Parlamentarismus in der Pandemie
Beobachtungen und Thesen
I. Grundlegungen
1. Das Verhältnis von Regierung und Parlament ist im Verfassungstext – auf Bundes- und Landesebene – nur teilweise fixiert. Das Verfassungsrecht lässt Raum für unterschiedliche Akzentsetzungen, wie Florian Meinel unlängst in seiner lesenswerten Studie zur Krise des heutigen Parlamentarismus (Vertrauensfrage, 2019) betonte. In den Anfangsjahren wurde die Bundesrepublik Deutschland als „Kanzlerdemokratie“ bezeichnet. Erst später entwickelte sie sich – bei gleichbleibendem Verfassungstext – zur „parlamentarischen Demokratie“. Mit dem Begriff „parlamentarische Demokratie“ wird die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments hervorgehoben, mit Konsequenzen für die Reichweite der personellen und funktionellen Verschränkung von Exekutive und Legislative (z.B. Kompatibilität von Mandat und Regierungsamt; Umfang zulässiger Delegation von Gesetzgebung an die Exekutive). Die parlamentarische Demokratie führt zu einer Gewaltengliederung, die keinem Trennungspurismus das Wort redet.
2. Ein wichtiger verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt für die Verhältnisbestimmung von Parlament und Regierung sind die sich aus dem Demokratieprinzip ergebenden Anforderungen an die demokratische Legitimation des Regierungshandelns. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung folgert aus dem Demokratieprinzip, dass exekutives Handeln ein hinreichendes Niveau personeller und sachlicher Legitimation aufweisen müsse. Den wesentlichen Legitimationsmodus bilden Wahlen zum Parlament, das damit unmittelbar demokratisch legitimiert ist. Diese Legitimation wird an die Exekutive durch die parlamentarische Regierungsbildung und durch die Bindung an das Parlamentsgesetz (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes) „weitergeleitet“. Aus verfassungsrechtlicher Sicht erfolgt demokratische Legitimation ausschließlich „input“-orientiert. Der fachliche Erfolg oder die demoskopisch erfasste Akzeptanz von Regierungshandeln, der „output“, begründen im Rechtssinne keine Legitimation. Das gilt auch in Krisenzeiten. Erfolge der Exekutive bei der Krisenbewältigung verschaffen ihr demokratisch gesehen keine Sonderlegitimation.
3. Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt, insbesondere der sogenannte „Wesentlichkeitsvorbehalt“, bildet einen weiteren zentralen Anknüpfungspunkt für die verfassungsrechtliche Verhältnisbestimmung von Parlament und Regierung. „Wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen“ hat der parlamentarische Gesetzgeber „selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen“ (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Dezember 2017, Az. 1 BvL 3/14, Rn. 116). Was das genau vom Gesetzgeber verlangt, bemisst sich nach dem konkreten Regelungsgegenstand und den weiteren Umständen.
4. Der Gesetzesvorbehalt ist Ausdruck der Gewaltengliederung und hebelt diese nicht aus: Legislative, Exekutive und Judikative haben je eigene Funktionen und Aufgabenkreise. Daraus ergeben sich zwei wesentliche, dialektische Konsequenzen: Der parlamentarische Gesetzgeber darf einerseits grundsätzlich nicht in der Handlungsform des Gesetzes „verwalten“, etwa einzelfallspezifisch einer bestimmten Person eine konkrete Verhaltensanweisung machen. Der Wesentlichkeitsvorbehalt prägt andererseits aber auch die Grenzen, die dem Parlament bei der Delegation von Gesetzgebungsaufgaben an die Exekutive gesetzt sind (Art. 80 I GG). Das deutsche Verfassungsrecht verbietet eine parlamentarische Selbstentmächtigung. Unvorhersehbare Ereignisse oder ein hochdynamisches Geschehen, für das es noch kein Erfahrungswissen gibt, rechtfertigen für einen überschaubaren Zeitraum auch den Rückgriff auf vergleichsweise unbestimmte Ermächtigungen. Je mehr Routinen sich in der Verwaltungspraxis und im alltäglichen Lebensvollzug einstellen, desto strenger werden dann aber wieder die Anforderungen, die Art. 80 I 2 GG zu entnehmen sind.
