08 April 2021

Räume, Rollen, Reflexionen

Verfassungsrecht als öffentliches Recht

Immer wieder ist in den Beiträgen dieses Symposiums von Räumen und Rollen die Rede, von Recht und Politik, von Wissensproduktion und Wissenstransfer, von Forschung und Beratung, vom ruhigen Kommentieren und hektischen Twittern. Bei näherem Hinsehen bleibt oft vage, wovon da genau gesprochen wird, wo Grenzen verlaufen und wie Begriffe bestimmt werden. Auch entsteht der Eindruck, all die kommunikativen Herausforderungen, mit denen uns die Gegenwart in der Pandemie konfrontiert, seien ganz neue. Im von Blogs und Sozialen Medien dynamisierten öffentlichen Raum drohe plötzlich eine verstärkte Gefahr der Polarisierung, „der steilen und pointierten Thesen, in denen Nuancen verloren gehen“, es lauere eine „Vereinfachungsfalle“. Überraschend die Feststellung, der Anspruch, dass verfassungsrechtliche Wissenschaft allgemeinverständlich formuliert sei, sei bis dato ein Proprium angelsächsischer Wissenschaftskultur gewesen. Und die Interaktion mit weiteren Öffentlichkeiten sei Teil jener neuerdings von Wissenschaftspolitikerinnen und Förderorganisationen allfällig geforderten „Third Mission“, die professionelle Wissenschaftskommunikateure noch einmal in „Transfer“ und „Öffentlichkeitsarbeit“ ausdifferenzieren.

I.

Dabei ist dem Verfassungsrecht die Öffentlichkeit doch schon begrifflich eingeschrieben: Ius Publicum heißt es, und seine Akteure bezeichnet man nicht zufällig mit einem heute etwas aus der Mode gekommenen Wort: Publizisten. Als dieser Begriff geprägt wurde, verstand man darunter Kenner des öffentlichen Rechts, die die öffentlichen Dinge ganz selbstverständlich auch öffentlich verhandeln. Die Initiatoren der Encyklopaedie der Staatswissenschaften und des Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, die Erfinder der Juristischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts – sie alle begriffen sich wohl gleichermaßen als Experten wie als Intellektuelle, die mit beiden Beinen in der Öffentlichkeit stehen.

Dieser Anspruch des Anfangs ist, so möchte ich im Folgenden argumentieren, dem Verfassungsrecht geblieben, hat seine Kommunikationsstrukturen und Formate geprägt, auch wenn zuweilen unzugängliche Formulierungen die Oberhand gewannen – in einem beständigen Auf und Ab gesellschaftlicher und politischer Konjunkturen, die ihrerseits häufig von verfassungsrechtlichen Impulsen angeregt und (mit)gestaltet wurden.

Der Raum des Verfassungsrechts ist immer ein öffentlicher. Erforscht und gelehrt, debattiert und vermittelt, entschieden, kommentiert und kritisiert wird es in öffentlichen Räumen. In einer Öffentlichkeit, die weit sein kann oder eng, graduell ausdifferenziert je nach Gegenstand, Akteurinnen und Zielrichtung der Kommunikation. Der Raum des Verfassungsrechts ist immer ein politischer. Im Verfassungsrecht sind – Dieter Grimm hat das gerade in einer Vorlesung zur Kelsen-Schmitt-Kontroverse prägnant ausgeführt – Recht und Politik eng verflochten, allerdings mit unterschiedlichen Fluchtpunkten, je nach Perspektive: mal geht es um Recht, mal um Politik. Um die Verrechtlichung des Politischen im Verfassungsgericht, um die Politisierung des Rechts im Parlament. Ausklammern und als getrennten Raum abgrenzen lässt sich weder das eine noch das andere.

II.

