Pandemiepolitik On Fire?
Anmerkungen zu Franz Mayer
Franz Mayer hat auf diesem Blog das erste Gesetzgebungsprojekt der bislang nur verlobten Ampel-Parteien durchaus rustikal kritisiert. Mit dem Rückbau von Maßnahmen im Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes werfe die Feuerwehr „mitten im Einsatz Teile ihrer Ausrüstung ins Feuer“. Wer sich, wie ich, im Kreis von Franz Mayer wissenschaftlich meist gut aufgehoben fühlt, ihn aus vollem Herzen zum Kreis der Lieblingskollegen zählt und zudem an effektiver Brandbekämpfung interessiert ist, muss zunächst beeindruckt sein, zumal es die schnittige Analogie „eines Verfassungsrechtlers“ (Ingo Zamperoni) sogar bis in die Anmoderation eines Interviews mit Christian Lindner in den freitäglichen Tagesthemen geschafft hat. Scheint also alles zu passen. Dennoch würde ich der rot-grün-gelben Feuerwache, lieber Franz, gerne einen gemeinsamen Kurzbesuch abstatten. Dort würden wir gemeinsam nicht nur neue, bessere Ausrüstung vorfinden, die aufgrund der Erfahrungen mit der Brandbekämpfung in der Vergangenheit angeschafft worden ist, sondern auch die alte Ausrüstung, die mitnichten verbrannt wurde, sondern griffbereit in den Feuerwehrfahrzeugen liegt:
1.
Die Lagebeschreibung ist ja zutreffend: Es brennt, wir haben mittlerweile wieder eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, wie sie § 5 Abs. 1 S. 6 IfSG definiert. Der Bundestag muss die „Lage“ alle drei Monate feststellen, sonst gilt sie als aufgehoben (§ 5 Abs. 1 S. 3 IfSG). Er muss also regelmäßig prüfen, ob die öffentliche Gesundheit gefährdet ist. Das war sie weder am 4. 6. 2021 noch am 25. 8. 2021; der Bundestag hätte die Feststellung der Lage daher an diesen Tagen nicht nur nicht verlängern dürfen, sondern er hätte sie nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG sogar aufheben müssen. Hat er aber nicht: Die Feststellung wurde schon deshalb verlängert, weil man sonst noch nicht einmal mehr eine Maskenpflicht hätte anordnen können (vgl. § 28a Abs. 1 Nr. 2 IfSG). Während man die „epidemische Lage“ also seinerzeit kontrafaktisch feststellen musste, wird sie nun kontrafaktisch nicht mehr verlängert. Wenn sich der Bundestag konsequent an den Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 S. 6 IfSG orientieren würde, müsste es also zu einem Ping-Pong von winterlichen Feststellungs- und sommerlichen Aufhebungsbeschlüssen kommen. Das zeigt aber doch nur, dass die ganze Konstruktion absurd und es auch politisch kaum kommunizierbar ist, dass es einen Unterschied zwischen der Epidemie im epidemiologischen Sinne und der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ im Rechtssinne gibt. Seit wann muss der Bundestag feststellen, dass von ihm beschlossene Gesetze auch wirklich angewendet werden? Warum braucht man parlamentarische Feststellungsbeschlüsse zur exekutiven Gefahrenabwehr? Vermutlich wollte man durch den regelmäßig zu aktualisierenden Feststellungsbeschluss die unzureichende parlamentsgesetzliche Regelungsdichte für die Lockdown-Maßnahmen kompensieren – was aber nicht funktionieren kann, weil auch der Bundestag nicht über verfassungsrechtliche Bindungen disponieren darf. Wer zudem an effektiver Gefahrenabwehr interessiert ist, kann Schutzmaßnahmen nicht davon abhängig machen, dass erst ein formeller Beschluss darüber gefasst werden, dass eine Gefahr vorliegt, bevor sie bekämpft werden kann. Um also im Bild von Franz Mayer zu bleiben: Schon der Schlüssel zum Feuerwehrhaus, in dem sich die Ausrüstung befindet, klemmt. Es ist daher schon aus Gründen der effektiven Gefahrenabwehr nachvollziehbar, die sinnfreie Konstruktion der „epidemischen Lage“ kaltzustellen und einfach effektive Gefahrenabwehr zu betreiben.
2.
Es gibt aber auch einen verfassungsrechtlichen Grund dafür, nicht mehr mit dem Konstrukt der „epidemischen Lage“ zu arbeiten. Ihre Ausrufung löst nämlich auch die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vielfach kritisierte Befugnis des Bundesministeriums für Gesundheit aus, Rechtsverordnungen „in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben“ (§ 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 IfSG) zu erlassen. Wenn die „Lage“ jetzt ausläuft, wird auch dieser fragwürdigen und in der Sache übrigens vollkommen unnötigen Gewaltenverschiebung ein Ende gesetzt. Die Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf die Exekutive schwächte vor allem die Opposition im Bundestag, die im ministeriellen Entscheidungsverfahren anders als im Bundestag keine Teilhaberechte hat. Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass die alte Opposition als neue Mehrheit mit dem Auslaufenlassen der Lage ein Zeichen setzt, die neue Opposition stärker parlamentarisch zu beteiligen, als die alte Mehrheit das mit ihr in der vergangenen Legislaturperiode getan hat? Wer sich demgegenüber an „intransparenten Geheimverhandlungen in einem Parteien-Arkanum“ (Franz Mayer) stößt, sollte wenigstens erklären, ob er denn die arkanen und erratischen Bund-Länder-Runden, in denen (u. a. von einem Candy Crush spielenden Ministerpräsidenten) die Lockdown-Maßnahmen beschlossen wurden, für ein Hochamt der Demokratie hält. Kommunikation und Teilhabe sind keine schlechten Voraussetzungen dafür, dass die Menschen auf die immanente Vernunft politischer Entscheidungen vertrauen.
3.
Selbst wenn man nun aber trotzdem aus irgendwelchen fragwürdigen politisch-symbolischen Erwägungen meint, einen Alarmtopos wie die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ zu benötigen, stimmt die „Ausrüstung-ins-Feuer“-These dennoch nicht. Franz Mayer schreibt, es gebe „keinen rechtlichen Grund, mitten in der sich wieder dramatisch verschärfenden epidemischen Lage Ermächtigungsgrundlagen für Maßnahmen zu streichen“ und warnt: „Dass man übereilt Maßnahmen im Gesetz streicht, könnte man zu einem späteren Zeitpunkt bitter bereuen, ein erneutes Gesetzgebungsverfahren braucht nun einmal Zeit.“
Bezogen auf das Auslaufenlassen der „epidemischen Lage“ trifft das rechtlich nicht zu. § 28a Abs. 1 IfSG wird ja nicht gestrichen. Um seinen Maßnahmenkatalog wieder freizuschalten, muss der Bundestag lediglich die „epidemische Lage“ feststellen, und das dauert nicht länger als der Erlass eines automatisierten Verwaltungsakts. Ein neuerliches Gesetzgebungsverfahren ist nicht erforderlich, die alte Ausrüstung ist noch da.
Das Wehklagen, der Bund nehme den Ländern durch die Streichung von § 28a Abs. 7 IfSG die notwendigen Instrumente zur Pandemiebekämpfung aus der Hand, verkennt hingegen die politischen Gegebenheiten. Auf der Konferenz der Ministerpräsident:innen am 22.10.2021 haben diese nämlich unisono beschlossen, keinen Gebrauch von der Möglichkeit zu machen, den Maßnahmenkatalog des § 28a Abs. 1 IfSG nach Auslaufen der „epidemischen Lage“ in eigener Verantwortung zur Anwendung zu bringen. Gewünscht wurde, obwohl das Ansinnen der Ampel, die „epidemische Lage“ auslaufen zu lassen, bereits bekannt war, eine bundeseinheitliche Ermächtigungsgrundlage. Das war auch durchaus nachvollziehbar, denn der bisherige § 28a Abs. 7 IfSG fordert eine Entscheidung des jeweiligen Landesparlaments, und die war ausgerechnet in den mittlerweile pink eingefärbten Ländern mit geringen Impfquoten durchaus unsicher. Also prügelt man politisch lieber auf den Bund ein als sich, wie in Bayern, mit einem schwierigen Koalitionspartner auf Landesebene herumzuschlagen. Hier werden also einige Krokodilstränen vergossen, mit denen man einen Brand sicher nicht löschen kann.
4.
Nun zur Ausrüstung der Feuerwehr: Der Gesetzentwurf schafft – endlich! – eine solide parlamentsgesetzliche Rechtsgrundlage für flächendeckende 2G-Regelungen (unter Einschluss von 2G plus!) durch die Länder. Diese gab es bislang nicht, weil die Frage der von Ungeimpften ausgehenden Gefahren in eine toxische Diskriminierungsdebatte abgeglitten war und die alte Parlamentsmehrheit daher nicht den Mumm hatte, schon im Sommer eine entsprechende Rechtsgrundlage zu schaffen. So sind viele Monate ohne eine wirklich zielgenaue Gefahrenabwehr vergangen, die obligatorische 2G-Regelungen ermöglicht hätten. Es gibt also nun eine bessere und zielgenauere Ausrüstung für die Pandemiebekämpfung.
Richtig ist, dass bestimmte in § 28a Abs. 1 IfSG geregelte Instrumente kaltgestellt sind, solange die „epidemische Lage“ nicht wieder festgestellt wird. Aber weder Franz Mayer noch irgendjemand sagt, welches von diesen Instrumenten denn nun jetzt unbedingt zum Einsatz kommen muss, um den Brand zu löschen. Derzeit grassiert wieder die ebenfalls inzidenzabhängige „Tut-doch-irgendwas“-Stimmung, die keine einzige Infektion verhindert und keinen einzigen Impfunwilligen zum Nachdenken bringt. Die jetzt ausgeschlossenen Ausgangsbeschränkungen sind jedenfalls unverhältnismäßig, wenn Kontaktbeschränkungen als milderes Mittel in Betracht kommen; das folgt aus den Randnummern 77ff. des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, die Franz Mayer nicht gewürdigt hat.