2. Konkretionen: Funktionen der Parlamente in der Pandemie
1. Das Krisenmanagement in der SARS-CoV-2-Pandemie verlangt eine Fülle an Maßnahmen, die in die typischen Kernkompetenzen der Exekutive fallen (Normanwendung in der Eingriffs- und Leistungsverwaltung sowie Infrastrukturverwaltung im Bereich der Seuchenbekämpfung, Behördenkoordination). Doch nur die Parlamente in Bund und Ländern können als die gesetzgebenden Organe die thematisch breit aufgestellte Krisenbegleitgesetzgebung erbringen, etwa Sonderregelungen zum Insolvenzrecht, zum Mietschutz oder zum Organhandeln juristischer Personen unter Pandemiebedingungen erlassen. Nicht zuletzt das parlamentarische Budgetrecht (siehe etwa Art. 65 IV, Art. 67 NV) bildet die Folie, vor der sich auch in Zeiten einer Pandemie politische Gestaltungsansprüche abzeichnen lassen können müssen.
2. Diese klassischen Aufgaben der Parlamente können diese ungeachtet der Pandemie auch wahrnehmen: Das InfSchG und die auf dieser Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen können die verfassungsrechtliche Befugnis des Parlaments, sich zu versammeln, nicht beschränken. Gleiches gilt für das Recht der Abgeordneten zur Mandatswahrnehmung. Einschränkungen im parlamentarischen Alltag können sich in einer Pandemie aber aus dem Parlamentsrecht selbst ergeben, etwa zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung. Soweit einzelne Länderverfassungen Regelungen zu einem „Notparlament“ kennen (vgl. etwa Art. 62 Verf. B.-W., Art. 113 Sächs.Verf.), fanden diese bislang, soweit ersichtlich, keine Anwendung. Gleiches gilt für Bestimmungen zum Notverordnungsrecht (Art. 44 NV). Vorschläge des Bundestagspräsidenten, in das Grundgesetz Regelungen zu einem Parlamentsrechte wahrnehmenden Notfallausschuss aufzunehmen, wurden seitens der Fraktionen im Bundestag nicht aufgenommen. Es kam allerdings in Bund und Ländern zu informellen Verabredungen über die Anzahl der im Plenum anwesenden Abgeordneten, über Pairing-Verfahren und zu Anpassungen im Geschäftsordnungsrecht. In der momentanen Parlamentspraxis scheint man mit solchen Arrangements auszukommen.
3. Soweit in den rechtswissenschaftlichen und politischen Debatten der letzten Wochen und Monate das Verhältnis von Parlament und Regierung in Pandemiezeiten problematisiert wurde (im Überblick etwa Heinig et al., JZ 2020, 861 ff. mit weit. Nachw.), ging es im Kern um einen klar definierten Bereich: Die Frage, welchen Konkretisierungsgrad die unmittelbar infektionsschutzrechtlich maßgeblichen abstrakt-generellen Bestimmungen zur Gefahrenabwehr und Risikovorsorge annehmen müssen, um auf ihrer Grundlage sachlich gebotene und rechtsstaatlich abgesicherte Maßnahmen treffen zu können. Reformulieren ließ sich das Anliegen als Forderung, die Praxis des Infektionsschutzes rückzubinden an ein parlamentarisch stärker vorgezeichnetes Gesetzesregime. Einige Stationen seien nachgezeichnet: Bis Mitte November 2020 stützten sich die Verhaltensanforderungen an die breite Bevölkerung im Wesentlichen auf Rechtsverordnungen, die die Länder auf Grundlage der äußerst vage formulierten §§ 28, 32 InfSchG erlassen haben. Ihnen voraus ging ein Verfahren informeller Gubernativkoordination zwischen Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten. Die Ministerpräsidentenkonferenz dominierte das politische Feld. Doch je länger die Pandemie dauerte, desto vernehmbarer waren Stimmen aus der Rechtswissenschaft, die in Zweifel zogen, dass §§ 28, 32 InfSchG in der Fassung vor dem 18. November 2020 eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage für die mit weitreichenden Grundrechtseingriffen verbundenen Rechtsverordnungen der Länder enthalten. Zunehmend zeigten sich auch Verwaltungsgerichte skeptisch. Manche Beobachter meinten, die zunehmende Intensivierung gerichtlicher Kontrolle diene auch