18 April 2019

Politische Strafjustiz? Zur demo­kratischen Kontrolle der adminis­trativen Straf­verfolgungs­bürokratie

Als kürzlich bekannt wurde, dass gegen Aktivisten der Künstlergruppe „Zentrum für politische Schönheit“ wegen eines – möglicherweise von Anfang an eher auf tönerne Füßen stehenden – Anfangsverdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) strafrechtlich ermittelt wurde, richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit schlagartig auf die Staatsanwaltschaft Gera und einen dort für politische Strafsachen eingesetzten Staatsanwalt, dessen Verfolgungs- und Einstellungspraxis anscheinend eine Reihe an Ungereimtheiten aufweist. So fragte die Journalistin Marlene Grunert (Ein Waterloo von einer Begründung, FAZ vom 9. April 2019, S. 3), ob der ermittelnde Staatsanwalt nicht systematisch Sympathisanten der AfD (namentlich bei Äußerungsdelikten) geschont habe, gegen linke Kritiker hingegen besonders hartnäckig vorgegangen sei.

Die Unwägbarkeiten politischer Äußerungsdelikte

Nun ist es nichts Ungewöhnliches, dass anstößige Äußerungen in einer Weise gedeutet werden, die auf den ersten Blick verfremdend wirken. Staatsanwaltschaften und Strafgerichte sind mit Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG bemüht, jeder potentiell strafbare Äußerung mit einer irgendwie noch vertretbaren Deutung zu unterlegen, die von der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) geschützt ist und im Ergebnis (z. B. mangels Tatbestandsmäßigkeit oder aufgrund einer Rechtfertigung nach § 193 StGB) straffrei bleibt. Bisweilen wird hierbei der hermeneutisch vertretbare Deutungsrahmen krachend durchbrochen; die Meinungsfreiheit gerät dann zur billigen Ausflucht, einen Fall durch Einstellung bequem zu erledigen (kritisch hierzu Thomas Fischer/Klaus Ferdinand Gärditz, StV 2018, S. 491 ff.).

Die in der Presseberichterstattung referierten Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft Gera fallen vor diesem Hintergrund weniger durch ihre Ergebnisse auf, die man ohne nähere Kenntnis konkreter Umstände nur begrenzt beurteilen kann. Auffällig sind vielmehr die teils bizarren Begründungen und die Verrenkungen, mit denen in einigen Fällen offenbar auf eine Einstellung hingewirkt wurde. Thomas Fischer hat hierzu das Notwendige bereits gesagt.

Hier soll es daher auch nicht um die strafrechtliche Bewertung der diskutierten Fälle gehen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht interessanter ist die Frage, welche Handlungsoptionen und vielleicht auch Handlungspflichten der parlamentarisch verantwortliche Justizminister Thüringens hat, wenn Ermittlungspraktiken an einer ihm nachgeordneten Staatsanwaltschaft aus dem Ruder laufen. 

Staatsanwaltschaften als weisungsabhängige Behörden

Staatsanwaltschaften sind staatliche Behörden, die vollziehende Gewalt und nicht Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG ausüben. Staatsanwältinnen und Staatsanwälten steht daher auch nicht die funktionsbezogene richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG zu. Sie dürfen richterliche Geschäfte nicht wahrnehmen, und ihnen darf keine Dienstaufsicht über die Richterinnen und Richter übertragen werden (§ 151 Gerichtsverfassungsgesetz [GVG]).

Korrespondierend sind die Beamtinnen und Beamten der Staatsanwaltschaften bei ihrer Tätigkeit weisungsabhängig. Sie haben nach § 146 GVG „den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen“. Das geltende Organisationsrecht kennt hierbei ein so genanntes internes und ein externes Weisungsrecht: Innerhalb der dienstlichen Hierarchie steht den Leiterinnen und Leitern der Staatsanwaltschaften beim Oberlandesgericht und den Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten das Weisungsrecht gegenüber allen Beamtinnen und Beamten der Staatsanwaltschaften zu (§ 147 Nr. 3 GVG). So kann etwa der Thüringer Generalstaatsanwalt beim Thüringer Oberlandesgericht in Jena dem Leitenden Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Gera Anweisungen erteilen, letzterer wiederum dem ermittelnden Staatsanwalt.

