23 July 2020

„Rasse“ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil IV)

Es gibt keine „Rassen“ im biologischen Sinn. Rasse bleibt aber wichtig, weil und solange sie als gesellschaftliche Zuschreibung weiter die Wirklichkeit prägt. Den Begriff der Rasse im Grundgesetz zu streichen, ist nicht nur entbehrlich, sondern riskiert, den verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz zu schwächen, statt ihn zu stärken.

Das soll in diesem fünfteiligen Beitrag näher begründet werden, dessen erste drei Teile bereits erschienen sind (vgl. Teile I, II und III) und dessen letzter Teil morgen erscheinen wird (vgl. dann Teil V).

Thomas Jefferson: Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, Sklavenhalter – und Sklavereigegner

1. Jeffersons erster Entwurf für die Unabhängigkeitserklärung von 1776 enthielt Formulierungen, die den Zusammenhang zwischen der gleichen Freiheit aller Menschen und der Sklaverei ausdrücklich selbst herstellten.

In diesem Entwurf bezeichnete Jefferson die Versklavung afrikanischer Menschen durch Gefangennahme und Entführung als einen „grausamen Krieg gegen die menschliche Natur selbst“, durch den König Georg III. „die heiligsten Rechte des Lebens und der Freiheit“ verletzt habe, und verurteilte den Sklavenhandel als ein „abscheuliches Geschäft“:

He has waged cruel war against human nature itself, violating it’s most sacred rights of life and liberty in the persons of a distant people who never offended him, captivating & carrying them into slavery in another hemisphere, or to incur miserable death in the transportation thither. This piratical warfare, the opprobrium of INFIDEL powers, is the warfare of the CHRISTIAN king of Great Britain. Determined to keep open a market where MEN should be bought & sold, he has prostituted his negative for suppressing every legislative attempt to prohibit or to restrain this execrable commerce.”

(Jefferson, hier, S. 96 [99]; Hervorh. im Original; vgl. auch hier).

Weder Benjamin Franklin noch John Adams noch die beiden anderen Mitglieder des Fünfer-Komitees, das vom Kontinentalkongress mit dem Entwurf betraut worden war (Roger Sherman und Robert Livingston), nahmen an dieser Passage Änderungen vor. Sie wurde erst im Kongress gestrichen, und zwar offenbar vor allem South Carolina und Georgia zu Gefallen, die ihren eigenen Sklavenhandel fortzusetzen gedachten und die Aufmerksamkeit nicht darauf gelenkt sehen wollten.

Das zeigt, dass für Jefferson die Sklaverei der Gleichheit und dem Recht auf Freiheit widersprach, von denen die Erklärung sprach. Es spricht außerdem auch deutlich dafür, dass er das Wort “men” in der Erklärung in einem weiten, alle Menschen einschließenden Sinn verwendete.

Denn Jefferson verurteilte den Sklavenhandel dort als einen Markt, auf dem „Menschen“ (“men”) gekauft und verkauft werden (“where men should be bought & sold”). Er bezog den Begriff “men” hier also nicht nur eindeutig auch auf Sklaven, verstand ihn also nicht als auf Menschen weißer Hautfarbe beschränkt. Da auf den Sklavenmärkten Frauen, Männer und Kinder gehandelt wurden, liegt es vielmehr darüber hinaus auch ausgesprochen fern, dass Jefferson hier mit „men“ nur Männer gemeint haben könnte (vgl. Danielle Allen, Our Declaration, S. 154). Es sprechen vielmehr die stärkeren Gründe dafür, dass mit “men” hier schlicht alle „Menschen“ gemeint waren – unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Alter. Und dies wiederum lässt darauf schließen, dass der Begriff auch in der Aussage “all men are created equal” von Anfang an nicht anders gemeint war.

2. Jefferson meinte also durchaus was er sagte, wenn er von der Gleichheit und Freiheit aller Menschen sprach – obwohl es in offenkundigem Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten als Halter hunderter von Sklaven auf seinem Herrenhaus in Monticello und mehreren Plantagen in Virginia stand (vgl. dazu bes. auch die Arbeiten zu Jefferson und Sally Hemings von Annette Gordon-Reed, etwa hier).

