15 February 2013

Recht elitär: Benjamin Lahusen porträtiert Savigny

Warum studiert man in Deutschland nicht das Recht, sondern die Rechtswissenschaft? Womöglich gar im Plural? Das hat natürlich mit Friedrich Carl von Savigny zu tun. Und darum ist es nur folgerichtig, dass Benjamin Lahusen den so nachhaltig wirkenden Rechtsgelehrten in seinem elegant geschriebenen Savigny-Porträt als Chiffre für die ganze moderne Rechtswissenschaft verwendet.

„Savignys Name erinnert daran, dass das Recht und seine Gesellschaft in einem beständigen Spannungsverhältnis stehen, dass Lebenswelt und Lebensregeln immer wieder aufs Neue miteinander auszusöhnen sind“, resümiert der an der Universität Rostock tätige Rechtshistoriker Lahusen, nachdem er seine Leser in fünf kunstvoll verflochtenen und schön zu lesenden Kapiteln an Leben, Werk und Wirkung des Begründers der „historischen Schule“ erinnert hat.

Savigny, der dem deutschen Volksgeist das römische Recht ablauschte und dabei die Vergangenheit ganz in den Dienst der Gegenwart stellte, tritt uns hier als beeindruckende Geistesgröße mit menschlichem Makel entgegen. Als Rechtslehrer entfaltet er eine Anziehungskraft, die ihn weit über Juristenkreise hinaus zum vielbewunderten Wissenschaftler und Starintellektuellen macht; im persönlichen Umgang aber erweist er sich als unnahbare „Studiermaschine“, zur leidenschaftlichen Liebe ebenso unfähig wie zur freundschaftlichen Loyalität.

Die Brüder Grimm lauschen seinen Vorlesungen, Karoline von Günderrode bricht er das Herz, Bettine von Arnim und Clemens Brentano sind enge Freunde, Wilhelm von Humboldt holt ihn an seine Reformuniversität nach Berlin – mehr Romantik und Reformgeist konnte man in Deutschland kaum um sich haben. Und doch blieb Savigny ein entschiedener Verfechter der Restauration, „ein Aristokrat an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, der die Forderungen der Neuzeit mit den scheinbar neutralen Mitteln der Wissenschaft bekämpft“.

Mit dieser Wissenschaft erhält das Recht, wie Savigny selbst formuliert, ein „selbständiges Daseyn“ unter den Disziplinen. Das Recht rekonstruiert er als geschlossenes System, das sich selbst zur Rechtsquelle wird und damit den Gesetzgeber als politischen Akteur verdrängt. Schon in einer seiner ersten Marburger Vorlesungen beschreibt Savigny 1802 die Verbindung von Philosophie und Geschichte zu einer vollendeten juristischen Methode, die dem Rechtsstoff seine Kontingenz auszutreiben vermag. Der Student Jacob Grimm hat das damals protokolliert. Die Jurisprudenz, so Professor Savigny, „ist eine historische Wissenschaft. Sie ist auch eine philosophische. Diese beiden sind nun so zu vereinen; sie muß vollständig historisch und philosophisch zugleich sein“.

Die dogmatische Bearbeitung des positiven Rechts, die philosophische Erörterung seiner Legitimation und die historische Analyse seiner Entwicklung treten in Gemeinschaft auf und begründen mit dem Duktus objektiver Wissenschaftlichkeit das internationale Ansehen deutscher Rechtsgelehrsamkeit. Ihre Essenz landet bald zwischen den Buchdeckeln des Bürgerlichen Gesetzbuches, das zum 1. Januar 1900 in Kraft tritt und Geschichte und Philosophie für den Alltag der Juristen entbehrlich macht. Es blieb die Dogmatik, für die Lahusen das Attribut der Wissenschaftlichkeit offenkundig unangemessen findet – und der Glaube an ein geschlossenes System, den der Autor bis hin zu gegenwärtigen Projekten der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung kritisch verfolgt.

