder Besuche erhalten oder an Resozialisierungsmaßnahmen teilnehmen. Auch könnten Risikogruppen und andere Gefangene getrennt werden. So wurden bereits Hafthäuser für infizierte Gefangene freigeräumt, die ggf. genutzt werden können, sofern dies in der betreffenden Anstalt umsetzbar ist. Dies setzt aber mehr Abstand voraus. Dies wäre möglich, wenn mehr Gefangene entlassen oder nicht zur Haft geladen werden (vgl. Graebsch; Knorr; Feest), was auch rechtlich geboten ist. Die erschwerten Haftbedingungen sind bei der Frage des Strafantritts und bei der Aussetzung zur Bewährung nach den §§ 57 StGB ff. zu berücksichtigen, insbesondere da es in Haft nicht möglich ist, sich selbst effektiv gegen eine Infektion zu schützen und das Risiko einer sozialen Isolation und eines extrem angespannten Anstaltsklimas besteht. Unter diesen Umständen sind die Vollstreckung bzw. der Vollzug von zahlreichen Haftstrafen nicht mehr verhältnismäßig. Dies scheinen auch viele Strafvollstreckungsbehörden (zur Übersicht hier, S. 4-5) und Gerichte so zu sehen. Aktuell wird von den Regelungen zur vorzeitigen Entlassung (hier, hier, hier) großzügiger Gebrauch gemacht und Gefangene müssen ihre Haft später antreten (hier, hier, hier). Es ist auch mit dem staatlichen Schutzauftrag nicht zu vereinbaren, Menschen auf so engen Raum unterzubringen, dass sie sich während einer Pandemie nicht ausweichen können – seien es Strafgefangener oder Menschen in Unterkünften für Geflüchtete.

Blick nach vorn

Durch beschränkte Telefonmöglichkeiten und beschränkten Internetzugang wurden Gefangene und ihre Familienangehörigen bereits vor der Corona-Krise schwer in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Die Krise wirkt in vielen gesellschaftlichen Bereichen als eine Art „Brennglas“, welches vorhandene soziale Missstände erheblich verschärft, so auch im Strafvollzug. Es bleibt zu hoffen, dass nach der Krise die Gefängnisse flächendeckende Telefonmöglichkeiten und internetfähige Geräte unter Einhaltung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung stellen. Erfahrungen aus zahlreichen Anstalten zeigen, dass ein sicherer Strafvollzug mit Telefonmöglichkeiten und Internetnutzung umsetzbar ist.

Die Krise offenbart aber noch mehr: Plötzlich sind die Gefängnisse ganz schnell leerer; es ist von historisch niedrigen Gefangenenzahlen auszugehen (Berlin). Was kann man daraus lernen? Offenbar sind nicht alle Inhaftierungen zwingend erforderlich. So geht der Rechtsstaat nicht unter, wenn die Ersatzfreiheitsstrafe nicht vollstreckt wird. Natürlich können Schlussfolgerungen aktuell nur beschränkt gezogen werden. Aber die Entwicklungen sollten genau beobachtet werden, um beurteilen zu können, wie wichtig die Gefängnisstrafe für die Gesellschaft tatsächlich ist und ob es nicht möglich ist, von Gefängnisstrafen deutlich restriktiver Gebrauch zu machen. Für den Schutz von Ehe und Familie und den Resozialisierungsprozess kann dies nur förderlich sein.


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