06 September 2018

Parteienrecht en marche?

Die Diskussion um die Gründung einer neuen Sammelbewegung “Aufstehen” wirft viele Fragen auf. Eine davon lautet: Wie reagiert das Recht? Warum ist unser Parteienrecht so, wie es ist? Eine Anfrage – fast noch ohne Antworten.

I.

Der Begriff der „Bewegung“ ist in Deutschland historisch negativ besetzt. Aber hier soll es nicht um Begriffe, sondern um die Sache gehen. Auch ist der Verfassungsblog nicht der Ort, die Frage zu diskutieren, ob eine neue Sammlungsbewegung links der Mitte wirklich das ist, was wir am dringlichsten brauchen. Und er ist auch nicht der Ort zu erörtern, wie viel Porzellan manche Führungsperson zerschlagen haben darf, bis sie sich selbst als Brückenbauerin diskreditiert – mit welcher Bewegung auch immer. Aber neue Organisationsformen können ja auch Medien einer neuen Selbsterfindung ihrer Initiatoren sein. Demokratische Organisationen sind bisweilen lernfähig – und manchmal können die Organisierten auch von ihnen lernen.

II.

Bekanntlich stammen in Deutschland die Parteien von den Fraktionen ab – nicht umgekehrt. Letzteres war im Umfeld der Paulskirche der Fall. Ganz so alt ist unser Parteienrecht zwar nicht. Das Grundgesetz nennt die politischen Parteien und statuiert einzelne wichtige Grundsätze, lässt aber vieles offen. Das Parteiengesetz, ursprünglich von 1967, hat seine letzte grundlegende Revision – außerhalb der Parteienfinanzierung – im Jahr 1994 durchlaufen. Es entstammt also im weiteren Sinne noch dem analogen Zeitalter – es ist Zeit für eine Besichtigung.

Der Parteibegriff (§ 2 PartG) war nicht einfach vom GG oder vom BVerfG vorgegeben (s. Wißmann, in: Kersten/Rixen, PartG, 2009, § 2 Rn 16, 18 ff, 40 ff). Er war daneben eine Ableitung aus unterschiedlichen Parteifunktionen, die teils historisch begründet, teils von Erwartungen an die zukünftige Demokratie des GG gespeist wurden. Sie sollen den Politikbetrieb in Gang halten und die Transformation der politischen Willensbildung vom Volk zum Staat und vom Staat zum Volk organisieren oder zumindest unterstützen. Daraus werden mehrfache Anforderungen hergeleitet, namentlich die Notwendigkeit ihrer strikten begrifflichen Abgrenzung gegenüber sonstigen Vereinigungen, ihre Mitgliederorientierung, ihre Dauerhaftigkeit, Ernsthaftigkeit, Verantwortungs- und Verpflichtungsfähigkeit sowie  ihre Überörtlichkeit. Dafür mag an der einen oder anderen Stelle das Leitbild der Fraktionen Pate gestanden haben. Manches folgt aber auch aus einem deutschen Sonderweg mit Parteienfinanzierung und daraus resultierender Semi-Professionalisierung der Führungen (dazu zählt auch die Gewährung von Vollzeitdiäten für Teilzeitabgeordnete in manchen Bundesländern),  Existenz und Wirken von Parteistiftungen, Medialisierung und Dienstleistungsorientierung der politischen Kultur. Sie wirken sich auch auf die Stellung von Parteiführungen und -mitgliedern aus. Für erstere wird es wichtiger, auf die Meinungsforscher zu hören, und immer unwichtiger, auf die eigene Basis Rücksicht zu nehmen. Parteiführungen legitimieren sich dann weniger als Exponenten ihrer Organisation, sondern zumindest auch in ihren Organisationen als medientaugliche Mehrheitsbeschaffer in der Öffentlichkeit. Nur: Wozu brauchen die Parteien dann noch ihre Mitglieder?