Bei Savigny wurde das Recht elitär: „Die Entfaltung der historischen Rechtsvernunft wird zur Sache einer Juristenaristokratie, die sämtliche politischen Gestaltungsversuche unter Hinweis auf die höhere Sachkunde der eigenen Erkenntnis abwehrt“, schreibt Lahusen. „Savigny ermöglicht der Rechtswissenschaft fast ein ganzes Jahrhundert autonomer Rechtsproduktion“. Recht wird zur Sache der Eliten, das Abstraktionsprinzip zum nationalen Kulturgut. Ein Paradox: „Ausgerechnet die Lehre vom Volksgeist hat eine Tradition maßgeblich initiiert, in der Gesetze nicht vom Volke kommen und sich nicht ans Volk richten.“

Diese undemokratische Tradition sieht Lahusen weiterhin fortgesetzt: „In der wissenschaftlichen Rechtskultur Deutschlands kommunizieren Rechtstechniker mit anderen Rechtstechnikern; das Publikum des Rechts sind die Juristen. Das ist die unweigerliche Nebenfolge einer Jurisprudenz, die die ausschließliche Zuständigkeit für die Verwaltung von Rechtswissen einer sorgfältig ausgewählten geistigen Elite zuschlägt.“

Die autonome Pflicht- und Freiheitsethik Savignys und seiner Erben wirft im vermeintlich unpolitischen Privatrecht politisch höchst brisante Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit auf. Wo private Unternehmen agieren, deren Umsatz das Bruttosozialprodukt vieler Staaten übersteigt, ist „Freiheit nicht Zustand, sondern Auftrag“.  Die Materialisierung der ehemals streng formalen Rechtsinstitute des Privatrechts im Zeichen von Verbraucherschutz und Nichtdiskriminierung begegnet einer vehementen Kritik, die sich noch immer auf Savignys Fiktion eines „reinen Rechts“ bezieht.

„Die Bedeutung Savignys und seiner historischen Rechtsschule für unsere Rechtswelt heute können wir nicht hoch genug einschätzen“, schrieb Rudolf Wiethölter 1968 in der Publikation seiner vom Hessischen Rundfunk gesendeten Funk-Kollegs „Rechtswissenschaft“. Längst sind Wiethölters schneidend scharfe Beobachtungen Klassiker geworden, und seine Forderung nach nüchterner wissenschaftlicher Reflexion und Kritik des Rechts findet sich selbst in den unlängst veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für die Rechtswissenschaft in Deutschland.

Um Wiethölters vielbeschworene „Entzauberung der Rechtswelt“ geht es auch bei Lahusen, wenn der Rechtshistoriker mit soziologischer Leidenschaft „die Rechtsvernunft wieder mit der Gesellschaftsvernunft in Einklang  bringen will“. Um die Juristen zu resozialisieren, seien ihnen die sozialen Folgen ihres Tuns immer wieder vor Augen zu führen. „Der Erwerb von Gesellschaftsfähigkeit bedeutet im Recht eine beständige Rückverunsicherung, welche die Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit des Systems langfristig aufbrechen kann.“

Diese Rückverunsicherung hat indes ihren Preis, der von den angehenden Juristen selbst zu zahlen ist – und von deren Lehrern: „Erreichen ließe sie sich nur über einen konkreten Bildungsauftrag, der das juristische Curriculum freilich erheblich erweitern würde. Man bräuchte, kurz gesagt, wieder philosophische Rechtsgelehrte.“ Also noch mehr Stoff. Noch mehr Wissen. Noch mehr Pflichtprogramm. Oder aber, und das scheint mir vorzugswürdig: Konzentration auf Grundlagen und Strukturen, exemplarisches Studium, reflexive Disziplinarität mit wachem Blick auf die „Nachbarwissenschaften“. Denn das geschlossene, auf wohlgeordnete Vollständigkeit angelegte System des Rechts war schon zu Savignys Zeiten nur eine Fiktion.

Benjamin Lahusen, „Alles Recht geht vom Volksgeist aus“. Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2013, 181 S., geb., 22,95 €.

Diese Rezension erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Februar 2013 (Nr. 34), S. 32.


9 Comments

  1. I. Wengel Fri 15 Feb 2013 at 22:26 - Reply

    »Das Recht rekonstruiert er als geschlossenes System, das sich selbst zur Rechtsquelle wird und damit den Gesetzgeber als politischen Akteur verdrängt.«

    Ja, der Große Savigny wird noch heute verehrt, war es doch gerade solche »herrschende Meinung«, welche es nationalsozialistischen »Rechtswahrern« wie Hermann von Mangoldt, Willi Geiger oder dem ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hermann Höpker-Aschoff sowohl im Dritten Reich »erlaubte«, mit ihrer Rede und Lehre das Morden als Beitrag zur »Volksgesundheit« zu legitimieren, als auch in der späteren BRD nicht nur diese Art von Juristprudenz wiederholt als »Rechtssicherheit« zu postulieren und damit nachträglich die Opfer zu verhöhnen (vgl. insb. die diversen BVerfGE zum Ermächtigungsgesetz), sondern auch dass Grundgesetz derart »auszulegen«, dass noch heute kein Gericht auf die Idee kommt, es hätte eine praktische Relevanz – von den Grundrechten ganz zu schweigen. Noch heute ist die Jurisprudenz ein hermetisches System, welches sich selbst als Rechtsquelle genügt, und die Politik lässt sich als Gesetzgeber gern verdrängen; nutzt sie diese Tatsache doch weidlich aus, um Hand an das Grundgesetz legen zu lassen zum Eigenvorteil. Autonome Rechtsproduktion eben. Freiheit ist hier weder Zustand noch Auftrag.

