Polen darf unautorisierte Interviews nicht mehr bestrafen
Darf man ein Interview drucken, wenn der Interviewte sich weigert, es zu autorisieren? In Polen nicht. Da ist das eine Straftat.
Das hat unseren östlichen Nachbarn jetzt allerdings eine Rüge aus Straßburg beschert.
In den entschiedenen Fall hatten Zeitungsjournalisten einen Parlamentsabgeordneten interviewt und ihm eine kondensierte Form des Interviews zur Autorisierung zugeschickt. Er war aber nicht zufrieden und lehnte die Autorisierung ab. Die Zeitung druckte das Interview trotzdem. Daraufhin wurde der verantwortliche Journalist strafrechtlich verurteilt.
Der EGMR weist darauf hin, dass keinerlei Anzeichen dafür bestehen, dass etwas anderes gedruckt als gesagt wurde:
At no stage of the proceedings was it shown that either the content of what had been said by the M.P. or the form of his remarks, published verbatim by the applicant’s newspaper, had been distorted in any way. There is nothing to suggest that the rendering of the interviewee’s words was not accurate. Nor was it ever disputed that the published article contained his statements quoted verbatim. Despite this, the mere fact that the applicant had published the text without the authorisation required by section 14 of the Press Act automatically entailed the imposition of the criminal sanction provided for under section 49 of that Act.
Außerdem habe es überhaupt keine Rolle gespielt, dass der Interviewte nicht irgendein Privatmann, sondern ein Parlamentsabgeordneter war. Und das geht nicht:
The Court can accept that an interviewed person may be anxious that his or her actual comments are faithfully rendered and conveyed to the public. This also applies where the interviewed person is a politician. Exposure to the public eye of reckless or awkward utterances made by a politician in the context of an interview may have a negative impact on his or her further career and, indeed, their political existence. However, the provisions applied in the present case give interviewees carte blanche to prevent a journalist from publishing any interview they regard as embarrassing or unflattering, regardless of how truthful or accurate it is.
In Deutschland gibt es zwar keine strafrechtlichen Sanktionen, aber es ist auch absolut Usus, dass Politiker – oder besser: ihre Pressesprecher – darauf bestehen, Interviews vor Erscheinen zu autorisieren. Es kommt auch immer wieder vor, dass sie die Autorisierung komplett verweigern, etwa weil ihnen das Gesagte plötzlich doch nicht mehr opportun erscheint oder weil sie kalte Füße bekommen. Im Regelfall schmeißen die Redaktionen das Interview dann zähneknirschend weg. Es gab mal einen Fall, ich glaube in der TAZ, dass das Interview dann geschwärzt erschien, um den feigen Politiker bloßzustellen. Aber das ist die Ausnahme. Ich habe es sogar schon erlebt, dass die Pressesprecher einem in den Fragen herumkorrigieren.
Interessant ist auch die Concurring Opinion der Richter Garlicki und Vucinic: Sie zeigt, dass unsere gewohnte Haltung gegenüber der Pressefreiheit – liebe Presse, böse Staatsanwälte – keineswegs mehr überall geteilt wird. Der polnische und der montenegrinische Richter warnen vor den
dangers of journalistic abuse. In Poland, as in many other countries, journalists are not always angels. There have been numerous situations in which, particularly in the course of a political debate, a person’s statements have been quoted in a malevolently inaccurate manner. It is, unfortunately, not uncommon for journalists to denigrate political opponents and we must be aware that political journalism sometimes degenerates into an instrument of annihilation rather than of information. The authorisation requirement attempts to address at least one aspect of that process by preventing inaccurate or manipulated – in short, false – quotations. Thus, the authorisation requirement may serve such legitimate aims as providing the general public with accurate information and contributing to a practice of responsible journalism. The above-mentioned considerations make us hesitant in accepting that the authorisation requirement, if correctly framed, cannot be regarded as a reasonable limitation of journalistic freedom. We no longer live in a world in which the press can always assume the position of a victim. More and more often, the press abuses its powerful position and, deliberately and malevolently, undermines the good name and integrity of other persons. We have no alternative but to address this new situation.
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie z.B. die britische Presse vorzugehen gewohnt ist, dann ist da durchaus etwas dran. Trotzdem ist das vor dem Hintergrund etwa der ungarischen Entwicklung, was die Pressefreiheit betrifft, beunruhigend, solche Worte aus den Reihen der EGMR-Richter zu hören.
(Hat Tip to ContentAndCarrier.)
Ich finde die grundsätzliche Einstellung des EGMR gut. Man sollte aber nicht versuchen, Kultur oder Mentalität durch Gesetze regeln zu wollen. Kultur und Mentalität drücken sich andersherum in Gesetzen aus. Egal von welcher Seite – der polnischen oder der des EGMR – wird man so keine bessere Pressekultur schaffen, sondern nur die Vorbehalte des Befragten und des Befragers verstärken.
[…] Steinbeis of Verfassungsblog writes about [GER] Poland having to abolish its law that interviewed people have the right to see articles […]
Das taz-Interview war mit Olaf Scholz, die Zeitung veröffentlichte eine geschwärzte Version auf ihrer Titelseite:
http://www.manager-magazin.de/unternehmen/it/0,2828,275966,00.html
In einem aktuelleren Fall hat die taz bei einem Interview mit der Fußball-Nationalspielerin Lira Bajramaj auch nicht autorisierte Zitate gedruckt und den Fall in ihrem Hausblog beschrieben:
http://blogs.taz.de/hausblog/2011/03/26/die-veraenderten-interview-zitate/