„Rasse“ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil III)
Es gibt keine „Rassen“ im biologischen Sinn. Rasse bleibt aber wichtig, weil und solange sie als gesellschaftliche Zuschreibung weiter die Wirklichkeit prägt. Den Begriff der Rasse im Grundgesetz zu streichen, ist nicht nur entbehrlich, sondern riskiert, den verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz zu schwächen, statt ihn zu stärken.
Das soll in diesem fünfteiligen Beitrag näher begründet werden, dessen erste zwei Teile bereits erschienen sind (vgl. Teil I und II) und dessen zwei weitere Teile in den nächsten Tagen erscheinen werden (vgl. dann die Teile IV und V).
„Das sagten sie, und das meinten sie.“ – Lincoln und das Dred-Scott-Urteil von 1857
1. Für den Gedanken eines menschenrechtlichen Mindeststandards gleicher Freiheit, an den er im Parlamentarischen Rat anknüpfte, stützte sich Hermann v. Mangoldt in seiner Untersuchung zum Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von 1938 maßgeblich auf Abraham Lincoln.
Von Mangoldt betonte dort, dass Lincoln die Gleichheit aller Menschen als ein zukunftsgerichtetes Ideal verstanden habe, das einer ständigen Annäherung bedürfe. Er verwies dafür vor allem auf eine Rede, die Lincoln am 26. Juni 1857 in Illinois hielt, und gab einen längeren Auszug daraus in einer eigenen Übersetzung wieder (vgl. hier, S. 201 f.).
In dieser berühmten Rede wendete sich Lincoln gegen eine Entscheidung des U.S. Supreme Court, die gut ein Jahr vorher ergangen war – das berüchtigte Dred Scott-Urteil vom 6. März 1856. Lincoln argumentierte, anders als im Urteil behauptet hätten die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 mit ihren Worten „all men are created equal“ durchaus auch die Sklaven und deren Nachkommen gemeint:
„I think the authors of that notable instrument intended to include all, but they did not intend to declare all men equal in all respects. They did not mean to say all were equal in color, size, intellect, moral developments, or social capacity. They defined with tolerable distinctness, in what respects they did consider all men created equal – equal in ‘certain inalienable rights, among which are life, liberty, and the pursuit of happiness.’ This they said, and this they meant.“
(Lincoln, From Speech on the Dred Scott Decision at Springfield, Illinois, June 26, 1857, in: ders., Selected Speeches and Writings, S. 117 [120]; s. auch hier; Hervorh. im Original).
Lincoln verwahrte sich freilich auch dagegen, mit dieser Stellungnahme gegen die Sklaverei einer „unterschiedslosen Vermischung“ der „Rassen“ das Wort reden zu wollen. Wie die meisten (weißen) Gegner der Sklaverei damals vertrat er einen „gemäßigten“ Abolitionismus, der keineswegs auch eine vollständige soziale Gleichstellung forderte. Erst später, kurz vor seiner Ermordung 1865 und unter dem Eindruck des Bürgerkrieges, entwickelte Lincoln inklusivere Gleichheitsvorstellungen (vgl. näher Amar, S. 25-28, 311).
Für Lincoln war, ebenso wie für v. Mangoldt, die Gleichheit aller Menschen also noch durchaus vereinbar mit einer sozialen Trennung der „Rassen“.
Jedoch war nach Lincolns Verständnis die Idee gleicher Menschenrechte auch eine „Standardmaxime für eine freie Gesellschaft“ („standard maxim for free society“), die auf eine immer stärkere Verwirklichung in der Zukunft angelegt war (vgl. dazu etwa Wills, S. 101-120, der bei Lincoln Verbindungen zu „Transcendentalists“ wie Ralph Waldo Emerson, George Bancroft und Theodore Parker sieht, die ihrerseits vom deutschen Idealismus beeinflusst waren):
„They meant simply to declare the right, so that the enforcement of it might follow as fast as circumstances should permit. They meant to set up a standard maxim for free society, which should be familiar to all, and revered by all; constantly looked to, constantly labored for, and even though never perfectly attained, constantly approximated, and thereby constantly spreading and deepening its influence, and augmenting the happiness and value of life to all people of all colors everywhere.“
(ibid., S. 117 [120 f.]; s. auch hier; Hervorh. im Original).
Die Autoren der Unabhängigkeitserklärung hätten die Worte von der Gleichheit aller Menschen als einen „Stolperstein“ (“a stumbling block”) für jene gewollt, die in späteren Zeiten versuchen sollten, „ein freies Volk wieder auf die verhassten Pfade des Despotismus zurückzuführen“, um ihnen „zumindest eine harte Nuss zu knacken“ zu hinterlassen:
„The assertion that ‘all men are created equal’ […] was placed in the Declaration […] for future use. Its authors meant it to be, thank God, it is now proving itself, a stumbling block to those who in after times might seek to turn a free people back into the hateful paths of despotism. They knew the proneness of prosperity to breed tyrants, and they meant when such should reappear in this fair land and commence their vocation they should find left for them at least one hard nut to crack.“
(ibid., S. 117 [121]; s. auch hier; Hervorh. im Original).
