Polen, die EU und das Ende der Welt, wie wir sie kennen: ein Interview mit FRANZ MAYER
MS: Die Art, wie in Polen seit März 2018 Richter_innen ernannt werden, insbesondere die neue Disziplinarkammer beim Obersten Gerichtshof, verletzt das Prinzip der Unabhängigkeit der Justiz und ist europarechtswidrig. Das wissen wir seit dem Urteil des EuGH im November 2019. Aber die PiS-Regierung zeigt nicht die geringste Absicht, diese Rechtslage zu akzeptieren, im Gegenteil. Jetzt hat die EU-Kommission beim EuGH eine einstweilige Anordnung gegen die fortgesetzte Tätigkeit der Disziplinarkammer beantragt. Was passiert als nächstes?
FM: Der EuGH wird vermutlich verfügen, dass die Disziplinarkammer ihre Tätigkeit einstellen muss, und für den Fall, dass sie das nicht tut, ein Zwangsgeld gegen Polen verhängen. Dass das auch im Eilrechtsschutz geht, wissen wir seit 2018 aus dem Verfahren um die illegale Abholzung des geschützten Urwalds von Bialowieza. Das wäre eine mögliche weitere Eskalationsstufe.
Da geht es jetzt erst einmal nur um die Disziplinarkammer. Das am Donnerstag verabschiedete “Richterdisziplinierungsgesetz” wäre davon nicht betroffen?
Genau. Das geht oft durcheinander. Gegen dieses Gesetz gibt es, soweit ich sehe, derzeit noch keine konkreten Maßnahmen. Aber da wird sicherlich, wenn das Gesetz in Kraft tritt, ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden.
Könnte dann die Kommission hier auch gleich eine einstweilige Anordnung samt Zwangsgeld beantragen?
Ja, das könnte sie. Man soll im Vertragsverletzungsverfahren nicht einfach durch Zeitablauf vor vollendete Dinge gestellt werden können. Sie kann obendrein ein beschleunigtes Verfahren beantragen, damit auch das Hauptverfahren schneller in Angriff genommen wird. Darüber entscheidet jeweils der Präsident des EuGH Koen Lenaerts. Der war ja vorletzte Woche in Polen und hat sehr deutliche Worte gefunden: Wenn in einem Mitgliedstaat die Herrschaft des Rechts dauerhaft und strukturell nicht mehr gewährleistet ist, kann man nicht Mitglied der EU bleiben.
Was passiert, wenn Polen auch die einstweilige Anordnung des EuGH ignoriert?
Dann könnten Kommission und EuGH das Zwangsgeld immer weiter steigern. Das geht dann schnell in die Millionen. Das tut dann schon weh. Aber das kostet Zeit, und Zeit ist kritisch. Hier werden ja Strukturen geschaffen, die man nicht so einfach wieder rückgängig machen kann. Es gibt ja ohnehin schon auf allen Seiten einen riesigen Verlust an Grundvertrauen in die Justiz in Polen.
Was, wenn Polen einfach nicht zahlt?
Es gibt in anderem Zusammenhang seit längerem eine Diskussion, ob die EU dann mit Ansprüchen Polens auf Zahlungen aus dem EU-Haushalt aufrechnen könnte. Die Mehrheitsmeinung ist, dass das ginge.
Wie müsste man sich das konkret vorstellen?
Die meisten Mittel aus dem EU-Haushalt sind Projektmittel, die irgendjemand zugute kommen. Wenn man die streicht, trifft man die Falschen: dann ist plötzlich irgendein Erasmus-Projekt oder eine Infrastrukturinvestition nicht mehr finanziert. Damit würde man in der polnischen Bevölkerung den Abstand zur europäischen Integration noch vertiefen. Es gibt zwar immer auch einen relativ kleinen Haushaltstitel, der direkt in den polnischen Haushalt fließt, in der Regel Rückflüsse aus nicht abgerufenen Mitteln. Da könnte man ansetzen. Aber fraglich ist, ob das so viel Zwangswirkung entfaltet.
Am Ende wäre die EU also wehrlos?
