Polizeigewahrsam für Fußball-Hools: Straßburg weicht Verbot von Präventivhaft auf
Einen weniger sympathischen Kläger als den des EGMR-Urteils Ostendorf kann ich mir nur schwer vorstellen: Ein Neonazi und Fußball-Hool aus Bremen, über dessen Freizeitvorlieben und Seelenleben man sich auf dieser lieblichen Website sehr einfach ein Bild machen kann (Nasenklammer nicht vergessen!). Das ist aber auch schon so ziemlich das einzig Einfache an diesem vertrackten Fall.
Dabei sieht der Sachverhalt bei unbefangenem Blick ganz einfach aus: Herr Ostendorf war mit einem Trupp Mit-Hooligans zu einem Fußballspiel nach Frankfurt gefahren. Die Bremer Polizei führte ihn als “Kategorie-C”-Fan, also gewaltbereiten Hooligan, und warnte die Frankfurter Kollegen über dessen Ankunft vor. Die nahm dem Hool-Trüppchen erstmal ihre mit Quarzsand gefüllte Handschuhe und Mundschutzvorrichtungen ab und verbot ihnen, sich von der – leicht zu observierenden – Gruppe abzusondern. Die Gruppe ging in eine Kneipe und kam nach einer Weile wieder heraus. Ohne Ostendorf: den zog die Polizei später aus der Damentoilette, wo er sich eingesperrt hatte, nahm ihm sein Handy ab und sperrte ihn vier Stunden lang in der Wache ein. Als das Spiel zuende und die Fans nach Hause gegangen waren, ließen sie ihn wieder laufen.
Damit hatte die Polizei Ostendorf erfolgreich daran gehindert, mit den Frankfurter Hools Kontakt aufzunehmen und eine Klopperei zu vereinbaren. Die Frage ist nur: Durfte sie ihn zu diesem Zweck einsperren?
Jemanden einzusperren, ist nach Art. 5 I EMRK nur in sechs Ausnahmefällen von a bis f erlaubt, von denen hier die Varianten b und c in Frage kommen. Bei b geht es darum, jemanden durch Haft zur Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht zu zwingen, Beugehaft zum Beispiel. Und c ermöglicht das Einsperren von Leuten, die man verdächtigt, eine Straftat begangen zu haben oder begehen zu wollen, um sie vor Gericht zu stellen.
Beide Buchstaben passen nicht, wenn man die bisherige Rechtsprechung des EGMR zugrundelegt: Es ging zwar um die Verhinderung einer Straftat, aber Herr Ostendorf hatte (noch) nichts getan, was die Strafjustiz auf den Plan ruft, und musste derselben daher auch nicht zugeführt werden. Und Beugehaft? Welche Pflicht sollte Herr Ostendorf durch die Haft zu erfüllen gezwungen werden? Da fällt einem höchstens die allgemeine Bürgerpflicht ein, keine Straftaten zu begehen – was sich der EGMR bislang wohlweislich gehütet hatte, als Rechtfertigung für präventive Freiheitsberaubung zu akzeptieren.
Mit anderen Worten: Der Fall fordert dazu heraus, die Möglichkeiten der Polizei, Leute präventiv einzusperren, auszuweiten. Und genau das hat der EGMR heute getan.
Die Richtermehrheit hat sich dazu entschieden, lieber den Buchstaben b als den Buchstaben c aufzuweichen und eine Art Beugehaft auf Unterlassen einzuführen, im vollen Bewusstsein aller Probleme, die man sich damit einhandelt: Herrn Ostendorf durfte durch das Polizeigewahrsam dazu gezwungen werden, etwas nicht zu tun, nämlich keine Hooligan-Prügelei zu organisieren.
Die Kammermehrheit versucht, allerhand Kriterien zu errichten, um diese Befugnis zur Präventivhaft einzuhegen: So müssen etwa Ort und Zeit und potenzielle Opfer dessen, was nicht zu tun der Inhaftierte verpflichtet ist, genau benannt werden können. So soll verhindert werden, dass Leute auf unbestimmte Zeit eingesperrt werden, weil wie irgendwann irgendwo etwas Böses tun könnten.