Darüber hinaus sieht § 147 Nr. 1 GVG vor, dass der „Landesjustizverwaltung hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes“ die „Aufsicht und Leitung“ zusteht. Landesjustizverwaltung meint den zuständigen Ressortminister für Justiz; Aufsicht beschränkt sich nicht auf die Rechtsaufsicht, sondern schließt die Fachaufsicht sowie die Disziplinargewalt nach Landesdisziplinargesetz bei Dienstvergehen ein. Über dieses externe Weisungsrecht als hintergründiges Interventionsinstrument wird zugleich ein hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau sichergestellt, da Staatsanwaltschaften Staatsgewalt ausüben, die vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), weshalb funktionsbezogen demokratische Verantwortbarkeit auch für das Handeln der Amtswalter im Einzelfall unverzichtbar ist.

Weisungsrecht und strafrechtliche Verantwortlichkeit

Nicht selten wurde gerade das externe Weisungsrecht der Justizministerinnen und Justizminister kritisiert, weil dieses angeblich die Strafverfolgung anfällig für eine politische Einflussnahme mache. Berechtigt ist dieses Misstrauen angesichts des rechtlichen Settings und der realen Verfolgungspraxis kaum. 

Das geltende Recht kennt nämlich eine Reihe an Funktionssicherungen, die eine politisch motivierte Strafverfolgung erschweren. An erster Stelle steht das – heute freilich vielfach aufgeweichte (§§ 153a ff. StPO) – Legalitätsprinzip: Grundsätzlich ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte („Anfangsverdacht“) vorliegen (§ 152 Abs. 2 StPO). Schreitet ein zuständiger Staatsanwalt nicht ein, obwohl der Anfangsverdacht einer Straftat besteht, kann er sich der Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) strafbar machen. Auch Vorgesetzte kommen als Täter in Betracht, wenn sie mit der Sache selbst befasst sind (Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 258a Rn. 3), namentlich von ihrem Weisungsrecht Gebrauch machen oder sich aktenkundig machen, um eine mögliche Weisung vorzubereiten.

Werden hingegen absichtlich oder wissentlich Maßnahmen der Strafverfolgung eingeleitet, ohne dass ein Anfangsverdacht besteht, oder werden diese aufrechterhalten, nachdem ein solcher Verdacht fortgefallen ist, kommt unter Umständen eine Strafbarkeit wegen der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) in Betracht – dies ist sogar ein Verbrechenstatbestand, der freilich im subjektiven Tatbestand eine extrem hohe Hürde hat. Gewiss enthält die Bewertung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt oder ob die erlangten Ermittlungsergebnisse eine Anklage rechtfertigen (vgl. § 203 StPO), prognostische Elemente, die faktisch einen Vertretbarkeitskorridor eröffnen, der spätestens auf der subjektiven Tatseite nur selten überschritten sein wird. Ein wirksames Gegengewicht zur potentiellen Entscheidungsmacht ist die strafrechtliche Rahmung gleichwohl. 

Ein Justizminister, der sich in die Strafverfolgung einmischt, geht daher ein hohes Risiko ein. Auch unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit kann eine Einmischung in ein Strafverfahren, die nicht eindeutig der Durchsetzung des Rechts gegen die zuständige Staatsanwaltschaft dient, schnell zum politisch Genickbruch werden. Es nimmt daher nicht wunder, dass das externe Weisungsrecht praktisch kaum in Anspruch genommen wird. Wenn dies doch einmal der Fall ist, nehmen am Ende meist alle Akteure Schaden; man denke an den unglücklichen Verlauf der Causa „netzpolitik.org“. Konflikte bei der Beurteilung eines Vorganges werden daher eher über die Anordnung von Berichtspflichten oder klärende Gespräche entschärft. Auch das ist „Aufsicht und Leitung“ nach § 147 GVG.

Autonomie im Schatten der Aktenberge

Der Fall der Staatsanwaltschaft Gera illustriert hingegen ein praktisch viel häufigeres Problem: Legt der ermittelnde Staatsanwalt fragwürdige Bewertungskriterien zugrunde oder sind seine Einstellungspraktiken angreifbar, werden weisungsbefugte Vorgesetzte nur selten einschreiten.