Die EU ist eben eine auf Freiwilligkeit angelegte Rechtsgemeinschaft. In einem Staat kommt am Ende der Gerichtsvollzieher, der bringt die Polizei mit, die tritt äußerstenfalls die Türe ein. Das ist Staatsgewalt im Wortsinne, als echte physische Gewalt.In den USA beispielsweise, als der Supreme Court in den 50er Jahren die Rassensegregation in den Südstaaten aufhob, weigerten sich die Staaten auch, das umzusetzen. Da konnte Präsident Eisenhower die Nationalgarde schicken, die den schwarzen Studierenden den Zugang zu den Schulen und Universitäten halt erzwungen hat. Die EU hat keine Nationalgarde. Schon dass sie Zwangsgelder verhängen kann, ist eigentlich systemfremd, aber eintreiben kann sie sie jedenfalls nicht. Und das ist auch gewollt so in der Rechtsgemeinschaft EU: Man ist freiwillig zusammen. It’s not a bug, it’s a feature.
Dann müsste Polen also aus der EU austreten?
Ein Mitgliedstaat, der sich beharrlich weigert, die Grundprinzipien einzuhalten, auf die er sich selbst freiwillig verpflichtet hat, kann nicht länger Mitglied der EU bleiben. Aber das sagt sich so leicht. Anders als beim Europarat gibt es keinen Weg, einen Mitgliedstaat gegen seinen Willen hinauszuwerfen. Dass das Sanktionsverfahren nach Art. 7 EU nicht genügt, ist hinlänglich diskutiert, zumal die letzte Stufe dieses Verfahrens, die Suspendierung des Stimmrechts, auch nur ein Einzelelement betrifft. Wenn man das konsequent zu Ende denkt, dann kommt man zu dem Schluss, dass wir keine gute Antwort haben. Denkbar wäre theoretisch höchstens, dass alle anderen aus der EU austreten und Polen und Ungarn sozusagen in der leeren Hülle der EU zurücklassen. Das ist eine reichlich theoretische und sehr schwer umzusetzende Idee. Aber immerhin, einen ultimativen Ausweg hätte man hier noch.
Und wenn Polen drin bleibt und das aussitzt?
Es geht den Kräften, die in der polnischen Regierung das Sagen haben, nicht nur um oberflächliche Statusfragen von Richtern oder dergleichen. Es geht um eine grundlegend andere Vorstellung von Demokratie, nicht als Ermöglichung von Pluralismus, sondern als ungebremste Diktatur der Mehrheit. Diese Vorstellung ist viel näher an denen von Vladimir Putin als an unseren, etwa was Genderfragen, Umgang mit Minderheiten, Migration, Nation und Religion betrifft.
Ein Osteuropa-Problem?
Nein, überhaupt nicht. In Deutschland, in den Niederlanden, in Italien, in Frankreich, wo man hinschaut, gibt es starke oder zumindest erstarkende politische Kräfte, die in genau die gleiche Richtung wirken. Und es ist auch kein europäisches Problem, siehe USA. Adam Schiff, der demokratische US-Abgeordnete, der im Impeachment-Prozess gegen Donald Trump die Anklage leitet, hat am Donnerstag gesagt: “No constitution can protect us if right doesn’t matter anymore (…). Right matters. Otherwise we are lost.” Das ist eine ganz universelle Botschaft. Wenn das Recht nicht mehr eingehalten wird, ist etwas Grundsätzliches in Gefahr.
Was heißt das für die EU, wenn sich in ihr diese Vorstellung von Demokratie als Diktatur der Mehrheit noch weiter durchsetzt?
Wir befinden uns in einem Zwischenland, wo das Alte schon vorbei ist und das Neue noch nicht recht sichtbar. Das Zwischenland ist eine ganz gefährliche Gegend. Wohin die Reise geht, ist offener als wir dachten. Es ist in der Tat denkbar, dass diese Kräfte sich die EU für ihre Zwecke gefügig machen. Sie schicken jetzt schon ihre U-Boote in die Institutionen, in die Kommission, in die Gerichte – eine Art Aushöhlung von innen. Bisher Unvorstellbares könnte real werden: Wenn die Zahl der Mitgliedstaaten, in denen sie an der Macht sind, noch wächst, kann irgendwann ein Punkt erreicht sein, wo wir vielleicht tatsächlich noch einmal die Verteidigungsmechanismen im Grundgesetz gegen die EU benötigen werden. Auch in einem solchen Europa würden wir aber den Verfassungsauftrag, das Staatsziel “Vereintes Europa”, weiter zu
verfolgen haben, mit den Mitstreitern, die dann noch bleiben.
Unter „Diktatur der Mehrheit“ ist vermutlich so etwas wie „Diktatur des Proletaritas“ zu verstehen.
