16 September 2015

Radikale Kosmopolitik – ein Rejoinder

Asylrecht und Kosmopolitismus, aber bitte in klaren Grenzen wünscht sich Christoph Brendel. Das ist verständlich und entspricht der überwiegenden Ratio staatlicher Politik. Deswegen vermag das Thema der Flüchtlinge diese staatliche Politik auch dermaßen zu verunsichern. Denn die Figur des Flüchtlings stellt die Idee absoluter territorialer Souveränität in Frage.

Kehren wir erst einmal zurück zu der Aussage Angela Merkels, das Asylrecht kenne keine Obergrenze. Das ist kein Programm, sondern Analyse. Denn das Asylrecht fragt nicht danach, wie viele Menschen schon gekommen sind oder inwieweit die Ankommenden ökonomisch nützen, sondern einzig danach, ob sie Schutz benötigen. Soweit die Idee.

Nun behauptet Christoph Brendel, dass wer immer in Europa ankommt, eben keinen Schutz mehr benötigt, dass ihm, in der Kantischen Variante, „nicht der Untergang drohe“. Das ist zunächst nach der Faktenlage fragwürdig. Die Nachbarländer Syriens, um nur einen Bereich in den Blick zu nehmen, haben in den letzten Jahren viele Menschen aufgenommen, sind aber an die Grenze ihrer Möglichkeiten gelangt. Die Flüchtlingsprogramme des UNHCR sind extrem unterfinanziert, die in diesen Ländern Untergekommenen in ihren grundlegenden Rechten bedroht, die Hoffnung, bald nach Syrien zurückkehren zu können, schwindet, und währenddessen verlassen immer mehr Menschen das Land.

Wir wissen nicht, wer ein Flüchtling ist

Die Behauptung trifft aber dennoch den Kern des Problems, und das ist die Frage, wer denn darüber entscheidet, wer Schutz benötigt. Das Recht des Flüchtlings, indem es als weltbürgerliches Recht auftritt, ist eben kein einseitig vom Staat (oder der EU) gewährtes Recht – auch wenn es das als Art. 16 a GG oder als Art. 18 der Europäischen Grundrechtecharta ist. Die Idee des Weltbürgerrechts ist deshalb so radikal, weil sie in einem anderen Licht erscheinen lässt, was sich in der Praxis anschließt: die einseitige Konkretisierung dieses Rechts auf Zugang und Schutz.

Damit will ich sicher nicht gegen eine rechtliche Konkretisierung des Asylrechts argumentieren. Wichtig scheint mir aber der Hinweis, dass diese rechtliche Festschreibung nicht identisch ist mit dem weltbürgerlichen Recht, wie es zum Beispiel Kant beschreibt. Die Konkretisierung des Asylrechts findet in den gleichen staatlichen Verfahren statt, wie die allen sonstigen Rechts. Wir befinden uns hier, um an Christoph Brendel anzuschließen, innerhalb der Dreiteilung Kants im Bereich des Staatsrechts, – oder auch im Bereich Völkerrecht, wenn wir von der Genfer Flüchtlingskonvention sprechen.

Das Weltbürgerrecht vermag daneben zunächst eine Perspektive herzustellen: Nämlich die, dass es sich bei den Regeln darüber, wer, wie, wo und unter welchen Bedingungen Schutz erhält, um politische und nicht lediglich um humanitäre Fragen handelt. Das war meine These im letzten Beitrag – dass das Asylrecht als weltbürgerliches Recht gar nicht anders als radikal sein kann, weil es eben diese Perspektive eröffnet, und die Frage aufwirft, wer über die Regulierung von Grenzen entscheiden kann.