Zwei der sieben Kammermitglieder, nämlich der belgische Richter Paul Lemmens und seine schwedische Kollegin Helena Jäderblom, wollen dagegen den Fall anders lösen, nämlich auf Kosten des Buchstaben c. Die bisherige Linie, darunter nur Fälle der Strafjustiz zu fassen, sei zu eng und solle aufgegeben werden, fordert das Minderheitsvotum:
We think that in situations where there is a vital public interest in preventing someone from committing an offence a limited possibility does exist for the law enforcing authorities to detain that person for a short period, even if he has not yet committed a crime and therefore without the possibility that criminal proceedings will be opened against him.
Daher sollte Präventivhaft – unter entsprechend engen Voraussetzungen, wie sie die Richtermehrheit für Buchstabe b vorsieht – unter Buchstabe c fallen, auch wenn es nicht darum geht, den Inhaftierten der Strafjustiz zuzuführen.
Nun muss man sich klar machen, dass die Ostendorf-Konstellation nicht nur rechtsextreme Fußball-Hools betrifft. Mit sehr ähnlichen Argumenten könnte etwa die russische Polizei Gay-Pride-Teilnehmer oder die türkische Menschenrechtsaktivisten festsetzen.
Dass der Fall in Deutschland spielt, dürfte trotzdem eine Rolle gespielt haben: Hätte die Kammer Herrn Ostendorf Recht gegeben, hätte der Gesetzgeber das Problem sehr leicht aus der Welt schaffen können, nämlich indem er die Präventivhaft aus dem Bereich der Gefahrenabwehr in den des Strafrechts verlagert. Jedes Problem mit Art. 5 I c EMRK verschwindet, wenn man die Strafbarkeit von bloßen Vorbereitungs- oder Planungsakten ausweitet.
Mir wäre, wenn ich mich in die EGMR-Richter hineinversetze, überhaupt nicht wohl gewesen bei der Vorstellung, was so ein Landesinnenminister von rechtem Schrot und Pulver mit der Ostendorf-Entscheidung dann politisch alles hätte anstellen können. (Die Bundesregierung deutet das in ihrer Stellungnahme auch an, § 55 am Ende.)
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Wenn Ostendorf Berufung einlegt, wird die Große Kammer entscheiden. Es bleibt also weiter spannend.
Kategorie-C-Fans sind nicht gewaltbereit, sondern gewaltsuchend.
Gewaltbereite Fans sind Kategorie-B-Fans, zu denen jeder gezählt wird, dessen Personalien aufgenommen werden, wenn aus einem Pulk von Leuten eine einzelne Person eine Flasche wirft.
Sollte hier tatsächlich “nur” eine sog. Drittortauseinandersetzung, d.h. eine verabredete Schlägerei unter Gleichgesinnten, gedroht haben, ist die Verhinderung von Straftaten (ob präventiv oder zur Durchsetzung einer Bürgerplficht) schwer zu begründen. Spoenle in NStZ 2011, 552 untersucht die Strafbarkeit vom Mannschaftskickboxen unter Hooligans und kommt zu dem Ergebnis, dass dies nur bei Eintritt einer schweren Folge (Tod, Verstümmelung etc.) nach § 231 StGB strafbar ist – das wird man in der Regel aber nicht unterstellen können. Der Rest ist entweder einwilligungstauglich (§§ 223 ff. StGB) oder nicht einschlägig (§ 125 StGB).
Eine kleine prozessuale Korrektur: Der Beschwerdeführer hat lediglich die Möglichkeit, die Verweisung an die Große Kammer zu beantragen (Art. 41 Abs. 1 EMRK). Nur wenn der in Art. 41 Abs. 2 EMRK erwähnte “Fünferausschuss” den Antrag annimmt, wird die Beschwerde bei der Großen Kammer anhängig, die dann durch Urteil entscheidet bzw. entscheiden muss.