Selbstverständlich muss im Gesetzgebungsverfahren in der kommenden Woche geprüft werden, wo konkret der Katalog des § 28a Abs. 7 IfSG noch erweitert werden kann. Sinnvoll wäre etwa eine Regelung zu (derzeit etwa in Baden-Württemberg vorgesehenen) Kontaktbeschränkungen jedenfalls für Ungeimpfte. Eine solche Regelung könnte das für den öffentlichen Raum geltende 2G-Modell im privaten Umfeld sinnvoll ergänzen, wenn es auch nicht ganz einfach sein dürfte, sie zu kontrollieren.
Aber was fehlt sonst noch? In der Tat: Schulen und Universitäten können nach der Gesetzesänderung nicht mehr flächendeckend geschlossen werden. Aber wären solche und ähnliche Lockdown-Maßnahmen – abgesehen von den desolaten Folgen – wirklich noch verhältnismäßig, wenn 2G-Regelungen zur Verfügung stehen, wie sie jetzt durch die FAU Erlangen angekündigt worden sind? Will man wieder Millionen geimpfte Schüler:innen und Studierende nach Hause schicken, nur weil einige impfunwillige Mitbürger:innen im Biologieunterricht nicht richtig aufgepasst haben?
Man wünscht sich, der Autor hätte seine viro-epidemiologischen Hausaufgaben gemacht, anstatt Spekulationen über das schulische Betragen seiner Mitbürger anzustellen – ich zog das Schwätzen dem Schlafen immer vor.
Derweil besteht längst Einvernehmen zwischen Studienlage, Expertenmeinung und Realität, dass eine 2G-Regelung schlechthin ungeeignet ist, da:
1. substanzielle Zahlen Impfdurchbrüche trotz der mangelnden Testung der Geimpften die politische Worthülse einer “Pandemie der Ungeimpften” als eine Solche entlarven.
2. von diesen Impfdurchbrüchen Sekundärinfektionen ausgehen, da der Übertragungsschutz, den der Entwickler noch dieses Frühjahr in der Bildzeitung verlautbarte wohl mehr als löchrig ist und derzeitgen Erkenntnissen zufolge nach wenigen Monaten sistiert.
3. auch der Schutz vor den vielbemühten schweren Verläufen sich als weit geringer darstellt, wie ursprünglich angepriesen wurde, womit das Belastungsproblem des Gesundheitswesens nicht gelöst wurde und auch ein Solidaritätsgedanke hinsichtlich der “Schonung der Krankenhäuser” sich nur eingeschränkt entfaltet.*
In der Zusammenschau fragt man sich, warum der Autor die 2G-Regelung mit einem solchen Überschwang begrüßt und findet die Antwort in einem Selbstzitat, dass sich wesentlich auf eine Äußerung des Robert-Koch-Instituts stützt, die inzwischen zurückgenommen und durch ausweichende Angaben ersetzt wurde, die bei bereits minimal kritischer Lesart das Gegenteil konzedieren. Am Ende der Lektüre wird man dann fündig – die Ungeimpften seien wohl ungebildet, faul und dumm. Es ist eben tatsächlich eine toxische Debatte, getragen von Realitätsverleugnung und dem moralischen Überlegenheitsgefühl der Geimpften.
Man kann dann am Ende der Lektüre nur feststellen: dass die Pandemie kriegt jeden klein – die einen im Herzen, die anderen im Geiste und manche in Beidem.
* Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass die begonnenen Boosterimpfungen dies nicht notwendigerweise ändern werden – hierzu existieren mal wieder keine vernünftigen klinischen Daten.
Und was folgt dann aus Ihrer Auffassung, dass Impfen letztlich nichts bringt, sehr geehrter Herr Michaelis?
Es mag durchaus sein, dass sich derzeit eine geringe Reduktion der Last auf die Krankenversorgung durch die Impfung ergibt. Sie ist nur, und das ist eine Konstante der Medizingeschichte der vergangenen vier Jahrzehnte, eben nicht so beeindruckend groß wie zuerst gedacht.
Derzeit gibt es ein erhebliches Defizit bzgl. der Erhebung der Impfquote auf Intensiv- und Normalstation, insofern sind hier leider wieder Mal keine verlässlichen Daten als Einschätzungsgrundlage vorhanden.
Es zeigt aber den systematischen Fehler der Pandemiepolitik: mangelnde Risikobereitschaft der Bevölkerung sowie ein positiv missverstandenes, verabsolutiertes Recht auf Leben soll nun durch eine technische Lösung kompensiert werden. Das kann nicht klappen.
Nötig wäre ein Zurück zur Freiheit, eine Erinnerung an das allgemeine Lebensrisiko, eine Absage an Panikmache und die Erkenntnis, dass es mehr im Leben als Infektionsvermeidung gibt. Aber (so verstehe ich das) das sind ja Querdenker-Argumente.
Sehr geehrter Herr Michaelis,
sicherlich ist der letzte Satz ein bisschen überspitzt und richtig ist auch, dass das RKI vor zwei Wochen seine Aussagen zur Bedeutung der Geimpften für die Pandemie modifiziert hat, was ich aber auch gar nicht bestritten habe.
Im Übrigen fällt aber der Vorwurf der Uniwssenschaftlichkeit ein bisschen auf Sie zurück. Am 10.11.2021 betrug die Sieben-Tage-Inzidenz in Bayern 97,6 für Geimpfte und 953,2 für Ungeimpfte, s. (https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheiten_a_z/coronavirus/karte_coronavirus/index.htm#inzidenzgeimpft); dass sich das das in die Hospitalisierungsanteile verlängert, kann man – wenn man es will – überall nachlesen. Für die Wirkung der Booster-Impfungen kann man nach Israel schauen. Aber wenn man sich nur impfen lassen will, wenn klinische Langzeitstudien (Joshua Kimmich) vorliegen, wird man es eben bleiben lassen. Wenn es keinen Impfstoff gäbe und es nicht Menschen gäbe, die sich impfen lassen, wären wir gerade im dunkelsten Lockwon aller Zeiten!
Ich bitte um Verständnis darum, dass gerade Rechtswissenschaftler:innen, die sich 20 Monate gegen zu übergriffige Lockdwon-Maßnahmen gewandt haben, nicht verstehen, dass man den einfachsten Weg aus der Pandemie in die Endemie verweigert. Bitte lassen Sie sich impfen!
Sehr geehrter Herr Kingreen,
ich gehe davon aus, dass Statistik (bedauerlicherweise) nicht zum Ausbildungsprogramm von Juristen gehört. Sonst wäre Ihnen klar, dass die von Ihnen zitierten Werte der Inzidenz nur dann aussagekräftig sind, wenn sichergestellt wurde, dass sie ohne statistischen Bias erhoben wurden. Genau das war aber noch nie seit Beginn der Pandemie der Fall, worauf unzählige Statistiker mit zunehmender Frustration hingewiesen haben. Das RKI hat dem Vernehmen nach alle diese Hinweise pauschal mit der Aussage von Tisch gewischt, dass man an statistisch belastbaren Zahlen nicht interessiert sei. Dadurch, dass inzwischen bei der Testung massiv zwischen Geimpften und Ungeimpften unterschieden wird und Geimpfte nur noch dann mit PCR-Tests getestet werden, wenn wirklich nicht mehr übersehen werden kann, dass sie mehr oder weniger schwer symptomatisch erkrankt sind, ist die Datenbasis inzwischen so verzerrt, dass sie nur noch als statistischer Sondermüll bezeichnet werden kann.
Ich darf Sie auch auf die Meldungen von heute verweisen, in denen das bayerische LGL etwas kleinlaut darauf verweist, dass inzwischen ein beträchtlicher Teil der Erkrankten auf den Intensivstationen doppelt geimpft ist. Aufgrund der inzwischen gut belegten Abnahme der Schutzwirkung der Impfung ist und war dies auch zu erwarten.
Zu Ihrer Bemerkung, dass man die Wirksamkeit der Booster-Impfungen an den Zahlen aus Israel gut ablesen kann, würde ich gerne die Anmerkung machen, dass dies so sein kann oder auch nicht. Es ist nämlich ganz einfach so, dass wirklich jede Welle einer Infektionskrankheit von ganz alleine dann abnimmt, wenn die Zahl der neu Infizierten und Infizierbaren (= nicht bereits durch eine abgeklungende Infektion Immunisierten) nicht mehr ausreicht, um das Wachstum aufrecht zu erhalten. Die dahinter stehende Mathematik ist nicht besonders schwierig zu verstehen. Im speziellen Fall Israel gibt es, wenn Sie sich die Kurve der Infektionen und insbesondere der Todesfälle ansehen, keinerlei Hinweis darauf, dass der Kurvenverlauf sich in irgendeiner signifikanten Weise von der Kurve aus dem Spätsommer/Frühherbst 2020 unterscheidet, wo es weder Erst- noch Booster-Impfungen gab. Auch wenn der Hr Spahn etwas anderes sagt, kann man daher ruhigen Gewissens davon ausgehen, dass die Booster-Impfungen in Israel schlichtweg zu spät kamen, um irgendeinen Einfluss auf die Spätsommer/Frühherbst Welle 2021 entwickeln zu können. Leider steht das Gleiche auch bei uns zu befürchten.
Ich würde Sie daher bitten, vielleicht in Zukunft etwas weniger schmissig zu formulieren und auch die Meinung von Naturwissenschaftlern mit Statistikkenntnissen einzuholen, bevor Sie publizieren. Ich stehe Ihnen dafür jederzeit und gerne zur Verfügung.
Sehr geehrter Herr Kingreen,
vielen Dank für Ihre Antwort.
Den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit darf ich allerdings Ihnen orginalverpackt zurückgeben:
Die Messgröße, die Sie sachwidrig als Inzidenz bezeichnen, ist in Wirklichkeit eine Meldrate, welche sich durch Multiplikation der tatsächlichen Inzidenz mit der Wahrscheinlichkeit einer Testung der betrachteten Personengruppe ergibt. Nachdem man Geimpfte von allen Testpflichten befreit hat und nur noch testet, wenn sie Symptome einer Infektion haben, Ungeimpfte allerdings bereits häufig am Arbeitsplatz und auch anderswo permanent einer Testpflicht unterliegen, findet man zwangsläufig viel mehr Infektionen unter den Ungeimpften. Sie vergleichen hier infizierte Äpfel mit symptomatischen Brinen (https://www.linkedin.com/pulse/2g-infizierte-%25C3%25A4pfel-und-symptomatische-birnen-niko-h%25C3%25A4rting). Die Tatsache, dass Ihnen dieses Problem nach zwei Jahren nicht bewusst ist, befremdet mich etwas – es wurde so u.a. in den Thesenpapieren von Schrappe et al. mehrfach thematisiert.