Kants Formulierung des Weltbürgerrechts hat wohl auch deshalb die Geschichte des Flüchtlingsschutzes geprägt, weil es die grundlegende Ambivalenz des Rechts des Flüchtlings in einer Welt von Territorialstaaten zu fassen vermag. Der Begriff des Flüchtlings selbst spiegelt diese Ambivalenz: Wir sagen „Flüchtlinge“, weil wir begründen müssen, weshalb Menschen aufgenommen werden sollen. In einer Ordnung durchlässiger Grenzen besteht für diese Bezeichnung kaum Notwendigkeit, zumindest nicht als rechtlichen Ausdruck. Insofern spiegelt der Begriff des Flüchtlings die Vorstellung, dass Staaten im Grundsatz frei sind, ihre Grenzen zu regulieren. Andererseits sagen wir auch „Flüchtlinge“, um damit zu begründen, dass Menschen aufgenommen werden sollen, weil sie in Not sind. (Die Debatte um den angemessenen Gebrauch von Bezeichnungen in den Medien zeigt das sehr eindrücklich.) In dem Begriff des Flüchtlings ist insofern die Vorstellung verankert, dass es Fälle gibt, in denen die territoriale Souveränität nicht absolut gilt.

Insofern vermag die Figur des Flüchtlings – wer immer dann unter diese Bezeichnung fallen mag – zu verunsichern, weil sie die Souveränität von Staaten begrifflich in Frage stellt. Das ist verunsichernd, weil damit die Pflichten des Staates von dem Zustand der sonstigen Welt abhängen. Das ist aber vor allem verunsichernd, weil auch die Frage, wer überhaupt ein Flüchtling ist, als Frage erscheint, die von der Welt und nicht im Staat entschieden wird.

Nennen wir es nicht Kosmopolitismus, sondern Kosmopolitik

Das Ganze wäre missverstanden, wenn es scheint, es ginge darum, an der Hand von Kant gegen die aktuelle Asylpolitik der EU zu streiten. Die Formulierungen von 1795 bieten keine Lösung, sondern Vokabular. Und das Vokabular des Kosmopolitismus scheint mir passend, um zu beschreiben, was wir in diesen Tagen erleben. Wir erleben, wie der Versuch, Freizügigkeit stärker einzudämmen, das Gegenteil bewirkte (eine interessante Analyse hier). Wir erleben, wie die Entscheidung von Flüchtlingen am Bahnhof in Budapest, nicht länger auf ein Ende der europäischen Solidaritätskonflikte zu warten, sondern sich auf den Weg zu machen, eine zeitweilige Öffnung der Grenzen herbeiführte. Und wir erleben eine beeindruckende Hilfsbereitschaft und Handlungsfähigkeit der Bevölkerung vielerorts in Europa.

Zugleich erleben wir auch, dass in Europa wieder Grenzkontrollen eingeführt sind, dass sich erschreckende Szenen an der ungarisch-serbischen Grenze abspielen, dass die Minister der EU bislang zu keiner Einigung über weiteres Vorgehen in der Lage waren, dass das Ziel gemeinsamen europäischen Handelns die Handlungsfähigkeit insgesamt eher zu mindern als zu befördern scheint. Es bestehen weiterhin keine legalen Zugangswege in die EU, und die Zahl derer, die bei dem Versuch, Europa zu erreichen, ihr Leben verlieren, steigt weiter.

Ich glaube also nicht, dass der Kosmopolitismus zur politisch-rechtlichen Doktrin in der Asylfrage erhoben wurde, wie es Christoph Brendel befürchtet. Aber nicht, weil die Politik der EU so wenig Anlass zu Optimismus gibt. Ich glaube einfach nicht, dass Kosmopolitismus geeignet ist, zur Doktrin erhoben zu werden – denn wessen Kosmopolitismus sollte das sein? Die Bezeichnung, die James D. Ingram in seinem sehr empfehlenswerten Buch vorschlägt, ist die der Kosmopolitik. Und die spricht davon, dass die weltbürgerliche Idee sich in ihrer Aktualisierung in vielen konkreten Zusammenhängen ausdrückt.


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