Der öffentliche Charakter des Verfassungsrechts, das allgegenwärtige Strukturprinzip Öffentlichkeit prägt entscheidend auch die Rollen seiner Akteur*innen, die sich auf Grund und wegen dieser Öffentlichkeit weniger trennscharf definieren, also abgrenzen lassen als in anderen Feldern der Wissenschaft. Darum lässt sich eine so klare Differenzierung wie die unlängst von Caspar Hirschi skizzierte und eingeforderte nur eingeschränkt auf das Feld der Verfassungsrechtswissenschaft und insgesamt auf die rechtswissenschaftliche Professionsfakultät übertragen – und sollte als Anregung gelesen werden, nicht als Blaupause. Aber auch nicht als unverbindliches Gedankenspiel, denn die Verflechtung von Recht und Politik nimmt – Isabel Feichtner hat das in diesem Symposium eindrücklich entfaltet – verantwortliche Rechtswissenschaft in die Pflicht, eigene Rollen zu reflektieren und bewusst wahrzunehmen. Doch wenn es um die Verfassung geht, dann überlappt die Rolle der Expertin sich immer schon mit der der Aktivistin und der der Intellektuellen. Recht ohne Politik gibt es nicht. Entscheidend ist, wo und wie Schwerpunkte gesetzt, Grenzen gezogen und institutionelle Einhegungen kultiviert und respektiert werden. Die verantwortungsvolle Rollendifferenzierung des individuellen Akteurs kann nur eine graduelle, nicht eine kategoriale sein.

Die Öffentlichkeit, in der die Sache des Verfassungsrechts verhandelt wird, ist eine mehrdimensionale – und die (inzwischen gar nicht mehr so) Neuen Medien machen dies unmittelbar anschaulich. Sie ist Fachöffentlichkeit, mit festen Regeln, Rollenerwartungen und Teilnehmerkreisen, weitet sich aber mitunter zu größeren Öffentlichkeiten, die auch politische Akteure, Journalistinnen, nicht juristisch vorgebildete Bürgerinnen umfassen. Sie kann eine geschlossene Gesellschaft sein, ein vertraulicher Raum geschützter Deliberation, sie kann aber auch Marktplatz und Bühne sein, Agora und Theater. Sie konstituiert sich aus miteinander verzahnten, ineinander übergehenden, aber auch voneinander getrennten Räumen des Öffentlichen.

Auf dem Verfassungsblog kann man die damit verbundene Dynamik und Fluidität gelegentlich beobachten: Staatsrechtslehrer streiten mit Staatsrechtslehrerinnen, auf offener Bühne und unter Beteiligung eines breiten Publikums. Manchmal sind Vertreter anderer Rechtsgebiete oder anderer Disziplinen dabei, manchmal Praktikerinnen verschiedenster Sparten, manchmal politische Amtsträger. Nicht immer lässt sich genau sagen, in welcher Rolle die Akteure gerade stecken. Sind sie Wissenschaftlerinnen, die im Disput neues Wissen entwickeln und erarbeiten? Erbringen sie Transferleistungen, indem sie mitlesenden Staatssekretären, Verwaltungsrichterinnen und Anwälten ihre Expertise auf den Bildschirm liefern? Sind sie dabei zugleich Aktivisten, die durch schnelle Wortmeldungen Expertenwissen strategisch oder taktisch in laufende Debatten und Entscheidungsprozesse einspielen? Sind sie akademische Lehrerinnen, die Studierenden anhand der verfassungsrechtlichen Erörterung aktueller Ereignisse Grundlagen vermitteln? Sind sie Volksbildner, die durch Vermittlung verfassungsrechtlichen Basiswissens Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stärken? Wenden Sie sich an ein deutsches, ein europäisches oder globales Publikum? Oft greift mehreres zugleich, und die Akteure sind zeitgleich und überlappend, mit ineinandergreifenden oder auch nur nebeneinanderherlaufenden Intentionen Teil mehrerer Öffentlichkeiten.

Diese Mehrdimensionalität gilt für Blogs, sie lässt sich auch auf Twitter und anderen Sozialen Medien beobachten (die übrigens auch von Verfassungsrechtler*innen in ganz unterschiedlicher Weise bespielt und genutzt werden). Neu ist das alles nicht. Jedenfalls nicht so neu, wie manche Beiträge in diesem Symposium glauben machen wollen. Auch nicht neu ist das Postulat einer verständlichen, zugänglichen Sprache.

III.