Hinsichtlich der Booster-Wirkung in Israel muss man entgegenhalten, dass auch im letzten Jahr die Melderaten in Israel kurzfristig stark zurückgingen und eine Kausalattribution an den Booster mangels randomisierter Daten mal wieder nicht möglich ist (vgl. Streeck https://www.rnd.de/politik/corona-streeck-haelt-boosterimpfung-gegen-vierte-welle-fuer-zweifelhaft-JW6QU7VCJBEHTPCJDUBM3ZJ4CM.html). Wenn man natürlich die saisonale Dynamik respiratorischer Infekte in den gemäßigten Breiten einem Impfstoff zuschreibt, kommt man notwendigerweise zum Schluss, dass die Impfung den Lockdown in Schach hält – auch wenn es eben das Sommerwetter war.
Ob die Impfung die Pademie beendet – im Lichte der biologischen Unzulänglichkeiten der aktuellen Präparate ist das mehr als zweifelhaft (siehe hierzu auch Streeck https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Interview-Virologe-Hendrik-Streeck-Es-wird-keine-Herdenimmunitaet-geben-id60646971.html sowie gleichgerichtet Stöhr https://www.rnd.de/gesundheit/herdenimmunitaet-und-corona-warum-sie-nicht-erreicht-wird-NR2OY5YLQBEGHFZT4RPI6GYJS4.html obwohl hier der gleiche Fehler Melderate vs. Inzidenz gemacht wird).
Zulerzt erscheint mir Ihre Selbstwahrnehmung etwas verzerrt – niemand aus der akademischen Rechtswissenschaft hat sich gegen den Lockdown gewehrt. Niemand hat protestiert, dass “der Staat” die gesamte Bevölkerung unter den Generalverdacht der Infektiosität stellt und jeden in Störerhaftung nimmt. Niemand hat konsequent gegen die ausufernde”Primitivkausalität” (O. Lepsius) des Lockdowns protestiert, gemäß der zwei handvoll biertrinkender Jugendlicher unter einer Autobahnbrücke dann irgendwie den Tod von Heimbewohnern verschulden sollen. Der Zweck heiligt schließlich die Mittel!
Es hat eine gewaltige Verschiebung gegeben, auch in der Rechtssprechung – nicht mehr der Eingriff, sondern die Freiheit von einem Solchen muss begründet werden. Dagegen vernimmt man, auch nach anderthalb Jahren keinen Protest, auch von Ihnen nicht.
Sehr geehrter Herr Kingreen,
in Ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesnotbremse schrieben Sie, Zitat:
“In der Sache bestehen erhebliche methodische und in den Fachwissenschaften mittlerweile sehr verbreitet geteilte Bedenken, den Inzidenzwert zum alleinigen Maßstab für die Auslösung schwerwiegender Grundrechtseingriffe zu machen. Mit den schwankenden Zahlen
nach den Osterfeiertagen aufgrund der geringeren Anzahl von Tests und verzögerten Meldungen ist erneut deutlich geworden, wie unzuverlässig dieser Indikator ist.”
Hier stützen Sie Ihre Argumentation aber auf eben diesen – von Ihnen – als unzuverlässig bezeichneten Indikator, während Ihnen gleichzeitig bekannt sein müsste, dass Geimpfte derzeit kaum noch getestet werden, was den “unzuverlässigen Indikator” (Kingreen) noch unzuverlässiger macht. Stand heute können Geimpfte ähnlich infektiös sein wie Ungeimpfte, weil die aktuell verfügbaren Impfstoffe (leider!) keinen sicheren Übertragungsschutz bieten bzw. der Schutz sehr schnell nachlässt. Darum hat das RKI auch die entsprechenden Empfehlungen angepasst.
Somit dürfte 1G (Testpflicht für Alle) gegenüber 2G oder 3G kurz – und mittelfristig das mildere Mittel sein. Der Impfstatus ist jedenfalls noch kein geeigneter Indikator, um die Gefährlichkeit eines gesunden, asymptomatischen Menschen zu bestimmen. Schutzmaßnahmen können Sie flächendeckend schließlich nur dann durchzusetzen, wenn die gesamte Bevölkerung zusammensteht, weil man nicht vor jede Tür einen Ordnungshüter stellen kann, der die Einhaltung der Regeln kontrolliert. Das, auch von Ihnen, betriebene Ungeimpften-Bashing halte ich für eher kontraproduktiv.
So eine harsche Ansage, und noch dazu berufen Sie sich auf “Einvernehmen zwischen Studienlage, Expertenmeinung und Realität”. Dann muss daran ja etwas dran sein? Schön wären für solch steile Thesen dementsprechend Belege gewesen.
Diese will ich nachtragen – wie Sie allerdings darauf kommen konnten, dass die Studienlage zu Ihren Gunsten spricht, bleibt fragwürdig:
1. “von diesen Impfdurchbrüchen Sekundärinfektionen ausgehen, da der Übertragungsschutz, den der Entwickler noch dieses Frühjahr in der Bildzeitung verlautbarte wohl mehr als löchrig ist und derzeitgen Erkenntnissen zufolge nach wenigen Monaten sistiert.”
a) Hier ist schon erstaunlich, dass Sie Herrn Sahin offenbar vorwerfen, dass er nicht vorausgesehen hat, dass der Biontech-Impfstoff gegen die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannte Delta-Variante schlechter schützt. Im Ernst?
b) Dass dieser Übertragungsschutz nach wenigen Monaten “sistiert”, dh aufhört, entspricht gerade nicht der Studienlage. Richtig ist zwar, dass der Schutz im Laufe der Zeit abnimmt, er sinkt allerdings bzgl. des in Deutschland ganz überwiegend verimpften Comirnaty (Biontech-Pfizer) nicht auf null. Es heißt vielmehr gegenteilig bzgl. “close contacts” Covid-Positiver:
“A reduction was also observed in people vaccinated with the jab made by US company Pfizer and German firm BioNTech. The risk of spreading the Delta infection soon after vaccination with that jab was 42%, but increased to 58% with time.”
Die Wahrscheinlichkeit der Delta-Übertragung bei einer ungeimpften Person beträgt demgegenüber 67 %.
Quelle: https://www.nature.com/articles/d41586-021-02689-y
c) Im Übrigen verfängt das als Gegenargument zu einer Impfung hier und jetzt (Booster- oder Erstimpfung) nicht, weil diese Personen ja gerade einen frischen Impfschutz hätten. Eine Impfung mindert gerade auch die Übertragungsgefahr.
Quelle: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.09.28.21264260v1.full.pdf und https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(21)00648-4/fulltext
2. “auch der Schutz vor den vielbemühten schweren Verläufen sich als weit geringer darstellt, wie ursprünglich angepriesen wurde, womit das Belastungsproblem des Gesundheitswesens nicht gelöst wurde”
Auf welche Wissenschaft berufen Sie sich hier?
“Schutz vor Ansteckung mit Symptomen ist nur ein Aspekt bei der Frage nach der Dauer des Impfschutzes. Ein anderer ist der Schutz vor einer schweren Erkrankung, die mit Hospitalisierung, Beatmung oder gar Tod einhergehen kann. „Dieser Schutz ist bei allen Impfstoffen nach einem halben Jahr noch fast genauso hoch wie zu Beginn“, betont Sander.”
(Leif-Erik Sander, https://de.wikipedia.org/wiki/Leif_Erik_Sander)
Gleichsinnig:
“Das RKI schätzt die Impfeffektivität alle zugelassenen Impfstoffe gegen Covid-19 in seinem neuen Wochenbericht für die Kalenderwochen 35 bis 38: Demnach beträgt der Schutz vor Hospitalisierung bei den 18- bis 59-Jährigen 93 Prozent und in der Altersgruppe ab 60 Jahren etwa 89 Prozent. Der Schutz vor Behandlung auf der Intensivstation liegt in der jüngeren Gruppe demnach bei 96 Prozent und in der älteren bei 94 Prozent, den Schutz vor Tod beziffert das Institut in den beiden Altersgruppen mit 97 und 88 Prozent.”
Quelle: https://www.rnd.de/gesundheit/corona-impfung-wie-lange-haelt-der-impfschutz-christian-drosten-uebertragungsschutz-schwindet-nach-EZMVGFPEHV4M6HNRJ5CU7XHU6A.html vom 2.Oktober 2021
Trotz “varying protection by time since second vaccination […] protection against hospitalisation and death is maintained” .
Quelle: https://www.ndm.ox.ac.uk/files/coronavirus/covid-19-infection-survey/finalfinalcombinedve20210816.pdf
In welcher Welt ist es kein guter Schutz vor schweren Verläufen bei einem Hospitalisierungsschutz von 89-93%?
Ihr sich im Ton vergreifender Beitrag ist offensichtlich auch inhaltlich unqualifiziert. Es ist eine Frechheit, dass Sie sich hierzu auch noch auf die Wissenschaft berufen.
Ich mag Ihner Ausführungen hier der Vollständigkeit halber antworten.
1. a) „Im Ernst“ werfe ich Herrn Sahin ersteinmal garnichts vor, sondern möchte illustrieren, dass hier Erwartungshaltung und Berichterstattung auf der einen Seite und die Realität auf der anderen Seite erheblich divergieren. Man mag darüber streiten, ob es Herrn Sahin möglich gewesen war, die angeschnittene Aussage überhaupt erst zu tätigen, ebenso kann man darüber streiten ob tatsächlich die Delta-Variante an der schwindenden Impfeffektivität schuld war oder dies einfach nur Konsequenz der verstrichenen Zeit seit Impfung ist. Es ist aber recht unerheblich für die o.G. Sachaussage.
b) Die von Ihnen zitierte Studie kann Ihre Aussagen nicht belegen. Sie wurde mit Daten aus einem Zeitraum kurz nach Impfung durchgeführt (Januar – Juli) und ist damit bestenfalls von historischem Interesse.
c) Ob eine Boosterimpfung den Übertragungsschutz wiederherstellt, kann derzeit mangels Daten nicht beurteilt werden. Auch Sie führen dazu nichts an. Für einen relevanten Effekt von neu vorzunehmenden Erstimpfungen fehlen schlichtweg die Ungeimpften.