Hände weg von Polen.Deutsche Justiz ist noch schlimmer als polnische.
Ach ja?
Verfolgt mam in Deutschland Richter, weil die kritisch an die Regierungreformen sind?
Polen ist grundsätzlich, christlich orthodox, nationalistisch, unberechenbar, antisemitisch, rassistisch sich gegenüber 2 Sorten Nation, die Patrioten und das „Rest“ „drugi sort, Kanallien die man beseitigen sollte , sogenannte syndrome „Krakowiaki i Gorale“ und und und… das sind werte nicht zu überwinden.
Man muss mit würde miteinander umgehen… sich achten , verstehen, akzeptieren und das ist schwierig. Das ist schwierig hier zu schaffen und zu verstehen ?!?
Hallo,bin zweisprachig aufgewachsen,und ab und zu sehe ich die polnische Nachrichten beim staatlichen Fernsehen TVP. Also ich finde erst äußerst peinlich wie die Propaganda bezüglich Europa und überwiegend Deutschland dargestellt wird.Fakten Verdrehung an der Tagesordnung.Nur wenige private Sender dagegen zuhalten.
Und das beste: das Propagandafernsehen – TVP bekommt das Geld von dem Staatshaushalt (fur 2020 ZWEI MLD! PLN – uber 465 Millionen Euro), das von allen Burgern finanziert ist, aber nur die PiS-Interesse vertritt.
Über 70 % der Polen sind für die Justizreform.. Es muss was passieren. Die kommunistischen Richter müssen endlich weg! Bravo PiS!
Ich weiß nicht wie das in deutschen Medien dargestellt wird…. Aber verstehen tut man immer noch nicht worum es geht… Polen geht den richtigen Weg und lässt sich nichts mehr gefallen…. Was auch in Deutschland nicht gezeigt wird ist, daß viele andere Länder sehen wie Deutschland sich zuviel einmischt in polnische Angelegenheiten… Aber selber hunderte Male regeln bricht als alle anderen… (legale abzocke und korrupt) ja, das ist meine Meinung… Und nicht zu vergessen, wenn die Grenze zwischen polen und Deutschland zu ist… Dann wird die deutsche Wirtschaft weinen… Allein deswegen weil sie dann für jedes Geschäft was in polen ist, steuern zahlen müssen.. Und das ist jede Menge… Ein Beispiel…Amazon Zahlt keine Steuern in Deutschland und jeder regt sich auf… In polen gibt es überall in einer Stadt, Dorf ein Lidl… Und da regt sich keiner auf daß keine Steuern bezahlt werden und dazu noch muss man für hungerlohn arbeiten… Hmmm finde den Fehler… Hoffe man versteht mich was ich sagen will.
Play ball, shape up or ship out, Polonia.
Die letzte Kommission, Juncker, hat Polen bereits für den Umgang mit der Justiz kritisiert. Zuständig: Timmermans/Niederlande. Aktuell wiederholt dies die neue Kommissarin Jourová/Tschechien. Ihr jüngstes Auftreten kann hier nachgelesen werden
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/justizreform-polen-vera-jourova-eu-kommission-kritik-verleumdungskampagne
Dies hier ist ein blog, in dem juristische Aspekte aus vielen Ländern durch Autoren verschiedenster Nationalitäten behandelt und durchaus kritisch diskutiert werden. Was Recht in Polen betrifft, so verweise ich auf den aktuellen Beitrag
https://staging.verfassungsblog.de/only-a-court-established-by-law-can-be-an-independent-court/
von einem polnischen Autor.
Eine Diskussion innerhalb der EU miteinander und übereinander, ob nun Politiker oder Privatleute, dürfte wohl normal sein. Wir haben alle gelernt, dass es Ländergrenzen nicht mehr gibt.Gott sei Dank.
Wenn also hier, und nicht nur hier, die Besorgnis über die Entwicklung der Justiz in Polen diskutiert wird, so ist es unter dem Gesichtspunkt einer Wertegemeinschaft als EU ein völlig normaler Vorgang.
Mittlerweile ist es altbekannt, dass die PIS politische Problematiken gerne mit Deutschland verbindet. Ein hochgehaltenes Feindbild, mit dem man im eigenen Land offensichtlich immer punkten kann. Und wenn dieses Bild absichtlich verfestigt wird, landen wir alle wieder da, wie es den Geschichtsbüchern entnommen werden kann. In den schwarzen Zeiten des letzten Jahrhunderts.