Wegen der innerparteilichen Demokratie! Sie ist sogar verfassungsrechtlich (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) vorgeschrieben, und das aus gutem Grund. Deren Organisation ist im Gesetz nur schwach vorgezeichnet. Demokratie gibt es auf allen Ebenen von unten nach oben, die Gewählten der Unteren sind die Wähler nach oben, verstärkt um Mandatsträger und Parteimitarbeiter (sie sind jedenfalls nirgends vom aktiven oder passiven Parteiwahlrecht ausgeschlossen); man wählt und kontrolliert in Parteitagen und -versammlungen, per Abstimmungen, mit Mehrheit. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung wirken die Bundes- und Landesverbände fast wie Dachorganisationen der örtlichen Untergliederungen. Das heißt aber auch: Die Unterorganisationen, die eigentlich für kommunale Aufgaben da sind, wählen und legitimieren zugleich die Delegierten für die höheren Stufen. Und wer mitwählen will, muss mitwirken. Nur wie? Der Ortsverein ist die Quelle der Parteidemokratie – und nach vielen Berichten manchen Übels. Zwei Impressionen: “Zum Ortsverein gehen heißt für mich an einen Versammlungsort gehen, den ich als Privatperson nie aufsuchen würde” (Professor und einfaches Parteimitglied). “Bei uns im Ortsverein ist bei den Sitzungen für politische Aussprachen und Anträge gar kein Tagesordnungspunkt vorgesehen. Die können nur beantragt werden – für die nächste Sitzung” (Kreisvorsitzende eines Parteijugendverbandes über den Ortsverein ihrer Partei). Wen wundert es da, wenn namentlich junge Menschen sich anderswo engagieren, was sie bekanntlich in vergleichbarem Maße tun wie ältere – nur eben nicht in den Parteien. Und das wird nicht allein ein Problem der Jüngeren. Kurz: Den Parteien und der innerparteilichen Demokratie schlafen die Füße ein. Manche resignieren, andere weichen in Fach- oder Nebenorganisationen aus. Jedenfalls Lobbyisten und Politikberater wissen: Wer politischen Einfluss nehmen will, ist nirgendwo so fehl am Platze wie an der Basis der Parteidemokratie.

Immerhin: Die Stufung hat auch einige Vorteile: Man kann leicht prüfen, wer stimmberechtigt ist und wer nicht. Und man kann feststellen, ob jeder nur in einem Gremium abgestimmt und dort nur die zugelassene Anzahl an Stimmen abgegeben hat. Doch haben die Verfahrenserleichterungen einen hohen Preis, s.o. Und dann bliebt noch ein Argument: Nämlich der parteipolitische Wettbewerb als Bestenauslese. Wer sich auf der Orts- und der Landes- und der Bundesliste durchgesetzt hat, wird sich auch in Parlamenten, Fraktionen und ggf. Regierungen bewähren. Ob das je gestimmt hat? Und ob das wohl noch stimmt? Ich habe keine Zahlen. Aber warum gibt es dann die Theorie der drei Säle (Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal) über Politikerlaufbahnen? Und das Ondit über die Ochsentour: Wer sie nicht als Ochse beginnt, wird sie jedenfalls als Ochse beenden.

III.

Und dabei ist das Grundgesetz doch so offen! Und warum ist das Gesetz dann so verknöchert, und die Wirklichkeit erst recht? Es gibt offenbar Menschen, die ein Interesse am Fortbestand dieser Zustände haben – z.B. manche Parteieliten. Sie bleiben so tendenziell unter sich, die innerparteiliche Demokratie wird irgendwo zwischen ihnen und der Basis graue Theorie. Das eherne Gesetz der Oligarchie (Robert Michels, Zur Soziologie des modernen Parteiwesens, 1911) bewährt sich ein weiteres Mal. Wie lange noch?

1.

Man muss kein Fan von liquid democracy sein, um zu sehen: Demokratie muss nicht auf Modelle der Vergangenheit fixiert bleiben, sie hat auch Innovationspotentiale. Das kann nicht nur im Staat, sondern gerade auch in den Parteien gelten. Immerhin ist das Fußvolk der Parteien zugleich das Fußvolk der Demokratie, also der Staatsform, welcher nicht nur die Parteispitzen ihre Ämter, sondern auch die Parteien ihre Existenz verdanken. Die Frage: „Wofür braucht die Demokratie noch ihre Bürger?“ ist soweit ersichtlich noch nicht gestellt. Denn ihnen verlangt das Grundgesetz einiges ab: Sie sollen nicht nur die Gesetze befolgen, sondern sie auch noch legitimieren, zur Wahl gehen, sich politisch informieren und jetzt auch Extremisten von rechts entgegenstellen. Demokratie ist nicht nur Leistung an die Bürger, sondern verlangt von ihnen auch Gegenleistungen. Um hier das Preis-Leistungs-Verhältnis angemessen zu gestalten, werden neue Formen diskutiert und erprobt, Briefwahlen, demnächst auch e-Wahlen, Bürgerbefragungen, Bürgerbegehren, Volksentscheide. Und in den Parteien? Sie sollten doch eigentlich Vorbilder und Avantgarde demokratischen Lebens sein. Dazu zählt jahrzehntelange Parteimitgliedschaft allein nicht – so verdienstvoll sie auch sein mag. Aber wer, wenn nicht Parteimitglieder, soll ausprobieren, wie es gehen kann? Und wie man neue demokratische Formen ein- und ausüben kann? Die alte Versammlungs- und Vereinsdemokratie kommt an ihr Ende, aber was kommt dann? Hier brauchen wir mehr Mut – auch und gerade in den Parteien und wo nötig im Parteienrecht. Hier sind neue Formen gefragt, welche neue Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, ohne die Leistungen der alten Formen aufzugeben. Wem sollte man deren Erprobung eher übertragen als denjenigen, die Engagement zeigen und Verantwortung übernehmen wollen? Und das sind gerade auch Parteimitglieder. Sie zu entmutigen, heißt die Demokratie von morgen entmutigen – und die fängt schon morgen an.