2. Hier muss einmal wieder an die Total Population Cohort aus Schweden erinnert werden ( https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3949410 ).
“The effectiveness against severe illness seems to remain high through 9 months, although not for men, older frail individuals, and individuals with comorbidities.”
Ausgerechnet in diesen Patientengruppen sich fast das gesamte krankenhausrelevante Infektionsgeschehen ab. Dies deckt sich auch mit jüngsten Erfahrungen aus der Praxis (https://www.rnd.de/politik/zahl-der-impfdurchbrueche-steigt-immer-mehr-intensivstationen-am-limit-KGGR34VHQFD63BK5OOUQKYPRVA.html).
Hinsichtich der tatsächlichen Zahlen und Impfstatus der stationären Patienten gibt es derzeit ein weiteres erhebliches Datenproblem (https://www.tagesschau.de/inland/impfquote-coronapatienten-101.html).
Jedenfalls kann man feststellen, dass die Zahl der Intensivpatienten sich im Vergleich zum Vorjahr (weitgehend ohne Impfung) sich nicht wesentlich unterscheidet – dies wäre unter der Annahme einer tatsächlich so hohen Effektivität nur plausibel durch eine Dynamisierung des Infektionsgeschehens unter den Ungeimpften zu begründen – woher aber soll die kommen?
Ihre Einlassungen, u.a. zur Qualifiziertheit meines Beitrages und dem Verhältnis zur Wissenschaft, verbitte ich mir.
Drei abschließende Bemerkungen:
1. Entweder berufen Sie sich auf eine unzureichende Datenlage oder auf ein Einvernehmen zwischen Studienlage, Expertenmeinung und Ihrer Ansicht. Beides zusammen geht nicht. Wenn die Datenlage unzureichend ist, spricht sie genauso wenig für Ihre Thesen (Bei schwacher Datenlage hat zudem bekanntermaßen der Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative, nicht Sie). Wenn Sie in Ihrem ersten Beitrag Herrn Kingreen “Spekulationen” vorwerfen, dann trifft Sie dieser Vorwurf gleichermaßen, wenn Sie die Unwirksamkeit der Maßnahmen behaupten.
2. Eine der im Nature-Beitrag vorgestellten Studien (https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.09.28.21264260v2.full-text) bezieht auch noch Daten aus August und die Delta-Variante mit ein, dort sieht man (Figure I), dass in allen Szenarien das Risiko eines positiven PCR-Tests bei fehlender Impfung der Index- bzw. Kontaktperson steigt. Die Statistik endet zwar nach 14 Wochen, die Tendenz eines sinkenden, aber nicht gänzlich fehlenden Übertragungsschutzes ist jedoch unverkennbar. Wenn Sie wiederum meinen, dass auch diese Daten nicht aussagekräftig sind, dann sind wir wieder bei meinem ersten Punkt.
3. Auch im November (!) 2021 folgern wesentliche Teile der Fachwissenschaft aus der Studienlage, dass die obig ausführlich geschilderten Erkenntnisse nach wie vor zutreffen (siehe https://www.zeit.de/wissen/2021-11/covid-winter-strategien-2021.pdf; dazu der Bericht https://www.zeit.de/wissen/2021-11/vierte-corona-welle-forschung-boosterimpfung-impfung-intensivstationen-winter vom 11.11.2021). Selbst wenn Sie also inhaltlich mit allem, was Sie postulieren, recht hätten (was ich nachdrücklich bezweifle), kommen Sie nicht umhin, zuzugestehen, dass Ihre Thesen gerade von gewichtigen Stimmen in der Epidemiologie/Virologie abweichen. Dass Sie dies nicht offenlegen, halte ich für wahlweise uninformiert oder unredlich, vor allem im Zusammenspiel angesichts der erheblichen Aggressivität (“Hausaufgaben machen”, “Spekulationen”), mit der Sie Ihre Position kundgetan haben. Hier gilt: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
Ich muss gestehen, als gelernter Naturwissenschaftler verfolge ich immer mit einer gewissen Faszination die Diskussionen von Juristen über legalistische Schnörkelchen, in denen sie ganz konsequent am wirklichen Thema vorbei reden. So geht es mir hier, so ging es mir bereits bei den Beiträgen des Hrn Mayer und der Fr Mangold.
Was können wir inzwischen als gesichertes Wissen zum Thema Corona betrachten? Spätestens seit September konnte man an den Zahlen der Impfweltmeister Israel und UK ablesen, dass die Schutzwirkung der Impfung (egal welcher Impfstoff) spätestens nach einem halben Jahr praktisch verschwunden ist. Inzwischen gibt es auch eine Studie aus Schweden, die diese Abnahme besser quantifiziert und nachzeichnet. Dazu passt auch der Pandemie-Verlauf im November, der nur damit zu erklären ist, dass nicht 65 – 75 % der Bevölkerung geimpft sind, sondern nur ein Bruchteil davon. Inzwischen hat es diese Erkenntnis sogar bis ins bayerische Kabinett zum Hr Söder geschafft, der davon redet, dass der Impfstatus nach einigen Monaten automatisch wegfallen soll. Und das bayerische Landesamts für Gesundheit und Lebensmittel (LGL) lässt sich heute ganz offiziell zitieren mit der Aussage: “Das LGL wies auch darauf hin, dass insbesondere die Älteren schon früh im Jahr geimpft worden seien. Damit steige das Risiko einer abnehmenden Immunität.”
Das ist eine sehr vorsichtige Formulierung, aber schließlich muss man Rücksicht auf das vorgesetzte Ministerium und womöglich auch auf die eigene berufliche Zukunft nehmen. Der Punkt ist ganz einfach: jeder, dessen Impfung länger als etwa ein halbes Jahr zurück liegt, ist heute in der gleichen Lage wie ein Ungeimpfter ohne jeglichen Schutz. Wenn man sich den Impfverlauf in Deutschland ansieht, dann sieht man, dass bei deutlich mehr als der Hälfte der Geimpften die Impfung diese länger als sechs Monate zurück liegt. Es laufen im Lande also nicht nur 25 – 35 % Ungeimpfte herum, sondern auch um die 40 – 50 % Geimpfte, die nur noch auf dem Papier irgendeinen Impfschutz haben. In der Summe haben wir also 65 – 85 % de facto Ungeimpfte, grob etwa 3/4 der Bevölkerung. Und wenn man sich mal dieser (politisch) unangenehmen Wahrheit gestellt hat, dann lassen sich einige Schlüsse ziehen, die auch für Juristen relevant sind.
(1) Die “Booster”-Impfungen sind in Wirklichkeit für die genannten 40 – 50 % Geimpften völlig neue Impfungen und keine Verstärkung der Schutzwirkung, wie der Begriff unterstellt. Wie das bayerische LGL sagt: gerade die Risikogruppen müssen mit höchster Priorität geimpft werden, um hier viele Todesfälle zu vermeiden. Hier wären m.E. einige verfassungsrechtliche Überlegungen angebracht, inwieweit der Staat seiner Verpflichtung nachkommt, wenn er, wie derzeit der Fall, auf die Priorisierung verzichtet. Schließlich kommt es, wie man den Medien entnehmen kann, bereits zu ersten “Rückstaus” bei den Impfungen. Für die Risikogruppen zählt aber jeder Tag.
(2) Es hatte noch nie jemand wirklich sauber bewiesen, dass Geimpfte in irgendeiner Weise weniger infiziert werden oder andere infizieren können (sterile Immunität). Alle “Studien” dazu sind aus verschiedenen Gründen das Papier, auf dem sie womöglich ausgedruckt wurden, nicht wert, egal wie oft das RKI etwas anderes behauptet. Es ist ein deprimierendes Zeichen für den desaströsen Zustand unserer Wissenschaftsjournalistik, dass anscheinend niemand diese Aussage bisher hinterfragt hat. Dies ist aber auch weitgehend irrelevant und eine Sache der Vergangenheit, wenn man erst verstanden und akzeptiert hat, dass die Wirkung der Impfung innerhalb einiger Monate vollständig verschwindet. Dann gibt es auch keinerlei Grund mehr für die Annahme, dass vielleicht nur der Schutz gegen schwere Erkrankung abnimmt, nicht dagegen die (in der Zwischenzeit nicht einmal mehr behauptete) sterile Immunität. Das wiederum heißt in einfachen Worten, dass (mindestens) 65 – 85 % der Bevölkerung ihre Viren wie völlig Ungeimpfte austauschen. Eine Diskussion über 2G/3G erübrigt sich daher, weil es keine Möglichkeit gibt, bezüglich der Infektiosität zwischen Ungeimpften und einer Mehrheit der Geimpften zu unterscheiden. Wenn jetzt über 2G plus diskutiert wird, dann ist das eine erste Verarbeitung dieser Erkenntnisse, die aber absehbar für Zehntausende unserer Mitbürger zu spät kommen wird. Die Pandemie war bisher nicht eine Pandemie der Ungeimpften, wie es so schön knackig heißt, sie war eine Pandemie der Geimpften, deren Impfschutz schon lange verschwunden war.
Ich finde, es wäre allmählich an der Zeit, dass auch Juristen und Gerichte sich mit diesen Erkenntnissen auseinander setzen und sie in ihre Entscheidungen einfließen lassen. In der Politik kann man erste zaghafte Versuche dazu erkennen, wenn der Hr Söder jetzt noch recht vage von ablaufenden Impfpässen spricht. Das Problem sind nicht “…impfunwillige Mitbürger:innen [,die] im Biologieunterricht nicht richtig aufgepasst haben…”, wie Hr Kingreen so knackig formuliert (Achtung Querdenker und Covidioten! muss man sich wohl dazu denken). Das Problem sind Impfungen, die entgegen der gesamten Kommunikation aus der Politik und der Medizin ihre Wirkung schneller verlieren als in dieser Kommunikation stillschweigend unterstellt oder oftmals sogar explizit behauptet wurde. Und das Problem sind leider auch Juristen, die über diverse Schnörkelchen im IfSG meinetwegen auch rustikal diskutieren, dabei aber die zugrunde liegenden Fakten und Erkenntnisse aus welchen Gründen auch immer ignorieren.