    Savigny wäre mehr als begeistert, würde er heute seine Früchte erleben: Eine Verfassung, gegen deren Verletzung keinerlei Straftatbestände existieren; unmittelbar gelten müssende Grundrechte, welche »dank Rechtsweggarantie« nach Verletzung jederzeit kostenpflichtig ohne Hoffnung auf Heilung eingeklagt werden können; ein Bundesverfassungsgericht, dessen Aufgabe die Erhaltung verfassungswidriger Zustände ist (Schade, die Frist ist abgelaufen, tut uns leid); oder Amtsträger, welche wissen, dass der Straftatbestand des Amtsmissbrauchs von den Nazis eliminiert wurde, und welche gem. § 353 StGB straflos die Bevölkerung ausplündern dürfen und straflos bleiben, wenn sie dies zum Nutzen der Behörde tun; usw. usf.

    Schade übrigens, dass dieser Beitrag keine eigene Kritik des Verfassers enthält.

  2. At Sat 16 Feb 2013 at 22:10 - Reply

    @Wengel: 100. erfolglose Verfassungsbeschwerde schon abgeschickt?

  3. I. Wengel Sun 17 Feb 2013 at 13:42 - Reply

    Sehr geehrter At, ich habe natürlich vergessen zu erwähnen, dass diese Zustände nicht zuletzt aus dem Grunde aufrecht erhalten werden, weil damals wie heute jede Menge anonyme Realisten, hinter der Litfaßsäule das Geschehen kommentierend, sich hämisch an den Folgen für andere ergötzen. Für den Fall, dass sich die Realität doch entgegen aller Wahrscheinlichkeiten ändert, kann man immer noch mit dem lauten Ruf: »Ich war auch schon immer gegen diese Zustände«, den »beständigen inneren Widerstand« proklamieren und bei den Feierlichkeiten die vordersten Ränge begehren. Bleiben die Zustände jedoch so, ist zumindest geltend machen, nie zu den »Querulanten« gehört zu haben. Der selbe alte Wein in neuen Schläuchen. Danke für den Hinweis.

  4. antin Mon 18 Feb 2013 at 10:23 - Reply

    Merkregel: Wissenschaften, die ‘-wissenschaft’ im Namen haben, sind keine Wissenschaften.

  5. Christian Boulanger Mon 18 Feb 2013 at 18:22 - Reply

    Schade, dass die bisherigen Kommentatoren das Niveau dieser schönen Rezension nicht halten konnten. Wenn man nichts zum Thema zu sagen hat, sollte man sich vielleicht den Kommentar sparen.

    Zum Thema: Ich fand Lahusens “Rechtspositivismus und juristische Methode” auch sehr anregend – ein rechtssoziologisch und rechtshistorisch aufgeklärter Rechtspositivismus, und anders als viele kann er auch lesbar formulieren. Die Wirkung solcher Beiträge auf die Rechtswissenschaft, wie andere aus dem Umkreis von Dieter Simon, scheint aber bisher begrenzt, was aber auch damit zu tun haben könnte, dass die Sticheleien und Polemiken der letzten Jahre aus diesem Kreis (Sichwort “Myops”) ihnen sicher nicht nur Freunde verschafft haben.

  6. I. Wengel Wed 20 Feb 2013 at 14:10 - Reply

    @Christian Boulanger
    Inwieweit die Vertretung der unsäglichen Thesen Savignys in der heutigen »Verfassungs- und Rechtwirklichkeit« nicht mit dem Thema zu tun haben sollen, erschließt sich mir nicht. Sollte diese Tatsache für Sie persönlich unerheblich sein, worauf zu schließen ist, ist das zwar erhellend, für Ihre Behauptung wissenschaftlich jedoch völlig unzureichend.

  7. Alexandra Kemmerer Wed 20 Feb 2013 at 15:10 - Reply

    Umso wichtiger also, dass diese Thesen von klugen Autoren wie Lahusen kritisch unter die Lupe genommen werden!