Jefferson entwickelte sogar konkrete Konzepte für eine Abschaffung der Sklaverei – die er darin freilich in eine fernere Zukunft verschob und zumeist mit dem Vorhaben einer Aussiedlung der befreiten Sklaven verband. 1784 brachte er im Kontinentalkongress einen Gesetzesentwurf ein, der ein Verbot der Sklaverei in allen westlichen Territorien vorsah und die erforderliche Mehrheit nur um eine Stimme verfehlte. Schon in seinen Notes on the State of Virgina, die 1781 und 1782 entstanden, schlug Jefferson vor, alle nach Beschluss des entsprechenden Gesetzes geborenen Sklaven zu emanzipieren. Freilich äußert er dort auch in berüchtigten Wendungen den „Verdacht“ einer körperlichen und geistigen Unterlegenheit ihrer „Rasse“, weshalb sie nach ihrer Befreiung „außer Reichweite einer Vermischung“ zu bringen seien.

3. Benjamin Banneker, ein Mathematiker und Astronom schwarzer Hautfarbe konfrontierte Jefferson 1791 unmittelbar mit dem klaren Widerspruch zwischen der Unabhängigkeitserklärung und Jeffersons eigenem Verhalten.

Banneker übersandte einen wissenschaftlichen Almanach, den er verfasst hatte, als Geschenk an Jefferson. In dem beigefügten Brief vom 19. August 1791 führte er unter anderem auch aus, dass Jefferson, indem er zahlreiche Sklaven in Gefangenschaft und grausamer Unterdrückung halte, selbst „der verbrecherischsten Tat“ schuldig sei, die er mit seiner Unabhängigkeitserklärung doch bei anderen vorgegeben habe zu verabscheuen. Er empfahl Jefferson, „sich dieser engherzigen Vorurteile zu entwöhnen“ (vgl. hier, S. 49 [50 f.]; s. auch hier). In seiner kurzen Antwort bedankte sich Jefferson für den Almanach, ging jedoch auf diese Vorwürfe nicht weiter ein.

4. Nur vier Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung kodifizierte Art. I des Grundrechtekataloges der Verfassung von Massachusetts von 1780 die Aussage, dass alle Menschen „frei und gleich geboren“ sind und „bestimmte natürliche, essentielle und unveräußerliche Rechte“ haben: “All men are born free and equal, and have certain natural, essential, and unalienable rights […].”

Der Supreme Judicial Court of Massachusetts zog daraus insbesondere in einem Strafurteil von 1783 konkrete rechtliche Konsequenzen, in dem er davon ausging, dass die Sklaverei mit dieser Verfassungsbestimmung unvereinbar sei (s. näher dazu hier).

5. Das Gleichheitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung nicht beim Wort zu nehmen, würde nach alledem nicht nur das Selbstverständnis ihrer Verfasser verfehlen. Es würde auch einem Kern der allgemeinen menschlichen Konstitution nicht gerecht werden, in der die Fähigkeit zur Selbsttäuschung und Verdrängung stets mit der Fähigkeit koexistiert, trotzdem für die eigenen Behauptungen einstehen zu wollen.

Wenn unsere Worte unseren Taten widersprechen, so muss das nicht heißen, dass wir unsere Worte nicht ernst gemeint oder gelogen haben, sondern es kann auch heißen, dass uns die Kraft fehlt, ihnen gemäß zu handeln:

When we observe a person who says one thing and does another, we might be looking at a liar, but we might also be looking at a person who hasn’t yet been able to turn her ideas into a script that is concrete enough to guide her actions.“

(vgl. Danielle Allen, Our Declaration, S. 240-245, Zitat: S. 245).