Da muss ich jetzt aber mal alle rechtswissenschaftlichen Kolleg:innen in Schutz nehmen: Wir maßen uns nirgends eigenen lebenswissenschaftlichen Sachverstand an, sondern rezipieren, was uns die “nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen” (§ 4 Abs. 1 S. 1 IfSG) übrigens in Übereinstimmung mit anderen entsprechenden Institutionen in anderen Staaten mitteilt, und dann erklärt uns ein einzelner Naturwissenschaftler mit, dass das alles angeblich nicht stimmt. Auf einer solchen Faktenlage wird keine seriöse Rechtswissenschaft betrieben, auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 S. 1 IfSG schon.
Ich muss gestehen, dass mich als bekennenden juristischen Laien Ihre Antwort dann doch etwas überrascht. Bisher dachte ich immer, dass es Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei, das Handeln der Exekutive, wozu auch die von Ihnen genannte nationale Behörde gehört, auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen, was aber m.E. zwingend voraussetzt, dass Juristen im Verfahren zu einer eigenen Meinung über die Aussagen genau dieser Exekutive kommen. Schließlich wird jedes Amt und jede Behörde aus ihrer Sicht sehr überzeugende Argumente vorbringen, dass ihr Handeln selbstverständlich rechtmäßig und von den Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen gedeckt ist. Es ist auch ein faszinierendes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, welche Theorien mit welcher Begründung als Konsens der Wissenschaft einmal akzeptiert waren, über die wir heute nur lachen oder für die wir uns sogar schämen. Der Konsens der (Natur-)Wissenschaft ist ein flüchtiges Ding und gilt immer nur, bis jemand etwas anderes bewiesen hat. M.W. ist es in der Juristerei nicht anders.
Selbstverständlich müssen Sie sich nicht auf die Meinung eines einzelnen Naturwissenschaftlers verlassen, nur sollten Sie sich mit dessen Argumenten auseinander setzen, ihre Schwachstellen aufzeigen bzw. sie entkräften, um zu einer eigenen Meinung zu gelangen. Als Jurist kennen Sie das natürlich, weil in jedem Gerichtsverfahren das gleiche passiert, notfalls unter Heranziehung von Sachverständigen. Was ich an der derzeitigen Rechtsprechung zum Thema Corona kritisiere ist genau die Haltung, die auch aus Ihren Zeilen spricht: die Exekutive in Person des RKI sagt, dass das so ist, und diese Aussage reicht uns. Ich kenne durchaus einige Juristen, die hinter vorgehaltener Hand von offensichtlicher Feigheit ihrer KollegInnen sprechen, die Aussagen der Exekutive zu hinterfragen, weil sie Angst davor haben, dann als Querdenker und Covidioten gebrandmarkt zu werden. Und selbstverständlich kommen zwei Juristen immer zu drei Meinungen, wie der alte Witz sagt, nur sollten sie zu diesen drei Meinungen halt erst dann kommen, wenn sie sich ernsthaft mit der Angelegenheit auseinander gesetzt haben. Ansonsten gibt es nämlich nur eine Meinung, nämlich die der Exekutive.
Aber wie Sie richtig sagen, ist mein Fachgebiet ja nicht die Juristerei, sondern die Naturwissenschaft. Schauen wir uns daher aus naturwissenschaftlicher Sicht mal an, welche Aussagen des RKI bisher für die Pandemie-Bekämpfung zentral waren und daher natürlich nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch juristische Relevanz haben.
(1) Die Inzidenz, die vom RKI berichtet wird, spiegelt das Pandemiegeschehen angemessen wieder. Das muss auch so sein, weil ja auf der Basis dieser Inzidenz (die berühmten Schwellen von 35 und 50 — das waren Zeiten!) Maßnahmen greifen bzw. greifen sollten, die tief in die Grundrechte der Bürger eingreifen. Wenn diese Inzidenz grob unrichtig ist, dann stellt sich ganz offensichtlich die Frage, ob darauf basierende Maßnahmen angemessen und zulässig sind. Als Jurist kennen Sie natürlich die Akribie, mit denen vor Gerichten um die Eignung und korrekte Eichung von Radargeräten gerungen wird, wenn es darum geht, Geschwindigkeitsübertretungen festzustellen. Und diesbezüglich ist es nicht nur meine einzelne Meinung, dass die Inzidenz des RKI ihren Namen nicht verdient, weil sie keine Inzidenz mit irgendeiner statistischen Aussagekraft ist, sondern weitgehend willkürlich ermittelte Fallzahlen, die auf die Bevölkerung hochgerechnet werden. Im Winter 2020/21 konnte man noch die Meinung vertreten, dass in der Spitze der damaligen Inzidenz die Abweichung wohl nicht so dramatisch sein wird (einen Beweis hatte man auch damals nicht), aber inzwischen ist der systematische Bias durch die Vorgaben zur Testung so hoch, dass man nur noch von statistischem Sondermüll sprechen kann. Das RKI ist m.W. nie öffentlich in einer substanziellen Form auf diese Kritik eingegangen und hat sie entkräftet.
(2) Geimpfte sind sicher vor einer schweren Erkrankung geschützt, weshalb die Impfung das zentrale Instrument darstellt, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Von dieser Aussage rücken RKI und Mediziner in kleinen Schritten selbst ab, weil sie offensichtlich kontrafaktisch ist. Die derzeitige “offizielle” Aussage des RKI lautet, dass Geimpfte immer noch besser als Ungeimpfte geschützt sind, wobei diese Aussage im Kern auf den unter (1) diskutierten Inzidenzen beruht, also auf per se unzuverlässigen Zahlen. Die von mir zitierte Aussage des LGL gestern rückt auch von dieser Aussage ab. Die Studie aus Schweden zeigt auch eindeutig auf, dass die Schutzwirkung in der Population (das muss nicht notwendigerweise identisch sein mit einem Antikörper-Titer) nach etwa 1/2 Jahr nicht mehr nachweisbar ist, was auch in Übereinstimmung mit den bekannten Sterbezahlen aus Israel und dem UK im Spätsommer ist. Das RKI ist m.W. nie auf diese Sterbezahlen eingegangen (abgesehen von der pauschalen Aussage ohne Belege, dass hier halt Ungeimpfte gestorben sind) und hat erklärt, wie sie mit der Aussage des sicheren Schutzes in Einklang zu bringen sind. Abgesehen davon ist es m.W. Konsens der (medizinischen) Wissenschaft, dass es keine Impfung gegen vergleichbare HNO-Viren gibt, bei der man von einer Schutzwirkung länger als einige Monate ausgeht (z.B. Grippe-Impfung). Es sei noch ergänzt, dass weder RKI noch Mediziner jemals begründet haben, wie es wohl geschehen sollte, dass im Winter 2020/21 bei einer Impfquote von exakt 0 % das Gesundheitssystem auch nicht annähernd an die Grenze der Überlastung kam, während im Winter 2021/22 bei einer Impfquote von 65 – 75 % dies sehr wohl drohen soll. Man muss kein Naturwissenschaftler sein, um die völlige Sinnlosigkeit dieses Arguments zu erfassen.
(3) Geimpfte sind steril immun, werden also nicht infiziert und geben ihre Infektion, falls die, wie auch immer, doch passieren sollte, nicht weiter. Diesem Argument war nur ein sehr kurzes Leben beschieden, weil bereits im Frühsommer 2021 klar war, dass es nicht zu halten ist. Es wurde daher abgeschwächt auf “werden deutlich weniger infiziert bzw. geben deutlich weniger weiter” als Ungeimpfte. Auf dieser Aussage basieren konzeptionell alle 2G/3G Maßnahmen, die zwischen Geimpften und Ungeimpften differenzieren. In aller Regel wird dieses Argument damit begründet, dass die Inzidenzen unter Ungeimpften deutlich höher sind als unter Geimpften (siehe die gestrige Begründung des österreichischen Bundeskanzlers zum Lockdown für Ungeimpfte und analoge Äußerungen in DE) und/oder dass man dies an der höheren Hospitalisierung von Ungeimpften im Vergleich zu Geimpften ablesen könne. Zur Aussagekraft der Inzidenzen siehe (1). Die Aussage zur Hospitalisierung ist bei Lichte betrachtet nur die Wiederholung von (2), weil die Hospitalisierung per se nichts damit zu tun hat, wie leicht Viren zwischen Geimpften bzw. Ungeimpften übertragen werden. Es bleibt festzuhalten, dass es keinen einzigen belastbaren Beleg als Basis auch für die abgeminderte Aussage gibt. Das CDC hatte in internen Unterlagen im vergangenen Sommer sogar davon gesprochen, dass Geimpfte womöglich leichter als Ungeimpfte ihre Viren übertragen. Ich sehe aber auch für diese Vermutung keinen belastbaren Beleg. Es lässt sich auch konzeptionell begründen, warum es keinen Beleg geben kann, was hier aber zu weit führen würde (Stichwort: fehlende Vergleichsgruppen). Vor dem Hintergrund, dass das RKI inzwischen selbst konzediert, dass die Schutzwirkung der Impfung abnimmt, ist auch nicht zu begründen, warum nur die Schutzwirkung abnehmen sollte, die teilweise sterile Immunität aber unverändert weiter bestehen wird.
