21 July 2020

„Rasse“ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil II)

Es gibt keine „Rassen“ im biologischen Sinn. Rasse bleibt aber wichtig, weil und solange sie als gesellschaftliche Zuschreibung weiter die Wirklichkeit prägt. Den Begriff der Rasse im Grundgesetz zu streichen, ist nicht nur entbehrlich, sondern riskiert, den verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz zu schwächen, statt ihn zu stärken.

Das soll in diesem fünfteiligen Beitrag näher begründet werden, dessen erster Teil gestern erschienen ist (vgl. hier) und dessen weitere Teile in den nächsten Tagen erscheinen werden (vgl. dann die Teile III, IV und V).

1. Was heißen die rassistischen Aussagen Hermann v. Mangoldts im Parlamentarischen Rat (s. Teil I) für die Interpretation des Begriffs der „Rasse“ in Art. 3 III 1 GG?

Von Mangoldt verstand den Begriff der „Rasse“ danach aller Wahrscheinlichkeit nach selbst noch in einem biologischen Sinn – während man bei Bergsträsser insoweit zumindest ein gewisses Unbehagen zu verspüren meint, da er statt von der ‚nordischen Rasse‘ lieber vom ‚abendländischen Kulturkreis‘ sprechen wollte.

Man war sich allerdings darüber einig, dass die Gleichheitsrechte zugleich gerade ein Verbot begründen sollten, jemanden wegen seiner Rasse zu benachteiligen. Der Grundsatzausschuss sah mit dem Diskriminierungsverbot also vermutlich, seinen konkreten Anwendungsvorstellungen nach, klargestellt, dass niemand wegen biologischer Unterschiede zwischen „Rassen“ benachteiligt werden darf.

Jedoch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Ausschuss damit seine eigenen Annahmen über die biologische Existenz solcher Unterschiede zu einer Art widerlegungsresistenten Legalfiktion hätte erheben wollen. Die gewollte Beweglichkeit der Grundrechtsauslegung in der Zeit, die gerade auch v. Mangoldt so betonte, spricht im Gegenteil dafür, dass der Begriff der „Rasse“ für den jeweiligen biologischen Erkenntnisstand offen bleiben sollte. Auch insoweit ist, wie im ersten Teil dieses Beitrags bereits erläutert (vgl. hier), sorgfältig zwischen den konkreteren und den allgemeineren Anwendungsvorstellungen der verfassungsgebenden Gewalt zu unterscheiden.

Der Begriff der „Rasse“ ist daher auch nach dem Willen des Verfassungsgebers so zu deuten, dass er Gruppen bezeichnet, die aufgrund wirklicher oder aber nur vermeintlicher, ihnen aber gesellschaftlich zugeschriebener gemeinsamer biologischer Eigenschaften konstituiert werden.

Der historische Kontext von 1949 und 1938: Separate-but-equal und Staatsrechtslehre der NS-Zeit

2. Was stand aber hinter Hermann v. Mangoldts krassen rassistischen Ausführungen im Parlamentarischen Rat zur Unterschiedlichkeit der Rassen und dem Schutz vor einer „Überfremdung“ der „nordischen Rasse“ als Ziel des Einwanderungsrechts in den Vereinigten Staaten von Amerika?

Von Mangoldt beschäftigte sich 1948 keineswegs zum ersten Mal mit dem Problem der Rassendiskriminierung, sondern er hatte dazu bereits rechtswissenschaftlich gearbeitet. Er kannte sich insbesondere mit der Rechtslage in den Vereinigten Staaten bestens aus.

In seinem Werk „Rechtsstaatsgedanke und Regierungsformen in den Vereinigten Staaten von Amerika“ von 1938 analysierte v. Mangoldt detailliert die nordamerikanische Rechtsprechung – nicht nur des Supreme Court – zum „Rassenrecht“, etwa zur Rassentrennung in Schulen oder öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu den strafrechtlichen Verboten der “miscegenation”, also der „Vermischung“ von Rassen durch „Mischehen“ oder durch außereheliche Beziehungen zwischen Menschen weißer und nichtweißer Hautfarbe.

Was war der verfassungsrechtliche Kontext 1938, als v. Mangoldt diese Untersuchung veröffentlichte, und beim Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949?

In den Vereinigten Staaten ging der U.S. Supreme Court, 1949 wie 1938, von der so genannten „Separate-but-equal“-Doktrin aus. Nach dieser Doktrin sollte die Rassentrennung mit dem Gleichheitssatz des 14. Verfassungszusatzes vereinbar sein, solange die staatliche Leistung „getrennt, aber gleich“ („separate but equal“) zur Verfügung gestellt wurde.