Die Worte von der Gleichheit aller Menschen waren schon 1776 so gemeint und wurden von vielen auch so verstanden, wie Lincoln sie dann 1857 in seiner Rede zum Dred Scott-Urteil deutete (vgl. dazu Teil III dieses Beitrags), nämlich schlicht so, dass alle Menschen gleiche, unveräußerliche Menschenrechte haben: „This they said, and this they meant.“

Fünf Jahre vor Lincolns Rede, am 5. Juli 1852, klagte Frederick Douglass in seiner Rede „What to the Slave Is the Fourth of July“ den eklatanten Widerspruch zwischen der an jedem Nationalfeiertag gefeierten Unabhängigkeitserklärung und der fortbestehenden Sklaverei an – nicht ohne sich für deren Verurteilung auf Jefferson selbst zu berufen:

What, to the American slave, is your 4th of July? I answer: a day that reveals to him, more than all other days in the year, the gross injustice and cruelty to which he is the constant victim. To him, your celebration is a sham; your boasted liberty, an unholy license; your national greatness, swelling vanity; your sounds of rejoicing are empty and heartless; your denunciations of tyrants, brass fronted impudence; your shouts of liberty and equality, hollow mockery […] — a thin veil to cover up crimes which would disgrace a nation of savages. […]

You declare, before the world, and are understood by the world to declare, that you ‘hold these truths to be self evident, that all men are created equal; and are endowed by their Creator with certain inalienable rights; and that, among these are, life, liberty, and the pursuit of happiness;’ and yet, you hold securely, in a bondage which, according to your own Thomas Jefferson, is worse than ages of that which your fathers rose in rebellion to oppose,’ a seventh part of the inhabitants of your country.“

Diskreditierung der Separate but equal-Doktrin durch den NS-Rassismus: Perez v. Sharp (1948)

6. Damit zurück in die Zeit des Parlamentarischen Rates.

Der Gedanke eines Mindeststandards gleicher Freiheit, den v. Mangoldt dort im Grundsatzausschuss entwickelte, stand nach alledem in einem vielschichtigen Kontext: Seine Vorgeschichte ist letztlich die des neuzeitlichen Gleichheitssatzes selbst, in ihrer Dynamik, aber auch mit ihren tiefen Brüchen und Diskontinuitäten.

Es ist die Geschichte des universellen Gleichheitsversprechens der Unabhängigkeitserklärung: Es wurde von Sklavenhaltern verkündet, vom Dred Scott-Urteil geleugnet, vom Plessy-Urteil zur bloßen Forderung nach einer „getrennten, aber gleichen“ Behandlung verstümmelt – und von v. Mangoldt dann 1938 in dieser verfehlten konkreteren Deutung aufgegriffen.

7. Es ist aber auch die Geschichte der weiteren Entwicklung dieses Versprechens, die nach dem zweiten Weltkrieg und dem rassenbiologisch motivierten antisemitischen Völkermord einsetzte.

Zu der – späten – Einsicht des Supreme Court in der Brown-Entscheidung von 1954, dass eine „Rassentrennung“ inhärent mit dem Gleichheitsgrundrecht unvereinbar ist, trugen nicht zuletzt auch die Erfahrungen mit dem mörderischen Rassismus des Nationalsozialismus bei. Sie setzten die Behauptung, eine Segregation der „Rassen“ könne durch naturgegebene Unterschiede gerechtfertigt und gleichheitswahrend durchgeführt werden, unter einen wachsenden Rechtfertigungsdruck.

Das zeigt sich besonders deutlich in einem Urteil des kalifornischen Supreme Court, das schon einige Jahre vor der Brown-Entscheidung erging, nämlich am 1. Oktober 1948.

Das Urteil in der Sache Perez v. Sharp betraf ein strafrechtliches Verbot der „rassischen Mischehe“ (“miscegenation”). Das oberste kalifornische Gericht erklärte – als erstes Gericht in den Vereinigten Staaten überhaupt – ein solches Verbot für unvereinbar mit der Equal Protection Clause des 14. Verfassungszusatzes der Bundesverfassung (vgl. hier, S. 715-727).

In seinem beipflichtenden Votum zitierte Justice Jesse W. Carter eine Passage aus Hitlers „Mein Kampf“, in der Hitler darlegt, dass es „nur ein heiligstes Menschenrecht“ gebe, „nämlich: dafür zu sorgen, daß das Blut rein erhalten“ bleibe.