„Es geht um eine Form der wissenschaftlichen Aussage, die grundsätzlich allgemein verständlich, aber im selben Grade interessant sein soll.“ So charakterisierte im Sommer 1968 der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld die Beiträge, die er sich für eine Zeitschrift wünschte, die das Recht und die Rechtswissenschaft neu in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit verorten sollte. „Progressiv, substantiell, originell“ sollte das publizistische Unternehmen sein, „die gesellschaftliche Gebundenheit des Rechts zeigen und vor allem einem neuen Bewusstsein einer kritischen Justiz dienen.“ Die Zeitschrift sollte „einer größeren Öffentlichkeit die politischen Auswirkungen des Rechts zeigen, und (…) Bezüge zwischen Recht und Gesellschaft aufdecken.“ Interdisziplinär sollte das Unternehmen sein, mit besonderem Augenmerk auf Gesetzgebungs- und Rechtsprechungskritik – und auf die Verfassung, die in einem intradisziplinär besetzten Herausgeberkreis nicht allein den Verfassungsrechtlern überlassen bleiben sollte.

Wie und warum Unselds linksliberales „Kursbuch für Juristen“ im Laufe des Jahres 1968 ein Kollateralopfer der immer schärferen (hochschul-)politischen Auseinandersetzungen wurde – das habe ich anderswo ausführlich erzählt. Seine Wurzeln hatte dieses Vorhaben im Konflikt um die Notstandsverfassung, in dem viele der gesellschafts- und rechtspolitischen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre kulminierten. Die sorgten nebenbei für ein Aufblühen des juristischen Zeitschriftenwesens, vom konservativen Staat über Recht und Politik, die Kölner Rechtstheorie und Martin Krieles Zeitschrift für Rechtspolitik (die als der NJW beiliegendes „Staatsbürgerforum“ eine „Brücke zwischen Bonn und Bürger“ schlagen sollte) bis hin zur Kritischen Justiz. Mit den meisten dieser Titel hatte Unselds schon vor der Nullnummer gescheiterte „Zeitschrift für Recht und Gesellschaft“ eines gemeinsam: die Orientierung an der 1925 bis 1933 im Berliner Rothschild-Verlag erschienenen Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes, Die Justiz, die sich im Untertitel „Monatsschrift für die Erneuerung des Deutschen Rechtswesens“ genannt hatte. Für die Rechtspublizistik der ausgehenden 1960er Jahre, die sich um (kritische) Öffentlichkeit bemühte, war diese publizistisch herausragende rechtspolitische und rechtskulturelle Zeitschrift der Weimarer Republik, die bei allem Mühen um Allgemeinverständlichkeit hinsichtlich sprachlicher und inhaltlicher Qualität keine Kompromisse machte, Faszinosum und Vorbild.

Weimar hatte 68 wieder Konjunktur – jedenfalls für einen kurzen Moment, bevor politische Polarisierung und eine Zuspitzung öffentlicher Debatten erneut einen Rückzug ins Fachwissenschaftliche herbeiführten, dessen Verfestigungen wohl erst digitale Medien und Formate aufgebrochen haben. Das in der Weimarer Republik beliebte Genre der Broschürenliteratur, nicht nur für Carl Schmitt bevorzugtes Kommunikationsmedium, kam ebenso zu neuen Ehren wie das Engagement für eine weitgespannte Öffentlichkeitsarbeit, die mit Vorträgen in Funkkollegs und Akademien an Hans Kelsens Einsatz für die Wiener Volkshochschulbewegung und Schmitts Vortragsabende vor Hochfinanz und Großbürgertum erinnern mochte.

Die Digitalisierung hat den Zugang zu Publikationsorten erleichtert, gerade auch für jüngere Wissenschaftlerinnen. Verfassungsrechtler, die den Weg in Medien mit hoher Reichweite, in Tages- und Wochenzeitungen fanden und mediale Präsenz strategisch nutzten, um Themen zu setzen, Expertise in laufende Debatten einzuspeisen und so politische Auseinandersetzungen zu prägen – die gab es aber immer. Ließ sich bei ihnen stets eine klare Grenze ziehen zwischen wissenschaftlicher Expertise und politischem Aktivismus, zwischen wissenschaftlichem Politikberater und öffentlichem Intellektuellen? Zumal in Zeiten, wenn Verfassungsrechtler, die Einfluss auf dynamische verfassungspolitische Entwicklungen nehmen wollten, gezielt in Zeitungen publizierten, weil der Publikationsvorlauf der Fachzeitschriften viel zu langwierig gewesen wäre (wie es Dieter Grimm und Hasso Hofmann für die Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung beschrieben haben)?