Zum einen handelt jede Staatsanwältin und jeder Staatsanwalt schon aufgrund der hohen Verfahrenszahlen praktisch weitestgehend autonom, weil Vorgesetzte jenseits exzeptioneller Fälle in der Regel keine Einblicke in die entscheidenden Details einzelner Verfahren haben und sich mit begrenzten zeitlichen Ressourcen auch nicht verschaffen können. Zum anderen begründet die aktive Einmischung eine Mitverantwortung für den Fortgang des Verfahrens, die man nur übernehmen kann, wenn man sich tatsächlich des jeweiligen Falles bemächtigt und in seine Tücken, die bekanntlich im Detail liegen, durch akribische Sacharbeit einsteigt. Staatsanwalt bedeutet daher Autonomie im Schatten der Aktenberge.

Die faktische Distanz der Justizministerien

Regierungsmitglieder, die einzelne Strafverfahren in der politischen Öffentlichkeit kommentieren, handeln vor diesem Hintergrund nach aller praktischer Erfahrung durchweg unseriös und gefährden dadurch die sozialkommunikativen Funktionsbedingungen der Strafjustiz, die gerade Distanz zur öffentlichen Meinung und zur Politizität der Fälle benötigt, die allein nach rechtlichen Kriterien zu entscheiden sind.

Die traditionsreiche Praxis größter Zurückhaltung der Justizverwaltungen, sich in laufende strafrechtliche Ermittlungen einzumischen, ist daher weiterhin gut begründet. Nach allem, was man der Presse bislang entnehmen kann, wird man daher auch dem Justizminister Thüringens kaum Vorwürfe machen können, nicht über irrlichternde Begründungstechniken von Einstellungsverfügungen in Verfahren informiert gewesen zu sein, in denen ohnehin allenfalls Geldstrafen gedroht hätten.

Der demokratische Eigenwert von Kontrolle

Gleichwohl ist es wichtig, dass es Weisungsrechte gibt, Staatsanwaltschaften also nicht vollständig von den Institutionen entkoppelt werden, die demokratische Verantwortlichkeit für das Handeln öffentlicher Gewalt sicherstellen müssen. Wenn die Dinge in einer Weise schiefgelaufen sind, die in einer gut organisierten Justiz hätten früher bemerkt werden müssen, steht an der Spitze des Ministeriums jemand, der die politische Verantwortung hierfür trägt. Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung, die daran anknüpfenden Kontrollrechte (vom Interpellationsrecht bis zum Untersuchungsausschuss) und die Notwendigkeit, dass jemand als Person für ihr oder sein Ressort sichtbar einstehen muss, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer demokratischen Justizkultur. Die latente Möglichkeit der externen Intervention ist zugleich ein Instrument, der Entstehung von rechtsstaatsunverträglichen Subkulturen entgegenzuwirken, die vor allem in Clustern von der Öffentlichkeit abgeschirmter Eigenbrötlerei gedeihen, im Strafrecht aber die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger akut gefährden können. 

Die Ermittlungen gegen das „Zentrum für politische Schönheit“, die sich in Gera weitere 16 Monate hinzogen, wurden innerhalb weniger Tage nach Gesprächen zwischen Justizminister, Generalstaatsanwalt und Staatsanwaltschaft eingestellt. Demokratische Kontrolle der administrativen Strafverfolgungsbürokratie kann also wirken. Manchmal dauert es eben.


3 Comments

  1. Björn Engelmann Fri 19 Apr 2019 at 04:15 - Reply

    Im Kern würde ich das ähnlich sehen. Die Verantwortung des Ministers besteht dabei mE vor allem darin dann, wenn ein Fall (z. B. wie im Fall ZPS durch Medienberichte), in dem die Staatsanwaltschaft gröbere Fehler gemacht hat, bekannt wird, ab diesem Zeitpunkt – vorrangig durch Gespräche, als ultima ratio aber auch durch Ausübung des Weisungsrechts, (ähnlich wie im Beitrag befürwortet) –ein rechtskonformes Handeln der StA sicherzustellen bzw. wiederherzustellen.