Carter betonte, dass die „medico-eugenischen“ Argumente für die „Mischehe“-Verbote drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch vor dem Hintergrund der Äußerungen dieses „Verrückten“ und „Massen-Mörders“ betrachtet werden müssten. Das Festhalten an der Rassenidee war für Carter nicht nur mit der Gleichheitsidee der amerikanischen Tradition unvereinbar, sondern auch mit dem Urteil der Weltöffentlichkeit:

Der Rest der Welt hat niemals verstanden und wird nie verstehen, warum und wie eine Nation, die auf der Voraussetzung aufgebaut ist, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, […] immer noch daran scheitern kann, sie innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu verwirklichen.

1682 hat Lord Nottingham in einer Entscheidung gesagt: ‚Beten wir, dass unsere Entscheidungen dieser Fälle der Vernunft der Menschheit standhalten, wenn sie im Ausland debattiert werden. Soll hier vernünftig sein, was in allen anderen Teilen der Welt nicht vernünftig ist?‘ […]

Meiner Meinung nach verletzen die Gesetze, um die es hier geht, die zentrale Prämisse, auf der dieses Land und diese Verfassung errichtet sind, die zentralen Ideen, die in der Unabhängigkeitserklärung verkörpert sind, den zentralen Grund, für den der Revolutionskrieg, der Bürgerkrieg und der Zweite Weltkrieg geführt wurden und den Geist, in dem diese Verfassung interpretiert werden muss, damit die Interpretationen als ‚vernünftig in allen anderen Teilen der Welt‘ erscheinen können.“

(Supreme Court of California, Perez v. Sharp, Justice Carter, concurring, S. 739-740).

Die weltweite Diskreditierung des Rassismus durch die Menschheitsverbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft trug mithin zu dem Rechtsprechungswandel bei, der nach dem zweiten Weltkrieg allmählich einsetzte: Nach Hitler ließen sich die pseudo-wissenschaftlichen Rassentheorien immer weniger vermitteln.

Es dauerte gleichwohl noch bis 1967, bis schließlich auch der U. S. Supreme Court in seinem Urteil in der Sache Loving v. Virginia feststellte, dass strafrechtliche Verbote „rassischer Mischehen“ das Gleichheitsgrundrecht verletzten (388 U. S. 1, 7-12). Als das Urteil erging, war Virgina einer von immer noch sechzehn Einzelstaaten, in denen solche Strafgesetze weiterhin galten (vgl. 388 U. S. 1, 6).

8. Von dieser inklusiveren Deutung der konkreteren Folgen der Gleichheitsidee war Hermann v. Mangoldt allerdings, wie im ersten Teil dieses Beitrags gezeigt wurde, noch weit entfernt.

Auch wenn der kalifornische Supreme Court sich mit dem Urteil in der Sache Perez v. Sharp, also knapp zwei Monate zuvor, schon vom Separate-but-equal-Grundsatz verabschiedet hatte, schwebte v. Mangoldt vermutlich eine Deutung der Gleichheitsidee auf dem Stand der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court vor, der zu diesem Zeitpunkt weiterhin an der verfehlten Idee festhielt, „Rassen“ könnten „getrennt, aber gleich“ behandelt werden.

Mit seinen rassistischen Äußerungen über die Unterschiede zwischen den Menschen und die Motivation der Einwanderungsgesetzgebung der Vereinigten Staaten schien v. Mangoldt am 30. November 1948 eine Deutung des Gleichheitsgrundrechts in diesem Sinne jedenfalls zunächst durchaus nahezulegen.

Warum das Verbot der Benachteiligung „wegen der Rasse“ aus Art. 3 III 1 GG trotzdem nicht in diesem verfehlten Sinn zu deuten ist und welche Folgerungen sich aus der geschilderten historischen Entwicklung nun für die Frage ergeben sollen, ob der Rassenbegriff aus dem Grundgesetz gestrichen werden sollte – darauf wird morgen im fünften und abschließenden Teil dieses Beitrags einzugehen sein.


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