Quergelesen: Feldforschungen im Europarecht
Dass die Europäische Union eine Schöpfung des Rechts ist, wussten ihre Väter schon lange vor dem Maastrichter Vertrag und der Eurokrise. Walter Hallstein, der Frankfurter Juraprofessor und erste Kommissionspräsident, prägte das Wort von der „Rechtsgemeinschaft“ – die immer auch eine Gemeinschaft der Juristen war. Doch erst seit Kurzem nimmt die Forschung diese Akteure genauer in den Blick, untersucht einzelne Protagonisten ebenso wie die Netzwerke der Richter und Bürokraten, Anwälte und Professoren, die seit Mitte der 1950er Jahre das Feld des Europarechts und seiner Wissenschaft hervorbrachten.
Der vorliegende Band versammelt eine Reihe zeithistorischer und rechtssoziologischer Studien aus den produktiven Werkstätten der von Bordieu inspirierten europarechtlichen Feldforschung. Ein Gewinn ist die Lektüre für alle, die sich in Wissenschaft und Praxis mit dem Europarecht und dem Rechtsraum Europa beschäftigen.
In seiner Skizze der ersten Jahre des Europäischen Gerichtshofs zeigt Antonin Cohen, dass die erste Richtergeneration nicht nur profunde Kenntnis der mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen ihrer Herkunftsnationen mitbrachte, sondern auch soziales und politisches Kapital, mit dem sich bei der Ausformung, Interpretation und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts punkten ließ. Von den sieben ersten Richtern hatten drei zuvor nationalen Höchstgerichten angehört, die anderen blickten auf erfolgreiche Karrieren als Abgeordnete, Minister, hohe Beamte, Journalisten und Anwälte zurück. Wer, wie der Luxemburger Pierre Pescatore und der Italiener Riccardo Monaco, als Anwalt auf dem Kirchberg eine gute Figur machte, konnte darauf hoffen, bald selbst in eine der dunkelroten Roben zu schlüpfen.
Indem sie die zusätzlichen transnationalen Wege der Rechtsdurchsetzung nutzten, die das Europarecht eröffnete, profitierten Anwälte und Unternehmensjuristen nicht nur von der neuen Rechtsordnung, sondern wurden auch zu Agenten ihrer Konsolidierung. Mikael Rask Madsen beschreibt das Ringen um die Europäische Grundrechtecharta als Verhandlungsprozess versierter „legal entrepreneurs“, in dem sich mit solidem juristischem Wissen politisch reüssieren ließ.
Antoine Vauchez / Bruno de Witte, Hg., „Lawyering Europe“. European Law as a Transnational Social Field. Hart Publishing, Oxford 2013, 295 S., geb., 50.- £.