Alle anderen Aussagen des RKI sowie der Mediziner, die sich in Interviews und Talkshows äußern, sind im Kern nur abgewandelte Varianten dieser drei zentralen Aussagen, von denen aber keine einzige belastbar und stichhaltig ist. Und damit sind wir am Kernpunkt des derzeitigen Problems, nämlich der Aussage (3). 2G/3G Konzepte mit dem Verzicht auf eine Testung von Geimpften sind gleichbedeutend damit, dass um die 40 – 50 % der Bevölkerung, nämlich die Geimpften, deren Schutz und (partielle) sterile Immunität (falls sie diese jemals überhaupt hatten) bereits abgeklungen sind, ohne jegliche Testung ihre Viren verbreiten können. Es gibt schlichtweg keinen Unterschied zwischen diesen nur noch auf dem Papier Geimpften und Ungeimpften, weshalb dann auch Maßnahmen auf der Basis einer solchen Differenzierung nicht rechtmäßig sein können. Die Parole von der “Pandemie der Ungeimpften” ist zwar politisch wohlfeil und nützlich, epidemiologisch aber leider grundfalsch und daher auch für Zehntausende Mitbürger absehbar tödlich, weil sie die notwendigen Maßnahmen verhindert und verhindert hat. Dies hat inzwischen auch beispielsweise ein Hr Drosten eingesehen, während andere Fachkollegen seine Einschätzung mit allen Anzeichen der Empörung von sich weisen. Soviel dann zum “wissenschaftlichen Konsens”. Sogar ein Hr Söder, seines Zeichens ja Jurist, scheint dies inzwischen erkannt zu haben, wenn er von zeitlich begrenzten Impfbescheinigungen spricht. Dito der Hr Spahn, der von 2G+ spricht. Wie gesagt: hier scheint erste Erkenntnis einzuziehen, leider absehbar zu spät für viele Mitbürger und unter gleichzeitiger Perpetuierung und Verschärfung von nicht rechtfertigbaren Maßnahmen gegen Ungeimpfte.
Das Problem, auf das Prof. Kingreen zurecht hinweist, ist, dass auch eine interdiziplinär sensible Rechtswissenschaftler*in nicht über eine Fremdfach-Expertise verfügt. Deswegen ist sie darauf angewiesen, sich ein Bild über die maßgeblichen vertretenen Auffassungen zu verschaffen. Jetzt kommen Sie daher und sagen – weitestgehend ohne Belege –, dass die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse eigentlich ganz andere seien. Problematisch daran ist, dass (1) das Feld der Naturwissenschaften ein weites ist, ob ein Experte für Astrophysik der beste Ansprechpartner für virologische Fragen ist, erscheint mir genauso zweifelhaft wie einen Klempner nach architektonischen Sachverhalten zu befragen. Ich gehe also davon aus, dass Ihre Expertise nicht auf dem gleichen Niveau ist wie die einer Leiter*in einer universitätsmedizinischen Abteilung für Virologie. (2) Ihre Aussagen stehen zu diesen ausgewiesenen Expert*innen an diversen Stellen im Widerspruch. Im Einzelnen:
1. “Und diesbezüglich ist es nicht nur meine einzelne Meinung, dass die Inzidenz des RKI ihren Namen nicht verdient, weil sie keine Inzidenz mit irgendeiner statistischen Aussagekraft ist, sondern weitgehend willkürlich ermittelte Fallzahlen, die auf die Bevölkerung hochgerechnet werden.”
Anderer Auffassung sind hier drei namhafte Autoren:
“Es besteht auch in den kommenden Monaten eine enge und lineare Beziehung zwischen der SARS-CoV-2-Inzidenz und der Intensivbettenbelegung. Bereits ab Inzidenzen von 200/100.000 ist wieder eine erhebliche Belastung der Intensivstationen mit mehr als 3000 COVID-19-Patienten zu erwarten, sofern die Impfquote nicht noch deutlich gesteigert wird.”
Letztere Vorhersage scheint sich gegenwärtig zu bewahrheiten.
Quelle: https://link.springer.com/article/10.1007/s00063-021-00862-9
Im gleichen Sinne Prof. Dr. Ulrike Protzer, Leiterin der Virologie an der TU München:
“Die Inzidenz sei aber als Indikator weiterhin wichtig, weil sie das allgemeine Infektionsgeschehen anzeige.”
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-richtwerte-inzidenz-massnahmen-1.5380877
Da fragt man sich als Rechtswissenschaftler*in natürlich nach der Validität Ihrer Behauptungen. Warum sollte man nicht (auch) auf die Inzidenz vertrauen, wenn einem die Virologen gerade dazu raten?
2. “Die Studie aus Schweden zeigt auch eindeutig auf, dass die Schutzwirkung in der Population (das muss nicht notwendigerweise identisch sein mit einem Antikörper-Titer) nach etwa 1/2 Jahr nicht mehr nachweisbar ist, was auch in Übereinstimmung mit den bekannten Sterbezahlen aus Israel und dem UK im Spätsommer ist. ”
Wiederum dagegen:
“The effectiveness against severe illness seems to remain high through 9 months, although not for men, older frail individuals, and individuals with comorbidities.”
Quelle: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3949410
Visualisierung unter:
https://www.spektrum.de/news/corona-impfung-welche-impfstoffe-schuetzen-wie-lange/1945216
Ich zitiere weiter meinen obigen Post:
„Schutz vor Ansteckung mit Symptomen ist nur ein Aspekt bei der Frage nach der Dauer des Impfschutzes. Ein anderer ist der Schutz vor einer schweren Erkrankung, die mit Hospitalisierung, Beatmung oder gar Tod einhergehen kann. „Dieser Schutz ist bei allen Impfstoffen nach einem halben Jahr noch fast genauso hoch wie zu Beginn“, betont Sander.“
(Leif-Erik Sander, https://de.wikipedia.org/wiki/Leif_Erik_Sander)
Quelle: https://www.rnd.de/gesundheit/corona-impfung-wie-lange-haelt-der-impfschutz-christian-drosten-uebertragungsschutz-schwindet-nach-EZMVGFPEHV4M6HNRJ5CU7XHU6A.html vom 2.Oktober 2021
Trotz „varying protection by time since second vaccination […] protection against hospitalisation and death is maintained“ .
Quelle: https://www.ndm.ox.ac.uk/files/coronavirus/covid-19-infection-survey/finalfinalcombinedve20210816.pdf
Wenn sich alle anderen sich immer irren, aber man selbst nie, dann drängen sich eben doch Fragen auf.
3. “(3) Geimpfte sind steril immun, werden also nicht infiziert und geben ihre Infektion, falls die, wie auch immer, doch passieren sollte, nicht weiter. Diesem Argument war nur ein sehr kurzes Leben beschieden, weil bereits im Frühsommer 2021 klar war, dass es nicht zu halten ist. Es wurde daher abgeschwächt auf „werden deutlich weniger infiziert bzw. geben deutlich weniger weiter“ als Ungeimpfte.”
Diese Aussage einer vollen sterilen Immunität wurde insbesondere vom RKI nicht getätigt. Für Gegenbeweise bin ich offen und dankbar. Auch der Virologenkongress bezog sich nur auf eine wesentliche (!) Übertragungshemmung, nicht auf eine vollständige.
Quelle: https://www.ardmediathek.de/video/mdr-wissen/podiumsdiskussion-beim-virologenkongress/mdr/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy8zMGNkMGFhMy1kMGQxLTQzYzEtOWQwYS1hZTFjMDcyNWQxYmI/)
4. “im Winter 2020/21 bei einer Impfquote von exakt 0 % das Gesundheitssystem auch nicht annähernd an die Grenze der Überlastung kam, während im Winter 2021/22 bei einer Impfquote von 65 – 75 % dies sehr wohl drohen soll. ”
Naja, ein Kollaps wurde verhindert, weil es harte Einschränkungen gab? Dass das Gesundheitssystem “nicht annähernd” an die Überlastungsgrenzen kam, ist zudem schlicht falsch. Exemplarisch:
“Wir waren trotz Ausschöpfung aller strukturellen und personellen Reserven zum Beispiel im Dezember 2020 zeitweise nicht in der Lage, alle Patienten aufzunehmen, die uns zum Teil mit dringenden Krankheitsbildern zur Aufnahme/Übernahme angeboten wurden”, sagt Joachim Ficker, der auch als Professor lehrt, unter anderem an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Quelle: https://www.br.de/nachrichten/wissen/krankenhaus-zahlen-sind-die-jahre-2020-und-2019-vergleichbar,SQaPwhQ
5. “In aller Regel wird dieses Argument damit begründet, dass die Inzidenzen unter Ungeimpften deutlich höher sind als unter Geimpften (siehe die gestrige Begründung des österreichischen Bundeskanzlers zum Lockdown für Ungeimpfte und analoge Äußerungen in DE) und/oder dass man dies an der höheren Hospitalisierung von Ungeimpften im Vergleich zu Geimpften ablesen könne.”
Nein, das wird nicht in aller Regel bzw. nicht nur damit begründet:
Sondern (auch) so:
“Die Viruslast – und ich meine die isolierbare infektiöse Viruslast – ist in den ersten paar Tagen der Infektion durchaus vergleichbar. Dann sinkt sie bei Geimpften schneller.”
Quelle: https://www.zeit.de/2021/46/christian-drosten-coronavirus-virologie-pandemie-wissenschaft-impfung/komplettansicht
6. “Es gibt schlichtweg keinen Unterschied zwischen diesen nur noch auf dem Papier Geimpften und Ungeimpften, weshalb dann auch Maßnahmen auf der Basis einer solchen Differenzierung nicht rechtmäßig sein können. ”
Wie die obig verlinkte Grafik des Wissenschaftsmagazins Spektrum belegt, ist das nicht richtig, weil bei Comirnaty auch nach 6 oder mehr Monaten ein gewisser Schutz vor symptomatischer Infektion besteht. Evident unzutreffend ist diese Aussage aber bzgl. der Gefahr der Hospitalisierung oder gar Intensivbehandlung (siehe die Quellen oben). Warum dieser massive Unterschied nicht rechtlich berücksichtigt werden sollte, erschließt sich nicht.
Fazit:
Bitte verzichten Sie also darauf, “als Naturwissenschaftler” Ihre ganz persönlichen Deutungen des Pandemie- und Impfgeschehens, das – wie hoffentlich hinreichend dargelegt –, im Widerspruch zum kumulierten Wissen diverser wirklicher Expert*innen steht, als letzte Wahrheit zu verkaufen. Danke.