Das Plessy-Urteil von 1896 sah, darauf gestützt, in der Segregation der „Rassen“ in Eisenbahnabteilen keine Verletzung des Gleichheitssatzes des 14th Amendment. Von diesem Separate-but-equal-Grundsatz wandte sich der Supreme Court erst mit seiner berühmten Brown-Entscheidung von 1954 zur Segregation an Schulen ab. Chief Justice Earl Warren verfasste diese Entscheidung für ein einstimmiges Gericht. Sie gab nachträglich der einzigen abweichenden Stimme zum Plessy-Urteil Recht, dem ersten Justice John Marshall Harlan.

Von Mangoldt starb 1953, erlebte diesen grundlegenden Rechtsprechungswandel also nicht mehr mit. Als der Parlamentarische Rat tagte, entsprach die angebliche Legalität der Rassentrennung vielmehr noch der Rechtsprechung des höchsten Gerichts jener westalliierten Macht, deren Rosinenbomber seit Juni 1948 das von der Sowjetunion blockierte Westberlin mit ihrer Luftbrücke versorgten.

Und 1938?

Sich als Rechtswissenschaftler damals überhaupt mit dem Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten zu beschäftigen, stand im nationalsozialistischen Deutschland nicht sonderlich hoch im Kurs. Für v. Mangoldt war es sogar bereits die zweite einschlägige Monographie. Die erste war eine 1934 veröffentlichte Untersuchung, in der er dem System der gerichtlichen Verfassungskontrolle in den Vereinigten Staaten rechtsstaatlichen Vorbildcharakter beimaß.

Auch in der Arbeit von 1938 beurteilte er das Recht der Vereinigten Staaten als vorbildlich: Er hielt den Separate-but-equal-Grundsatz für überzeugend und sah darin ein Modell für den Umgang mit dem Judentum – Trennung der „Rassen“ bei Anerkennung (ansonsten) gleicher Menschenrechte.

So absurd und rassistisch das aus heutiger Sicht war – man sollte nicht übersehen, dass sich v. Mangoldt damit, jedenfalls in dieser Untersuchung von 1938, eher noch gegen den juristischen Strom seiner Zeit bewegte.

3. Um das damalige Klima in der deutschen Rechtswissenschaft (vgl. dazu nur Rüthers) zu veranschaulichen, sollte es genügen, einige prominente Zitate in Erinnerung zu rufen. (Wer mit der Geschichte der deutschen Staatsrechtslehre in dieser Zeit nicht so vertraut ist, sollte sich für die nächsten Absätze „warm anziehen“.)

Carl Schmitt etwa führte 1936, in seiner Funktion als „Reichsgruppenwalter“ der „Reichsgruppe Hochschullehrer“ im „Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund“ in seinem Schlusswort zur Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ das Folgende aus:

Was wir suchen und wofür wir kämpfen, ist unser[e] unverfälschte eigene Art, die unversehrte Reinheit unseres deutschen Volkes. ‚Indem ich mich des Juden erwehre‘, so sagt unser Führer Adolf Hitler, ‚kämpfe ich für das Werk des Herrn.‘“

(Das Judentum in der Rechtswissenschaft, 1. Die Deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, 1936, S. 28 [34]).

Theodor Maunz (ja, der Maunz vom Maunz/Dürig) betonte 1938 die ‚rassische‘ Grundlage des Gleichheitsgrundsatzes des deutschen Rechts als eines Grundsatzes der „Gleichheit aller artgleichen Volksgenossen“:

Das deutsche Recht hat einen auf rassischer Grundlage aufgebauten Gleichheitsgrundsatz […]. Im deutschen Recht gilt die Gleichheit aller artgleichen Volksgenossen – der Ausschluß Artfremder von der unterschiedslosen Benützung von Einrichtungen in der Hand des Staates oder der Gemeinden, etwa gemeindlicher Badeunternehmungen, ist ihm also keine Verletzung, sondern eine Erfüllung seines Gleichheitssatzes.“

(Die Staatsaufsicht, in: Höhn/Maunz/Swoboda, Grundfragen der Rechtsauffassung, 1938, S. 45 [83]).

Und Ernst Rudolf Huber hob 1939 in seinem „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ das Ziel einer „völligen Ausscheidung des Judentums“ aus dem Reich hervor:

Die Juden genießen im Reich nicht die Stellung einer fremdvölkischen Minderheit, sondern ihnen ist eine Sonderstellung zugewiesen, die sich aus dem Ziel einer völligen Ausscheidung des Judentums erklärt.“

(Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl., 1939, S. 181).