    Hinsichtlich der Zuweisung politischer Verantwortung sollte bei fehlendem Fehlverhalten des Ministers selbst es i. d. R. als ausreichend angesehen werden, dass er unverzüglich nach Bekanntwerden von Missständen, Maßnahmen ergreift, um diese abzustellen und somit seiner Verantwortung nachkommt

    Ein Rücktritt des Ministers (wie im ZPS-Fall ja wohl auch nur ganz vereinzelt diskutiert) sollte hingegen nur bei schweren eigenen Fehlern des Ministers im konkreten Fall oder generellen schwerwiegenden Fehlern bei der Organisation seines Ministeriums (mit der Folge, dass ihm das „aus-dem-Ruder-Laufen“ der Ermittlungen unbekannt bleibt) als ethisch zwingend angesehen werden.

  2. Hans Mon 22 Apr 2019 at 12:31 - Reply

    Wenn ein Staatsanwalt es überteibt, dann wird das von der Richterschaft eingefangen. Dafür braucht es kein Justizminister. Das ganze Konstrukt ist doch nur deshalb so aufgebaut, damit eine Regierung in eigener Sache die Notbremse ziehen kann. Siehe die vielen Strafanzeigen gegen Merkel und andere Regierungsmitglieder, z.B. die des Chaos Computer Clubs von 2014.

    Man schaue mal nach Israel, da wurde schon ein Regierungschef verurteilt (Olmert, 2012). Netanjahu droht eine Anklage. In Deutschland undenkbar. Nicht weil hier Regierungsmitglieder seriöser sind, sondern wegen dem Konstruktionsfehler dieses Rechtsstaats, der in dem Artikel auch noch verteidigt wird.

    • Lennart Sat 4 May 2019 at 18:45 - Reply

      Sie übersehen etwas Entscheidendes: Ermittlungsverfahren wie das hier geführte werden und wurden nie geführt, um eine Verurteilung zu erreichen. Es geht darum, auf einer breiten Klaviatur an Ermittlungsmaßnahmen spielen zu dürfen, die oftmals so sehr in die Freiheitsrechte der Betroffenen eingreifen, dass ihnen selbst ein hochgradig punitiver Charakter zukommt. Schauen Sie sich nur die absurden Ermittlungen gegen die zwei Chefredakteure von netzpolitik.org oder insbesondere gegen den Berliner Stadtsoziologen Andrej Holm an. Die ersteren hat bekanntermaßen der äußerst rechts stehende damalige BfV-Chef Maaßen durch seine Anzeige ins Rollen gebracht, der natürlich – ist ja immerhin der BfV-Chef! – gründlich nachgegangen wurde. Insofern geht auch die seinerzeit von Thomas Fischer vorgetragene Apologetik (man muss ja wohl noch prüfen dürfen!) als Reaktion auf die zu Recht skandalisierten Ermittlungen gegen Meister und Beckedahl fehl.

      Nicht zuletzt zeigen – darauf muss immer wieder hingewiesen werden – auch laufende oder ergebnislos eingestellte Ermittlungen ihre weitere Wirkung: Philipp Ruch, Leiter des ZPS, wurde zum Beispiel auf Geheiß des BMI ausgeladen – wegen der laufenden Ermittlungen. Nicht selten werden Menschen, die nie verurteilt wurden, von der Polizei bei Kontrollen usw. in schikanöser Art behandelt, ganz nach dem Motto: Verurteilt oder nicht, wir kennen unsere Pappenheimer (Die Gerichte sind ja sowieso viel zu milde!).

      Da helfen richterliche Einstellung oder Freispruch wenig. Daran wird aber auch ein sehr zurückhaltend ausgeübtes Weisungsrecht wenig ändern.

      Daran krankt im Übrigen auch ihr etwas lapidares Fazit, Herr Gärditz, in dem Sie schreiben: „Manchmal dauert es eben“. Das ist angesichts der vielen Verfahren, die nur zum Zwecke der Schikane und Ausschnüffelung politisch Unliebsamer eröffnet werden, eine recht einfache Antwort. Hier scheint ein allzu materiell-rechtlich Ausgerichteter auf dem realistischen, strafprozessualen Auge blind zu sein.

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