Werte(r) JH,
ich finde es sehr zuvorkommend von Ihnen, dass Sie versuchen, die von mir angesprochene und für mich doch sehr befremdliche Aussage des Hr Kingreen zu interpretieren. Ich ziehe es aber in solchen Fällen immer vor, die Aussage vom jeweiligen Autor selbst erklärt zu bekommen, anstatt mich in Spekulationen zu vertiefen, wie diese womöglich gemeint gewesen sein könnte. Ich will auch nicht auf alle Ihre Punkte eingehen, weil uns dies zwingen würde, länglich in die Tiefen der Naturwissenschaft hinab zu steigen, was dann für diesen Blog wohl eher nicht so interessant sein dürfte. Nachdem ich im Gegensatz zu Ihnen mit vollem Namen poste und auch sehr leicht zu googeln bin, lade ich Sie ein, mir ein E-Mail zu schicken und ich werde dann zu jedem Ihrer Punkte ausführlich Stellung nehmen und aufzeigen, wo Sie falsch liegen in Ihrer Argumentation.
Hier möchte ich nur den Punkt 1 herausgreifen, weil der für (Verfassungs-)Juristen wohl am interessantesten ist. Wie ich dem Post von Karsten D. entnehme, hat Hr Kingreen eine Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesnotbremse eingelegt mit folgender Begründung:
„In der Sache bestehen erhebliche methodische und in den Fachwissenschaften mittlerweile sehr verbreitet geteilte Bedenken, den Inzidenzwert zum alleinigen Maßstab für die Auslösung schwerwiegender Grundrechtseingriffe zu machen. Mit den schwankenden Zahlen nach den Osterfeiertagen aufgrund der geringeren Anzahl von Tests und verzögerten Meldungen ist erneut deutlich geworden, wie unzuverlässig dieser Indikator ist.“
Mir war diese Verfassungsbeschwerde nicht bekannt, aber genau das war auch mein Argument, weshalb ich auch als bekennender Nicht-Jurist eine gewisse Befriedigung empfinde, dass ein “Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht” meine Meinung teilt (aber das nur am Rande). Die Methodik, mit der das RKI die Fallzahlen erhebt, die dann auf Inzidenzen bezogen auf die Bevölkerung hoch gerechnet werden, ist schlicht und einfach vom Ansatz her nicht geeignet, Werte zu ermitteln, die aussagekräftig für die Bevölkerung sind. Hr Kingreen führt hier als Beleg die berühmten Osterfeiertage 2021 auf, an denen das RKI selbst vor seinen eigenen Zahlen warnte und coram publico erklärte, dass man sich auf diese nicht verlassen könne. Durch die Einführung der Vorschriften zur Testung von Geimpften und Ungeimpften sowie der verstärkten Testung von Schulkindern wurde die Datenbasis für diese Fallzahlen im statistischen Sinne noch “falscher”. Die Datenbasis und damit auch die daraus errechneten Inzidenzen sind heute mit einem noch größeren statistischen Bias behaftet als an Ostern 2021, wo der Hr Kingreen schon der Ansicht war, dass dies eine Verfassungsbeschwerde rechtfertigt. Kein Mensch kann Ihnen sagen, ob die heutige Inzidenz von 1000 wirklich einen anderen Anteil an Infizierten in der Bevölkerung widerspiegelt als der Wert von 200 an Ostern. Es gibt durchaus Gründe anzunehmen, dass dies nicht der Fall ist. Oder ein bisschen plastisch formuliert: Sie bekommen ein Strafmandat wegen Geschwindigkeitsübertretung und darauf ist die Geschwindigkeit lapidar als “zu schnell” angegeben. Auch dieses Strafmandat ist natürlich nicht gefälscht, so wie auch die Inzidenzen nicht gefälscht sind, wie gelegentlich behauptet wird. Das Strafmandat ist für juristische Zwecke einfach ungeeignet, so wie es die Inzidenzen des RKI auch sind.
Die Exekutive basiert also ihre Entscheidungen auf Zahlen, die aus prinzipiellen Gründen nicht zuverlässig sind und sein können. Die wahre Situation in der Population spiegeln diese Zahlen wieder oder auch nicht — das weiß einfach niemand. In Einheiten mit einer Größe unter einigen 100.000 Einwohnern, was für viele Landkreise und die meisten kreisfreien Städte im Lande zutrifft, haben die Zahlen mehr oder weniger die gleiche Zuverlässigkeit wie die Lotto-Ziehung am Samstag und für größere Einheiten können sie halbwegs richtig sein oder auch nicht. Solche Zahlen bezeichne nicht nur ich als statistischen Sondermüll. Ich kann nicht erkennen, wie dieser Zustand in irgendeiner Weise mit dem Grundgesetz und dem Gebot der Bestimmtheit und der Normenklarheit in einem Rechtsstaat in Übereinstimmung zu bringen ist und der Hr Kingreen ganz offensichtlich auch nicht.
Umso mehr wundert mich, dass sich der Hr Kingreen und Sie hier so vehement in die Bresche werfen und die deutsche Justiz pauschal gegen Kritik verteidigen. Ich weiß selbstverständlich, dass unter Juristen das Argument lautet: warten wir mal auf das Hauptverfahren, das Eilverfahren lässt noch keine Schlüsse zu. Und: wir haben Pandemie, da muss man der Exekutive auch zugestehen, dass sie nicht alles so präzise weiß. Letzteres Argument wurde auch in diesem Blog schon ausreichend gewürdigt — nach fast zwei Jahren Pandemie ist das halt ein bisschen arg dürftig. Ich wage mir nicht auszumalen, was die Reaktion des Hr Kingreen wäre, wenn einer seiner Doktoranden mit so eine Aussage zum Stand seiner Arbeit käme. Ich weiß, was mir mein Doktorvater gesagt hätte. Oder wenn ich die Argumentation des Hr Gallon aufgreife: wo genau ist eigentlich der Nachweis der Geeignetheit zu suchen, wenn wir nach zwei Jahren Pandemie und allen möglichen — ich vermeide das böse Adjektiv verfassungswidrigen — Maßnahmen exakt wieder da stehen wie am Anfang? Ist dies wirklich kein ausreichender Nachweis der Nicht-Geeignetheit? Oder ist es verfassungsrechtlich auch zulässig, die Exekutive halt mal so lange etwas ausprobieren zu lassen, bis ihr nichts mehr einfällt und sie von alleine aufgibt? Oder ist dies, um in die Kerbe des Hr Kingreen zu schlagen, womöglich ein Beleg dafür, dass die Exekutive mit systematisch falschen Zahlen und ungeeigneten Konzepten arbeitet? Und zum Argument des nicht so wahnsinnig wichtigen Eilverfahrens muss man nicht mehr sagen als die Feststellung zu treffen, dass es beispielsweise den Kindern, denen angemessene Schulbildung vorenthalten wird, wenig hilft, wenn dann ein Gericht nach zwei Jahren entscheidet, dass das leider verfassungswidrig war. Der juristische Laie konnte das schon dem Eilantrag entnehmen. Um es bewusst polemisch zu formulieren: hier versteckt sich die deutsche Richterschaft (und auch der Hr Kingreen) hinter legalistischen Schnörkelchen, um keine Urteile fällen zu müssen. Dies ist zwar menschlich durchaus verständlich, schließlich will niemand in der BILD als “enemy of the people” und in Anlehnung an einen Debattenbeitrag des Hrn Söder als Mörder der an Corona verstorbenen Oma an den Pranger gestellt werden. Aber dem Ansehen der deutschen Justiz ist damit herzlich wenig gedient und dem Erfolg der Corona-Politik, wie wir inzwischen ausgiebig sehen, auch nicht.
Und am Rande: mit der von Ihnen hierzu zitierten Aussage von Virologen hat dieses Problem wenig bis nichts zu tun. Ein Mediziner wird Sie, um obiges Beispiel aufzugreifen, immer davor warnen, dass sie bei einem Unfall umso schlimmere Schäden davontragen werden, je schneller sie dran sind. Ob der Mediziner jetzt ihre Geschwindigkeit kennt oder nicht, ist für ihn und Sie im Kontext dieser Aussage völlig irrelevant. Als Jurist, der Sie anscheinend sind, sollten Sie das eigentlich erkannt haben.
Vielen Dank für die Klarstellungen zum Thema Brandbekämpfung, insbesondere den in der politischen und medialen Diskussion leider so gut wie nie beachteten Hinweis auf die mehr als überfällige Außerkraftsetzung – besser wäre noch komplette Streichung – der eigentümlichen Ermächtigung des Bundesministeriums für Gesundheit, Rechtsverordnungen „in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben“ (§ 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 IfSG) erlassen zu können, obwohl wir zu keinem Zeitpunkt seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie einen handlungsunfähigen Bundestag hatten.
Zur laufenden Diskussion über die „Ampel-Pläne“ im Übrigen der folgende Vorschlag zur Güte: lassen wir doch den § 28a Abs. 7 IfSG in der gegenwärtigen Fassung in Kraft und geben den Ländern damit weiterhin die Gelegenheit, sofern sie dies für erforderlich halten, auch weitergehende Maßnahmen des Abs. 1 nach einem entsprechenden Landesparlamentsbeschluss in Kraft zu setzen, über deren Bestand dann – wie bisher – die Verwaltungsgerichte mit Blick auf die pandemische Lage im jeweiligen Bundesland zu entscheiden hätten. Dann könnten Herr Söder und andere auch nicht mehr so einfach von ihrer eigenen Verantwortung ablenken und angeblich erforderliche bundesweite Entscheidungen einfordern, die den regionalen Unterschieden des Pandemiegeschehens weder politisch noch rechtlich ausreichend Rechnung tragen. Der auch von Kingreen angebrachte Hinweis, in manchen Landesparlamenten könnte es schwer werden, für ein solches Vorgehen politische Mehrheiten zu bekommen, kann wohl im föderalen Rechtsstaat nicht ernstlich ein Gegenargument sein.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Tendenz dieser Diskussion” traurig ist, weil sie so symptomatisch ist, oder ob sie symptomatisch ist, weil sie so traurig ist. Niemand hat behauptet, dass der Staat nur auf der Basis sicheren Wissens handeln dürfe. Gewiss findet sich immer noch eine Statistik, die an vermeintlich bereits Gewissem zweifeln lässt, und gewiss auch immer noch ein Statistiker, der sie besser lesen kann als andere. Und natürlich ist das zur Kenntnis zu nehmen. Dass die Impfung nicht helfen würde und dass sie nicht wirksam ist, lässt sich aber seriös nach Faktenlage nicht behaupten. Wenn man sich impfen lassen könnte, es aber nicht will, und deshalb zu Recht ein schlechtes Gewissen hat, wird man das eigene Gewissen dadurch beruhigen wollen, dass ja alles irgendwie noch gar nicht so klar ist. Doch warum sind die Inzidenzen in breiter geimpften Bevölkerungen (da muss man nur in der EU schauen) so deutlich niedriger? Nur wenn man eine gewisse Faktengrundlage anerkennt, kann man überhaupt darüber diskutieren, was jetzt notwendig und verhältnismäßig ist. Und das ist dringlich, etwa im Hinblick auf die vielen Kinder ohne Impfschutz. Insofern besten Dank für den Beitrag, lieber Thorsten!