Seit dem letzten großen vordigitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit hat sich in Deutschland eine Tradition der Präsenz verfassungsrechtlicher Fachdebatten in Tages- und Wochenzeitungen herausgebildet, die im angloamerikanischen Raum keine Entsprechung hat – und die (was man mitunter Kollegen, die einen Publikationsplatz in deutschsprachigen Zeitungen anpeilen, mühsam vermitteln muss) ganz anders funktioniert als die thetische, pointierte Form des op-ed. Um zu verstehen und zu gestalten, was sich mit dem Aufkommen neuer medialer Möglichkeiten und Plattformen, mit der Transformation unserer Kommunikationsarchitekturen geändert hat und noch ändert, ist ein Verständnis dieser Diskurstraditionen nicht nur wünschenswert, sondern wichtig. Lesen kann man darüber bislang wenig, eine Medien- und Intellektuellengeschichte des Verfassungsrechts ist noch zu schreiben. In die 2020 posthum erschienene monumentale Studie „Medienintellektuelle in der Bundesrepublik“ des Hamburger Historikers Axel Schildt beispielsweise hat das Verfassungsrecht nur mit einer Handvoll allenfalls bedingt repräsentativer Protagonisten Eingang gefunden, selbst in der Darstellung der publizistisch turbulenten 1960er Jahre, mit der das fragmentarisch gebliebene Werk abschließt. (Böckenförde kommt nicht vor.)

IV.

Aus dem Blick zurück in die Verfassungsgeschichte lässt sich lernen, dass sich die verschiedenen Rollen der Akteure in der verfassungsrechtlichen Wissenschaftskommunikation (die alle Aspekte der Kommunikation wissenschaftlicher Arbeit und wissenschaftlicher Ergebnisse einschließt, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch bei der Kommunikation zwischen Wissenschaft und weiteren Öffentlichkeiten) nicht so leicht ausdifferenzieren lassen, ebenso wenig wie Funktionsweisen und Praxen. Darum sind Haltung und reflexive Selbstbeobachtung gefragt. Auf grobe Vereinfachungen wie die Scheidung zwischen ungehörigem Twitterfaden hier und standesgemäßem Feuilletonbeitrag dort lässt sich getrost verzichten.

Auch ein Medium wie Twitter kann schließlich in verschiedensten Tonlagen bespielt werden: als Schaufenster und Selbstbestätigungsmaschine, streitlustig und distanziert, edukativ und aggressiv. Und das Gezwitscher wird nicht die letzte mediale Herausforderung sein, die der Verfassungsrechtswissenschaft als Möglichkeit und Risiko begegnet. Die immer schnellere Proliferation digitaler Publikationsorte, ohne editorische Türhüter im hergebrachten Sinne, fordert (selbst)kritische Analyse und individuelle Schwerpunktsetzungen, um im Sog des “Publish or Perish” zu bestehen und dem immer schnelleren Laufrad des Publizierens eine entschiedene und überlegte Entschleunigung entgegenzusetzen. Damit nicht nur immer mehr kommunikativ produziert, sondern produktiver kommuniziert wird.

Und reflektierter, auch im Blick auf Formate und Codierungen. Wo geht es um Beratung, wo um verfassungspolitische Intervention? Um wissenschaftliche Kommentierung? Um performativen Konstitutionalismus? Rimini-Protokoll oder Herrenchiemsee? Verdikt oder Verstehen? Historisierung hilft. Gründlich hat die (Verfassungs-)Rechtswissenschaft in den vergangenen Jahren über ihr „Proprium“ und ihre „Formate“ nachgedacht, über den eigenen Mikrokosmos, neuerdings auch über ihren Kanon. Was bislang fehlt, das zeigen jüngste Debatten um Ort und Funktion verfassungsrechtlicher Expertise: ethnographisch und rechtssoziologisch informierte Fremd- und Selbstbeobachtung, die sich nüchtern und beherzt in die Spur der Akteure, ihrer Medien und Diskurse begibt.

 

 


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