Gewiss: Nur Mitglieder (oder sonst berechtigte Bürger? Warum eigentlich nicht?) dürfen abstimmen, jeder nur mit einer gleichen Zahl von Stimmen. Das muss bei e-Wahlen mit e-Instrumenten sichergestellt werden. Wo die nicht vorhanden sind, sollten sie nicht perhorresziert, sondern entwickelt werden. Hier können die Parteien Experimentierfelder und Labore für neue Formen werden. Die Jungen, die heute resignieren, sind die fehlenden Mitglieder von morgen! Das ist keine Herausforderung allein für die Parteipraxis, sondern auch für das Parteienrecht. Wo es solchen Experimenten und Reformen entgegensteht, muss es überarbeitet werden. Die Demokratie von morgen braucht keine Parteien von vorgestern.

2.

Das heißt nicht, alles blindlings über Bord zu werfen. Doch wenn das Parteiengesetz es nicht hergibt, werden im freien Staat neue Formen entstehen, z.B. neue “Bewegungen”. Noch einmal: Es kommt nicht auf den Namen, es kommt auf die Sache an. Sie sind auch Folgen der Krise der Mitgliederpartei und indizieren einen Wandel zur Unterstützerorganisation – die in manchem anderen demokratischen Staat längst Normalität ist. Ob dies eine Herausforderung für das Parteienrecht wird oder aber dessen Menetekel, hängt nicht zuletzt von der Reaktion der Parteien selbst ab, als Transporteure politischer Ideen und Stichwortgeber der Gesetzgebung. Wo die Rechtsformen fehlen, entstehen neue. Notfalls am Gesetz vorbei, aber nicht am Recht vorbei. Unser Parteiengesetz hat der Bonner Republik Legitimation, Stabilität und Handlungsfähigkeit verliehen. Nun ist es an der Zeit, diese auch für die Berliner Republik zu suchen und zu finden. Besser mit dem demokratischen Gesetzgeber als ohne ihn …


2 Comments

  1. Bernd Hinz Fri 7 Sep 2018 at 16:42 - Reply

    Der Artikel listet wichtige strukturell-rechtlich Entwicklungsgesichtspunkte und -Mängel der Parteien auf. Aber vernachlässigt die materielle-ökonomische Situation und Rolle der Parteien. “Geld regiert die Welt” lautet die treffendste Bevölkerungsweis-heit, und Geld regiert mittlerweile auch die etablierten Parlamentsparteien.
    In der Summe gibt der Staatshaushalt pro Jahr über eine Mrd Euro für Abgeordnete -Parteisoldaten und Partei – beamte, Fraktionen,Wahlkämpfe und Stiftungen aus
    Was in den USA die Lobby-wirtschaft finanziert, finanziert bei uns die Staatslobby.
    Der Gesamtbetrag übersteigt um den Faktor 3 das vom BVerfG erlaubte Maß.
    Wenn Diäten und Parteienfinanzierung nicht auf das verfassungsrechtliche Maß, d.h. auch von der Bevölkerung (per Volksabstimmung)akzeptierte Durschnittseinkommen reduziert wird, werden die Parlamente zunehmend als Gesprächskreise des mittleren akademischen Managements wahrgenommen, aber nicht als repräsentatives Bevölkerungsparlament.

  2. Isabell Schwiering Tue 11 Sep 2018 at 18:24 - Reply

    Das Kommunalwahlrecht in Bremen finde ich eine sehr interessante Weiterentwicklung des bestehenden Systems. Die Möglichkeit seine Stimme prozentual aufzusplitten entspricht der Realität. Die eine Partei, mit der man sich vollständig und exklusiv identifiziert, sind vorbei. Und durch die Möglichkeit seine Stimme gezielt Personen zugeben – unabhängig vom Listenplatz – macht es interessant, sich die Politiker tatsächlich mal näher anzuschauen.

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