als Kompensation ausbleibender parlamentsgesetzlicher Verdichtung der Maßstäbe. Der Bundesgesetzgeber reagierte auf diese Situation nun mit der Novellierung des InfSchG. In Wissenschaft und Politik wurde vorab intensiv um die Frage gerungen, wie weitreichend der Bundestag selbst die Maßnahmen regeln muss. Der zunächst eingebrachte Gesetzentwurf zählte im Wesentlichen die bisherigen Maßnahmen aus den Ländern nur additiv auf. Der Regelungsansatz stieß in der Expertenanhörung vor dem Gesundheitsausschuss auf deutliche Kritik. Die Beschlussempfehlungen sahen daraufhin weitere Änderungen mit konkretisierenden Bestimmungen und präzisierenden Stufungen vor. Zugleich hat der Bundestag davon Abstand genommen, Detailregelungen zu den Voraussetzungen einzelner Standardmaßnahmen zu verabschieden. Pandemiebedingte Verhaltensanforderungen der Bürgerinnen und Bürger werden weiterhin durch Rechtsverordnungen der Länder festgelegt. Hierfür wurden exekutive Berichts- und Begründungspflichten statuiert. Mit dieser Novellierung dürfte der Bundesgesetzgeber im Großen und Ganzen den aus Art. 80 I GG und dem grundgesetzlichen Wesentlichkeitsvorbehalt abgeleiteten Mindestanforderungen Genüge getan haben. Mehr aber auch nicht.
4. In der Folge kommen insbesondere Parlamentsrechte auf der Ebene der Länder in den Blick: In Niedersachsen legt z.B. Art. 25 NV eine Mindestbeteiligung in Form einer „frühzeitigen und vollständigen“ Unterrichtung über Gegenstände grundsätzlicher Bedeutung, darunter die Vorbereitung von Gesetzen, durch die Landesregierung fest. Dem Sinn und Zweck der Norm entsprechend findet sie auch Anwendung bei Bundesermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen.
Zudem erlaubt Art. 80 IV GG eine weitergehende Parlamentarisierung der nunmehr durch §§ 28a, 32 InfSchG delegierten Rechtsetzung. Die Landesparlamente können das delegierte Rechtsetzungsrecht an sich ziehen und sich in den Umsetzungsprozess „zwischenschalten“. Den Landesparlamenten obliegt hierbei jedoch keine Regelungsdichte wie bei exekutiven Verordnungen; vielmehr können sie die an sich gezogenen Befugnisse auch ihrerseits nach Maßgabe des Landesverfassungsrechts weiterdelegieren und sich hierbei Mitwirkungs- und Kontrollrechte vorbehalten. Je nach Gestaltung lassen sich so Vorzüge der exekutiven Rechtsetzung (insbesondere Schnelligkeit und direkte Verarbeitung ministeriellen Fachwissens) mit Vorzügen parlamentarischer Rechtsetzung (stärkere Ausrichtung an der Verarbeitung pluraler Interessen, Qualitätssicherung durch retardierende Verfahrensgestaltung und Einspeisung externer Expertise) verbinden.
Die weitestgehende Fassung solcher parlamentarischen Mitwirkungs- und Kontrollrechte wäre der Zustimmungsvorbehalt. Ein solches Vorgehen ist nicht frei von Risiken, auch im Verhältnis zur Regierung. Das Parlament begibt sich damit nämlich in eine Ratifikationssituation, die sich von der üblichen parlamentarischen Gesetzgebung unterscheidet. Mit der Zustimmung übernähme das Parlament auch die politische Verantwortung für alle Details der von der Regierung getroffenen Regelung. Das reichte über die allgemeine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung hinaus.
Jedenfalls sollte bei einer Parlamentarisierung der Rechtsverordnungs-Regime vermieden werden, Ebenen und Organe des politischen Entscheidens so zu verflechten, dass Verantwortung gar nicht mehr richtig adressiert werden kann. Denn das rührte an den Kern demokratischer Verantwortlichkeit. Demokratie lebt davon, dass Organwalter für die Folgen ihrer Entscheidungen sinnigerweise haftbar gemacht werden können. Wählerinnen und Wähler müssen wissen können, wen sie abwählen müssen, wenn sie eine andere Politik bevorzugen. Oder wen sie wählen müssen, um durch erfolgreiches Krisenmanagement gewonnenes Vertrauen politisch zu prämieren.
