Portugal auf dem Weg in die Verfassungskrise?
Ich bin gerade in den USA und daher ein bisschen abgeschnitten vom Geschehen in Europa, aber übers Wochenende hat auch mich die Aufregung um den angeblichen #PortugalCoup erreicht: So heißt ein Hashtag, der auf Twitter eine große Welle machte, ein konservativer Putsch in Portugal angeblich, ein Versuch des EU-hörigen neoliberalen Establishments, das Austerity-Programm gegen alle demokratischen Widerstände durchzupeitschen, eingeschlossen der Spin, dass die Mainstream-Lügenpresse die Story gezielt unterdrückt.
Was war geschehen? Bei den Parlamentswahlen im austerity-gebeutelten Portugal Anfang des Monats hatten die regierenden Konservativen zwar verloren, waren aber stärkste Partei geblieben. Die oppositionellen Sozialisten hatten auf niedrigem Niveau gewonnen, mehr noch aber die Vereinigte Linke (roughly: Syriza auf portugiesisch) – gemeinsam mit den Kommunisten schien eine linke Anti-Austerity-Mehrheit möglich. Das wäre zwar eine haarige Sache, denn die Sozialisten sind pro-europäisch und bislang den Kommunisten und Hardcore-Linken in wechselseitiger tiefer Abneigung verbunden. Aber angesichts der akuten Gefahr, das Schicksal der griechischen PASOK zu teilen, erklärten sich die Sozialisten zu Koalitionsverhandlungen mit den beiden linken Konkurrenten bereit.
Doch dann kam Aníbal Cavaco Silva: Der 76jährige konservative Staatspräsident hat trotz alledem Ende letzter Woche den Auftrag zur Regierungsbildung dem konservativen Amtsinhaber Passos Coelho erteilt, obwohl der gar keine Mehrheit im Parlament hinter sich hatte. Das Links-Bündnis, so der Präsident, sei eine “klar unvereinbare Alternative”, die “schwere finanzielle, ökonomische und soziale Folgen” hätte. Es sei seine “Pflicht, im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Befugnisse alles zu tun”, um “falsche Signale” an die “Finanzinstitutionen, Investoren und Märkte” zu vermeiden.
Jetzt muss man vorsichtig sein: Ein Coup im Sinne eines Verfassungsbruchs ist das noch nicht. Der Präsident hat laut Art. 187 I der Verfassung bei der Frage, wen er zum Ministerpräsidenten ernennt, das Wahlergebnis zu “berücksichtigen”. Das tut er, wenn er den Spitzenkandidaten der stärksten Partei ernennt, und das ist Passos Coelho. Rechtlich ist dagegen wohl nichts zu sagen. Politisch natürlich um so mehr.
Ein verfassungspolitischer Skandal wird aber daraus, wenn der Präsident damit eine Strategie der Mehrheitsmanipulation verfolgt, und dafür spricht einiges. Cavaco Silva steht kurz vor dem Ende seiner Amtszeit. Im Januar wird sein Nachfolger gewählt, er selbst kann nicht wiedergewählt werden. Seine Möglichkeiten, eine linke Regierung zu verhindern, sind tatsächlich sehr begrenzt: Er kann den Konservativen keine Mehrheit im Parlament herzaubern. Er kann auch in den nächsten sechs Monaten nicht das Parlament auflösen und Neuwahlen herbeiführen. Was er aber tun könnte, ist die amtierende Regierung nach ihrem absehbaren Scheitern im Parlament während dieser sechs Monate geschäftsführend im Amt zu halten, auf dass anschließend Neuwahlen ein opportuneres Ergebnis hervorbringen.
Ich glaube, man kann ohne Einschränkung sagen, dass das ein schwerer Fehler wäre. Nicht nur, weil eine solche Strategie, die Linke von der Macht fernzuhalten, in einem Staat, der bis 1974 klerikalfaschistisch und autoritär verfasst war und in dem linke wie überhaupt Parteien überhaupt nicht erst existieren durften, die übelsten Assoziationen hervorrufen muss. Sondern auch und vor allem, weil Europa am allerwenigsten von einer solch manipulativen Politik profitieren würde.
Mit dieser Strategie würde der Präsident das Parlament massiv beschädigen und dem Land und seinen europäischen Partnern auf Monate hinaus eine handlungsunfähige Regierung bescheren. Außerdem würde er damit die politische Linke noch weiter in den Euroskeptizismus hineintreiben. Dort wartet schon die nationalistische Rechte und reibt sich die Hände.
Modern day implementation of the Brezhnev Doctrine: a country only has democratic rights if in favour of EU project. https://t.co/EmYuTy2VSl
— Nigel Farage (@Nigel_Farage) 27. Oktober 2015
Europa darf diese Debatte nicht den Nationalisten überlassen.