Von Mangoldts Aufsatz „Rassenrecht und Judentum“ von 1939 – und Hitlers rassistische „Würde“ eines „höheren Menschentums“

4. Allerdings ging auch v. Mangoldt dann noch entscheidende Schritte weiter in diese Richtung. In seinem Aufsatz von 1939 zu „Rassenrecht und Judentum“ warnte er nicht nur – wie der Sache nach auch schon in seiner Schrift von 1938 – vor den „Gefahren der Vermischung“ mit „stark artfremdem Blute“.

Sondern er bescheinigte jetzt dem nationalsozialistischen „Rassenrecht“ ausdrücklich, es halte „auch nach der ethischen Seite jeden Vergleich mit den Maßnahmen der angelsächsischen Welt aus“ und verfolge „hohe ethische Ziele“ (Württembergische Verwaltungszeitschrift 1939, S. 49):

„Die durch diese Gesetze gesicherte Reinerhaltung des Blutes ist nicht Selbstzweck, sondern wie der Führer im ‚Kampf‘ (S. 434) gesagt hat, ‚ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge um die Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde eines höheren Menschentums schaffen‘.“

Einzelne der Regelungen, um die es ging, hatte v. Mangoldt zuvor ausdrücklich näher benannt (vgl. S. 49, wo u.a. auf das Reichsbürgergesetz, „das deutsche Blutschutzgesetz und die deutschen Verordnungen über die Entfernung des artfremden Blutes aus den freien Berufen (IV., V., VI. und VIII. VO. zum Reichsbürgergesetz) und der gewerblichen Wirtschaft“ verwiesen wird).

Nicht einmal von „separate but equal“ war hier noch die Rede. Stattdessen schloss sich v. Mangoldt hier dem rassistischen Menschenwürdebegriff Adolf Hitlers an, der die ‚Schönheit und Würde eines höheren Menschentums‘ als den ‚höchsten Zweck des völkischen Staates‘ definierte.

5. Was heißen diese entsetzlichen Aussagen v. Mangoldts für die Verfassungsauslegung?

Der Vorsitzende des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates hat 1939 jenen rassistischen und antisemitischen Unrechtsgesetzen „hohe ethische Ziele“ bescheinigt, die dem Völkermord die Bahn bereiteten. Noch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates hat er, wie gesehen, erkennen lassen, dass er selbst weiterhin von einer grundlegenden Verschiedenheit der „Rassen“ ausging.

Untergräbt das nicht jede normative Rechtfertigung dafür, sich den Willen dieser verfassungsgebenden Gewalt überhaupt noch zum Auslegungsziel zu setzen? Muss eine Verfassung, die so entsteht, nicht jeden Anspruch auf eine solche interpretatorische Loyalität verlieren?

Ich glaube – am Ende – nicht, dass das die richtige Schlussfolgerung wäre.

Von Mangoldt hat nicht diese nationalsozialistischen Wertungen zum Inhalt des Grundgesetzes erklären wollen, sondern er hat im Ausschuss für Grundsatzfragen maßgeblich an der Formulierung jener Menschenwürdegarantie mitgewirkt, die nicht Adolf Hitlers rassistische „Würde eines höheren Menschentums“, sondern die Würde jedes einzelnen Menschen unantastbar stellt.

Die massiven Kontinuitäten zum Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik Deutschland, vor allem auch in der Justiz, sind gut belegt (vgl. dazu nur Frei, Stolleis, S. 247 ff., oder Angermund; siehe auch hier). Es ist deshalb kaum überraschend, wenn sich solche Kontinuitäten und das rassistische Gedankengut der Zeit auch in – vergleichsweise – weniger belasteten Institutionen wie dem Parlamentarischen Rat (vgl. dazu Feldkamp, S. 41-43, s. auch hier) oder dem Bundesverfassungsgericht (vgl. hier zu Willi Geiger), finden.

Trotz solcher Kontinuitäten und trotz der abschreckenden nationalsozialistischen Loyalitätsbekundung v. Mangoldts von 1939 verdienen aus meiner Sicht seine Vorstellungen zur Entwicklung des Gleichheitssatzes aus der Schrift von 1938 zunächst einen genaueren Blick und eine historische Einordnung, bevor sie hier einer – sicher angesichts der vielfach weithin noch ausstehenden Erforschung dieser Biografien (vgl. mit Blick auf das Völkerrecht Khan) stets auch nur vorläufigen – Würdigung unterzogen werden können.

Dieser eingehendere historische Blick wird sich im morgigen nächsten Teil dieses Beitrags (Teil III) zunächst auf Abraham Lincoln und dessen Würdigung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 richten – auf die sich v. Mangoldt in seiner Schrift von 1938 für den Gedanken eines menschenrechtlichen Mindeststandards gleicher Freiheit nicht zuletzt maßgeblich stützte (vgl. auch die dann noch folgenden Teile IV und V).


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