2. Das Dred Scott-Urteil von 1856, gegen das sich Lincoln mit seiner Rede von 1857 wandte, wies die Klage des versklavten Dred Scott auf seine Freiheit mangels Klageberechtigung ab. Das Urteil entschied, Menschen „afrikanischer Rasse“ könnten keine Bürger der Vereinigten Staaten sein – und das Eigentumsrecht der Sklavenhalter verbiete es dem Bund, in den neuen westlichen Territorien die Sklaverei zu verbieten.
Chief Justice Roger B. Taney erklärte die Begriffe „Volk“ („We the People“) und „Staatsbürger“ („citizen“) im Sinne der Bundesverfassung für rassisch definierte Begriffe, unter die kein Angehöriger der „afrikanischen Rasse“, ob versklavt oder frei, jemals fallen könne (Dred Scott v. Sandford, 60 U. S. 393, 404-407, 425-426 [1857]).
Taney berief sich dafür auf den historischen Willen des Verfassungsgebers von 1789, den ein Wandel der öffentlichen Meinung nicht zu ändern vermöge.
Weil Angehörige der „afrikanischen Rasse“ zur Zeit der Verfassungsgebung nicht Bürger der einzelnen Staaten gewesen seien, könnten sie auch keine Bürger im Sinne der Bundesverfassung sein. Die Angehörigen dieser „unglückseligen Rasse“ sei sie zu dieser Zeit und zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung in ganz Europa schon lange betrachtet worden als
„Wesen einer niederen Ordnung, und vollkommen untauglich dazu, mit der weißen Rasse in Verbindung zu treten, und so sehr minderwertig, dass sie keine Rechte hatten, die zu respektieren der weiße Mann gebunden war […].“
(vgl. 60 U. S. 393, 407).
War das aber tatsächlich die Überzeugung des Verfassungsgebers von 1789?
Justice Benjamin Curtis widerlegte diese Behauptung Taneys schon in seinem Sondervotum von 1856 (60 U. S. 393, 564, 571-588). In fünf der dreizehn Gründungsstaaten der Union waren auch freie Menschen afrikanischer Abstammung Bürger des jeweiligen Staates, darunter auch Wahlberechtigte, die selbst an der Verabschiedung der Verfassung mitwirkten. Nach den Prämissen des Urteils bildete sich das Volk der Vereinigten Staaten aber aus allen, die im Zeitpunkt der Verfassungsgebung Bürger eines der dreizehn Gründerstaaten waren. Dann aber konnte die Behauptung nicht richtig sein, Angehörige der „afrikanischen Rasse“ hätten nach dem Willen des Verfassungsgebers von vornherein keine Bürger im Sinne der Verfassung sein können. Die Gerichtsmehrheit im Dred Scott Urteil konnte sich also gerade nicht auf den historischen Willen der verfassungsgebenden Gewalt berufen (vgl. auch Heun, hier, S. 233 [241]).
3. Das Dred Scott-Urteil verneinte nicht nur die Klageberechtigung von Menschen, die es der „afrikanischen Rasse“ zuordnete, sondern erklärte außerdem das Eigentum an versklavten Menschen für durch die Bundesverfassung geschützt.
Als Verletzung dieses Eigentumsrechts erklärte das Urteil den Missouri-Kompromiss von 1820 für verfassungswidrig, der die Ausdehnung der Sklaverei in die neuen westlichen Territorien begrenzte (vgl. Chemerinsky, S. 722 f.; vgl. auch die Vorauflage hier). Das war damals vor allem für die Südstaaten von erheblichem wirtschaftlichen Interesse, eröffnete es doch die Aussicht, dass die Institution der Sklaverei, vom Bund ungehindert, nach Westen expandieren konnte.
Die Gegner der Sklaverei bestritten, dass die Bundesverfassung ein Grundrecht auf Eigentum an Menschen anerkenne. Für sie erkannte die Bundesverfassung die Sklaverei allenfalls als eine einzelstaatliche Institution an, während auf Bundesebene der Freiheitsgrundsatz, „freedom national“, gelte (vgl. dazu näher Oakes).
Das Dred Scott-Urteil wies diese Argumentation zurück und schlug sich umfassend auf die Seite der Sklavenhalter. Lincoln lehnte das Urteil vehement ab und machte es später auch zu einem zentralen Gegenstand seines Wahlkampfs um die Präsidentschaft. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg am 6. November 1860, noch vor seinem Amtsantritt am 4. März 1861, erklärten die Südstaaten dann ihre Sezession von der Union. Das Dred Scott-Urteil kann insofern als – mittelbar – mitursächlich für den blutigen Bürgerkrieg angesehen werden, der von 1861 bis 1865 zwischen Nord- und Südstaaten geführt wurde (vgl. auch Chemerinsky, S. 722: „helped to precipitate the Civil War“).