    Das findet auch Michael Stolleis, der den Band in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Februar 2013 rezensiert hat. Besonders lehrreich fand ich bei der Lektüre, wie Lahusens Porträt vom Rezensenten kontextualisiert und in der immensen Flut der Savigny-Literatur verortet wird (die zweite Savigny-Biographie dieses Jahres, aus der Feder des Frankfurter Emeritus Joachim Rückert, ist für April angekündigt …)

    Die SZ-Besprechung von Michael Stolleis kann man hier nachlesen:
    http://www.buecher.de/shop/fachbuecher/alles-recht-geht-vom-volksgeist-aus/lahusen-benjamin/products_products/detail/prod_id/34636192/

  8. I. Wengel Wed 20 Feb 2013 at 15:26 - Reply

    @Alexandra Kemmerer

    Korrekt, ich habe nur z.B. diesen Hinweis im Text vermisst; daher mein oa. Kommentar.

  9. Dr. Ludwig Gieseke Wed 29 May 2013 at 18:16 - Reply

    /Users/dwiebusch/Desktop/savignySavigny und der Büchernachdruck

    Benjamin Lahusen hat ein gut lesbares Porträt der Ausnahmeerscheinung Savigny vorgelegt, das sicher nicht zuletzt für jüngere Juristen eine Einführung in Entwicklung und Grundsatzfragen der Rechtswissenschaft bieten kann, und das gerade auch zu dem Spannungsverhältnis von Recht und Gesellschaft einiges sagt. Allerdings enthält der Abschnitt über Savignys Tätigkeit und seine weitgehend ergebnislosen Bemühungen auf dem Feld der Gesetzgebung eine bedauerliche Lücke. Nicht erwähnt wird das preußische “Gesetz zum Schutze des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung” von 1837. Savigny hat 1837 im preußischen Staatsrat an den Beratungen über den Entwurf dieses Gesetzes intensiv mitgewirkt. Dort konnte er erheblichen Einfluß ausüben und in wesentlichen Punkten eine Umgestaltung des Entwurfs veranlassen, nicht zuletzt in der – auf seinen Vorschlag eingesetzten – “Fassungskommission”. So kann man in dem Gesetz (dem ersten modernen Urheberrechtsgesetz in Deutschland) auch die Handschrift Savignys erkennen. Das hat im einzelnen Elmar Wadle 1989 auf Grund der in der Universitätsbibliothek Marburg verwahrten vorbereitenden Notizen Savignys zu den Beratungen im Staatsrat dargestellt (jetzt in: Elmar Wadle, Geistiges Eigentum – Bausteine zur Rechtsgeschichte I, 1996).

    Savigny war ein Gegner der damals in Deutschland häufig vertretenen, naturrechtlich begründeten Theorie vom “geistigen Eigentum”, die sich mit seinem historisch-positivistischen Rechtsverständnis nicht vereinbaren ließ. Er bezeichnete den in Deutschland noch vielfach üblichen Büchernachdruck ohne Zustimmung von Autor oder Erstverleger als “contra bonos mores” und zugleich gegen die “publica utilitas”. Den Schutz dagegen nannte er eine Aufgabe der vorsorgenden positiven Gesetzgebung. Für die damit verbundene “gewerbliche Einschränkung im Interesse des Geistes” sah er ein natürliches Bedürfnis. Den vorgesehenen gesetzlich geregelten Nachdruckschutz verstand er als nur vollkommenere Entwicklung der bisherigen Einzelprivilegien gegen Nachdruck. Entsprechend verstand er die daraus resultierende Rechtsposition von Autor (und Verleger) lediglich als Konsequenz des positiv-gesetzlichen Nachdruckschutzes.

    Spätestens seit 1815 waren sich in Deutschland jedenfalls die Rechtsgelehrten weitgehend einig über die Notwendigkeit von Regelungen zur Sicherstellung der Rechte von Schriftstellern und Verlegern innerhalb bestimmter Schutzfristen, wie sie in England und Frankreich längst galten. Im Bundestag in Frankfurt konnte man sich darüber lange nicht verständigen. Das “gemeinsame Bewusstsein des Volkes”, nach Savigny die Triebkraft der Rechtsentwicklung, sah aber längst die Notwendigkeit eines allgemein geregelten Nachdruckschutzes. Hier hätte Lahusen erörtern können, ob und wie nach Savignys Vorstellungen von der fortschreitenden Entwicklung “von innen heraus” ein Nachdruckschutz auch ohne positiv-rechtliche Regelung wie mit dem Gesetz von 1837 denkbar gewesen wäre.
    Ludwig Gieseke, Bonn

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