Andererseits: Mit einer Beteiligung der Landesparlamente an der vom Bund delegierten Rechtsetzung auf Grundlage des InfSchG würde man einen Gegenakzent zur sonst vom Bund induzierten Exekutivlastigkeit auf Landesebene (Landesverwaltung als ausführende Verwaltung des Bundesrechts, Beteiligung der Landesregierungen an der Bundesgesetzgebung über den Bundesrat) setzen. Zugleich würde ein parlamentarischer Zustimmungsvorbehalt die demokratische Legitimation des landesrechtlichen Arrangements der Pandemiebekämpfung steigern.
Potentiell trüge er zudem dazu bei, sie gerichtsfest zu machen. Tendenziell billigt die Rechtsprechung dem Parlament einen breiteren Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum zu als der Exekutive. Das verfassungsgerichtliche Normverwerfungsmonopol griffe freilich nur für das vom Landesparlament verabschiedete Parlamentsgesetz. Bei einer unter Rückgriff auf Art. 80 IV GG erfolgten landesgesetzlichen Subdelegation mit Zustimmungs- oder sonstigem Mitwirkungsvorbehalt bliebe die Handlungsform der Rechtsverordnung unberührt.
5. Dem Parlament kommt in unserer liberalen Demokratie eine zentrale politische Integrationsfunktion durch Repräsentation zu. Diese Integration durch Repräsentation hat eine Entscheidungs- und eine Kommunikationsdimension. Deshalb setzt das Verfassungsrecht der Verlagerung parlamentarischer Entscheidungen auf andere Organe Grenzen. Doch auch die Kommunikationsfunktion des Parlaments lässt sich nicht substituieren. Es macht für die politische Integrationsleistung einen Unterschied, ob über die Ausrichtung der Pandemiemaßnahmen nur in Talkshows und in vertraulichen Regierungskonferenzen mit nachfolgenden Pressekonferenzen gestritten wird oder eben auch und in prominenter Weise im Rahmen einer – gar argumentativ niveauvollen – parlamentarischen Debatte. Wenn Parlamente diese kommunikative Integrationsfunktion erfolgreich wahrnehmen, d.h. auch politische Alternativen zu Mehrheitsentscheidungen zur Darstellung bringen, hat das Auswirkungen auf die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen. In den letzten Monaten haben Gruppen, die sich durch extreme, mit Verschwörungsmythen ausgekleidete Postulate auszeichnen, mit gewissem Erfolg politisch mobilisiert. Je sichtbarer in der parlamentarischen Arena Für und Wider einzelner Maßnahmen der Pandemiebekämpfung – auch im Horizont unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Ordnungsvorstellungen – thematisiert werden, desto geringer dürfte der Zuspruch für solche teils ausgesprochen bizarre Bewegungen ausfallen.
3. Blaupause für zukünftige Zukunftsfragen
Die SARS-CoV-2-Pandemie wirft Schicksalsfragen für die jetzigen Generationen auf. Heutige Entscheidungen werden lange nachwirken. Pandemien sind Zeiten für Disruptionen und Innovationen. Aber es drohen auch falsche Weichenstellungen, die zu neuen Pfadabhängigkeiten führen. Das gilt auch für die zukünftige Rolle des Parlamentarismus – insbesondere auf Landesebene. Nun, unter Bedingungen hoher Ungewissheit über die Infektionsdynamik, über die weitere volkswirtschaftliche Entwicklung und über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den nächsten Monaten, entscheidet sich, welche Art von Demokratie wir in den nächsten Jahren haben werden, wie erfolgreich parlamentarische Repräsentation zur politischen Integration beiträgt und welche Bedeutung sachliche Gründe und wissenschaftliche Evidenzen für politisches Entscheiden haben werden. Mit weitreichenden Folgen für die Frage, welche Rolle Parlamente generell bei der Beantwortung großer und herausfordernder Zukunftsfragen spielen werden.
Dem Beitrag liegt eine Stellungnahme des Verfassers für den Niedersächsischen Landtag zugrunde.