„Wir beschäftigen uns obsessiv mit Interpretation, weil sie Rechte gibt und wegnimmt“ (Jeannie Suk Gersen). Der Streit darum, ob die großen Worte von der Gleichheit aller Menschen von 1776 wörtlich zu verstehen waren oder nicht, war nie eine nur symbolische Frage. Sie hatte von Anfang an massive Auswirkungen auf das Leben – und Sterben – derjenigen, deren Rechte als von diesem Gleichheitsversprechen ausgenommen beurteilt wurden.
„[A]ll men are created equal“: Die Unabhängigkeitserklärung und das Dred Scott-Urteil
4. Auch wenn die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 nicht Teil der Verfassung ist, war es offenkundig, dass ihre berühmten Sätze von der Gleichheit aller Menschen eine Herausforderung für Chief Justice Taneys These im Dred Scott-Urteil bedeuten mussten, Angehörige der „afrikanischen Rasse“ seien zur Revolutionszeit generell als minderwertige Wesen ohne eigene Rechte angesehen worden.
Alle Menschen sind gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet, zu denen Leben, Freiheit und die Verfolgung der Glückseligkeit gehören:
“We hold these Truths to be self-evident, that all Men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness […].”
(vgl. hier).
Taney gestand durchaus zu, dass dieser Wortlaut alle Menschen („the whole human family“) einzuschließen schien. Er fand jedoch eine verblüffende Begründung dafür, warum die Aussage trotzdem nicht wörtlich gemeint gewesen sein könne: Weil die Verfasser der Erklärung Ehrenmänner waren – und weil Ehrenmänner niemals Grundsätze behaupten würden, die ihrem eigenen Verhalten (als Sklavenhalter) offenkundig zuwiderlaufen:
„[D]ie Männer, die diese Erklärung verfassten, waren große Männer – mit hohen literarischen Fähigkeiten, mit hohem Sinn für Ehre, und außerstande, Grundsätze zu behaupten, die mit denen unvereinbar waren, nach denen sie handelten.“
(60 U. S. 393, 410).
Sie hätten nach den „damals etablierten Doktrinen und Grundsätzen gesprochen und gehandelt“ und sich „der gewöhnlichen Sprache der Zeit“ bedient – und niemand habe sie missverstanden:
“They spoke and acted according to the then established doctrines and principles, and in the ordinary language of the day, and no one misunderstood them.”
(ibid.).
Mit anderen Worten: Die Verfasser können mit „alle Menschen“ nicht wirklich „alle Menschen“ gemeint haben, weil sie als Sklavenhalter sonst ihr eigenes Verhalten als offenkundig menschenrechtswidrig gebrandmarkt hätten.
5. Mit diesem illusionistischen Zauberkunststück schuf Taney ein bleibendes Denkmal richterlicher Wortverdrehungskunst. Nennen wir die Regel, die er dabei zur Anwendung brachte, „Taneys Auslegungsregel“: Wann immer „ein Ehrenmann“ etwas sagt, was seinem eigenen Verhalten evident zuwiderlaufen würde, kann er es nicht so gemeint haben, wie er es gesagt hat.
Diese Auslegungsregel verkennt ganz offenkundig, dass auch bei ehrenhaften Menschen Worte und Taten auseinanderfallen können.
Enthalten Taneys Aussagen aber nicht vielleicht trotzdem einen wahren Kern? War nicht möglicherweise tatsächlich 1776 stillschweigend allen (Weißen) klar, dass keine Nichtweißen mitgemeint waren?
Nein, denn das Gleichheitsversprechen der Erklärung wurde schon 1776 weithin als auch auf Menschen schwarzer Hautfarbe bezogen verstanden (vgl. dazu die näheren Belege hier, S. 337-350, bes. Fn. 760 f.). Schon in der damaligen Debatte wurden die Worte „all men are created equal“ vielfach als Ausdruck menschenrechtlicher Gleichheit verstanden und als mit der Sklaverei unvereinbar angesehen – auch wenn sich die darauf teils gestützten abolitionistischen Hoffnungen angesichts der massiven Interessen vor allem des Südens an der Beibehaltung der Sklaverei bald als utopisch erweisen sollten.
Die Mitglieder des Kontinentalkongresses, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten, waren sich sehr wohl im Klaren darüber, dass sie, indem sie sich auf die Gleichheit aller Menschen beriefen, einen „Schuldschein“ für die Zukunft ausstellten (vgl. Martin Luther King Jr., s. auch hier, S. 81 f. [„a promissory note to which every American was to fall heir“]; Ellis, S. 135). Soweit sie selbst Sklavenhalter waren, setzten sie sich dem Vorwurf, damit ihren eigenen Worten zuwiderzuhandeln, teils sehenden Auges aus, wussten sie doch, dass ihre Zeitgenossen sie beim Wort nehmen und ihre Aussagen als so gemeint verstehen konnten, wie sie formuliert waren.
Das gilt, wie im nächsten Teil dieses Beitrags zu zeigen sein wird, nicht zuletzt auch für Thomas Jefferson, der die berühmten Sätze der Unabhängigkeitserklärung entwarf.