Sehr geehrter Herr Sauer,
Ihre Anmerkung trifft, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, den Nagel auf den Punkt. Um die Verfassungsbeschwerde des Hr Kingreen und meine Bemerkungen zum statistischen Sondermüll des RKI in einen anderen Kontext zu stellen: welches Bild zeichnet ein Staat von sich, der seinen Bürgern gegenüber tritt und die massivsten Grundrechtseingriffe seit seinem Bestehen über zwei Jahre hinweg mit Zahlen, dem Inbegriff von Aussagen zu Fakten, begründet, von denen er selbstverständlich weiß, dass sie systematisch falsch und irreführend sind? Selbstverständlich weiß er das, weil natürlich auch im RKI Leute arbeiten, die Ahnung von Statistik haben. Welches Staatsverständnis spricht aus einem solchen Handeln? Welches Staatsverständnis lassen Gerichte erkennen, die solches Handeln nur dann unterbinden, wenn prozedurale Verstöße nicht mehr übersehen werden können und ansonsten die Aussagen zu Fakten, wie Sie es nennen, einfach ungeprüft übernehmen, weil ja, wie Hr Kingreen es formuliert, die nach dem Gesetz zuständige Behörde diese Aussagen tätigt? Oder um Pressemeldungen aus der Urteilsbegründung eines OVG zu paraphrasieren: klar ist es verfassungswidrig, was die Regierung da tut, aber sie sagt halt, dass es sein muss.
Hr Gallon hat in seinem Beitrag heraus gearbeitet, welche Bedingungen aus verfassungsrechtlicher Sicht erfüllt sein müssen, um diese Grundrechtseingriffe rechtfertigen zu können. Ich bin nicht immer seiner Meinung, etwa zum Thema Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems und welche konkreten Forderungen daraus abzuleiten sind. Aber ich würde vermuten, dass Hr Gallon mit mir einer Meinung ist, dass für alles eine zwingende Voraussetzung ist, mit gesicherten Fakten und Zahlen zu argumentieren. Dies liegt auch in der alleinigen Verantwortung desjenigen, der die Grundrechte einschränken will, und dieser Verantwortung ist in den vergangenen zwei Jahren die Exekutive nur pauschal auf der intellektuellen Ebene des Satzes “ist doch klar, dass das sein muss” nachgekommen.
Es ist sicher richtig, dass der Staat nicht nur auf der Basis gesicherten Wissens arbeiten kann. Aber man sollte von ihm schon verlangen, dass er sich wenigstens um gesichertes Wissen bemüht, was bis heute zum Thema Corona nicht der Fall war. Und selbst wenn man all dies ignoriert, bleibt das unbestreitbare Faktum, dass nach zwei Jahren Pandemie kein Beleg für die Erfüllung des Gebots der Geeignetheit existiert. Als Naturwissenschaftler würde ich dazu bemerken: wenn man das eigene Handeln auf falsche Fakten und Theorien basiert, braucht man schon sehr viel Glück, um am Ende einen Erfolg verzeichnen zu können.
Als Jurist verwundert es doch sehr, dass nicht nur die Gerichte sondern auch die Rechtswissenschaft Veröffentlichungen des RKI und anderer Behörden als unumstößliche Beweisgrundlage für ihre Entscheidungen und rechtliche Bewertungen hernimmt. Anfang 2020 mag dies mangels Alternative noch legitim gewesen sein, heute ist es das nicht mehr. Man muss sich das einmal vor Augen halten: Die Judikative trifft Entscheidungen über Maßnahmen der Exekutive anhand von Bewertungen der Exekutive. Überspitzt gefragt: Braucht es dann überhaupt noch einer gerichtlichen Überprüfung?
Auch der sog. Booster ist nicht der Heilsbringer, wie in der Öffentlichkeit breit kolportiert wird. Entweder wird an dieser Stelle bewusst in die Irre geführt oder viele haben nicht die notwendigen Statistikkenntnisse. Exemplarisch sei verwiesen auf: https://www.rwi-essen.de/unstatistik/119/ Übrigens ist die Grundproblematik kein neues Phänomen, sondern findet sich auch bei Nutzen-Risiko-Abwägungen von Brustkrebs-Screenigs (vgl. https://www.rwi-essen.de/unstatistik/120/ ) oder PSA-Tests.
Ebenso defizitär ist auch das den Einschätzungen und Entscheidungen zu Grunde liegende Datenmaterial, das weit überwiegend nicht aus Primär- sondern allenfalls Sekundärquellen bezogen wird (z.B. DIVI). Schaut man sich die von den Krankenhausträgern selbst zur Verfügung gestellten Daten an (z.B. https://www.helios-gesundheit.de/qualitaet/auslastung/ ), so ergibt sich doch ein wesentlich differenzierteres Bild.
Herr Kingreen,
der oben ausgesprochene Vorwurf, die Rechtswissenschaft beschäftige sich nicht hinreichend kritisch mit dem Geschehen, ist ungerecht. Auch in Ihrem Beitrag war dies deutlich.
Auf diesem Blog wurde eine Kritik der ersten Stunde publiziert:
https://staging.verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/
in der die “epidemische Lage nationaler Tragweite” vorausgeahnt wurde am Beispiel eines bayrischen Landkreises. Der entscheidende Sündenfall wurde begangen von der bayrischen Landesregierung zwei Tage nachdem das Bundesministerium für Gesundheit, ich nehme an, in voller Aufrichtigkeit, twitterte:
“❗️Achtung Fake News ❗️
Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT!
Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen. ” (14.03.2020)
Genau das wurde dann in Bayern Wirklichkeit, und eine gute Woche später in der ganzen Bundesrepublik. Bis dahin konnte sachgerecht agiert werden, seitdem höchstens eingeschränkt.
Ich will mal die Metapher der Feuerwehr aufgreifen – beginnend mit dem schönen Bild des klemmenden Schlüssels zum Feuerwehrhaus . . .
Das IfSG alter Fassung enthielt alle gängigen Brandbekämpfungsmittel, und jede Feuerwache war in soweit ausgestattet. Das mit dem klemmenden Schlüssel hätte man unter handwerklich nicht unbegabten Kollegen bald hingekriegt.
Unter dem IfSG alter Fassung, das immerhin auch die Pest ausdrücklich als Zuständigkeitsgebiet nannte, einem Gesetzeswerk mit langer Geschichte, waren die regionalen Gesundheitsbehörden, also die Feuerwachen, mit der Zuständigkeit betraut.
Mit dem IfSG neuer Fassung, das wenn man bös will, einen begangenen Rechtsbruch nachträglich legalisierte, haben sich selbsternannte Brandoberbekämpfer, ohne jegliche fachliche Praxis, der Schlüssel zu den Feuerwehrhäusern bemächtigt. Sie bestimmen zudem, ob es sich um einen Schwelbrand, oder ein Lauffeuer handelt. Dabei helfen ihnen die Volksmeinung, Twitter und Facebook, die Tagespresse, die aufgreift, was in Twitter und Facebook trendet.
Manchmal reden sie auch mit Brandmeistern.
Bloß ist die Stimmung so, das jeder lieber vorsichtig ist, was er sagt.
Unser Problem liegt jenseits der Wissenschaft. Es liegt in der wissenschaftlich gesicherten Tatsache begründet, dass der Mensch auch ein zur Un-Vernunft begabtes Wesen ist.
Im Blogbeitrag ging es darum, ob man die epidemische Lage von nationaler Tragweite trotz der aktuellen brisanten Entwicklung aufheben darf oder soll. Diskutiert wurde statt dessen vor allem über die Wirksamkeit von 2G bzw. der Impfungen und darüber, wer etwas von Statistik versteht und wer nicht.
Interessanter wäre gewesen, ob die These, die Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite sende jetzt das falsche Signal, juristische Relevanz hat, d.h. ob es für Gesetze so etwas wie eine “Eindruckslegitimation” gibt.
Lieber Herr Kingreen,
mehrfach haben Sie in der Corona-Debatte, aber auch in den Jahren zuvor etwas in der Auseinandersetzung über das bayerische Polizeirecht rechtsstaatliche Klarheit, verwaltungsrechtliche Präzision und ein genuines Freiheitsverständnis gezeigt. Ja, schade, dass Ihre Zeilen ausgerechnet Franz Meyer treffen mussten, aber es ist notwendig. Die „Epi-Lage“ nicht zu verlängern war notwendig. Andernfalls wird die Freiheit scheibchenweise sterben. Und sie kann einfachgesetzlich wieder festgestellt werden. Dazu muss ein Parlament die Kraft finden.
Eine mit Zwang durchgesetzte Impfpflicht wäre unangemessen, doch soziale Isolation und ökonomische Einbußen müssen die Impfunwilligen dann hinnehmen.
Die Freiheit des Mandats beinhaltet die Freiheit zur „non decision“-Politik. Sie hilft aber niemandem, sondern lässt Freiheiten „unentschieden“ versanden. Abgeordnete sollten das für den weiteren Corona-Kurs berücksichtigen
Danke für, Ihr klaren Zeilen, die alle Studierenden des Rechts sollten formulieren können. Doch da wachsen meine Zweifel.
Mit freundlichen Grüßen
Dirk Herkströter