Recht und Respekt
Respekt, Wertschätzung und Anerkennung – niemand wird sich diesen Zielsetzungen entgegenstellen wollen, die Olaf Scholz als Richtmaß für seine Politik benennt (FAZ vom 1.3.2021, S. 6). Gegenseitiger Respekt ist Grundvoraussetzung für das friedliche und gedeihliche Zusammenleben im Gemeinwesen. Ohne Wertschätzung, ohne Anerkennung erodiert der Wille zu arbeitsteiliger Kooperation, schwindet die Bereitschaft, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren und Einheit in Vielfalt zu leben. In einer Gesellschaft, in der individuelle Identitäten und Lebensgefühle eine starke Rolle spielen, in der sich mitunter jeder selbst der nächste zu sein scheint, besteht die Gefahr, dass der Blick für den anderen, für dessen Lebensumstände, Handlungsmotive und gerade auch Nöte verlorengeht. So hat Scholz recht, wenn er gegenseitigen Respekt fordert und wenn er betont, dass dieser Respekt ganz unabhängig davon geboten ist, wem welche Verdienste in einem meritokratischen Sinne zukommen.
Die staatliche Politik ist gehalten, die ungeschriebenen Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu fördern, gerade auch das Umfeld für ein respekt- und vertrauensvolles Miteinander der Menschen zu gestalten. Doch stellt sich die Frage, ob staatliche Politik gut beraten ist, wenn sie sich ein Handeln „in Respekt“ vor den Menschen als eigenes Politikziel auf die Fahnen schreibt. Denn der Begriff des Respekts ist schillernd. Auch wenn sich Scholz ausdrücklich gegen ein meritokratisches Konzept verwahrt, hat er doch vor Augen, dass ehrliche Arbeit ordentlich entlohnt werden muss, dass der Paketbote und die Reinigungskraft die gleiche Anerkennung verdienen wie der Akademiker. Politik muss konkret sein, um wirksam zu werden. In einem politischen Programm, das auf dem Gedanken des Respekts beruht, ist deshalb die Frage unausweichlich, wer Respekt wofür verdient und welche Folgen dieser Respekt haben soll. Zwar ist die Verknüpfung von Voraussetzungen und Folgen, also die Änderung der Verhältnisse, das Tagesgeschäft jeder gestaltenden Politik. Doch gibt – und das ist der entscheidende Punkt – die argumentative Bezugnahme auf den Begriff des Respekts, die Beanspruchung und Vereinnahmung des Begriffs, dem politischen Aushandlungsprozess eine spezifische Wendung. Denn der Begriff führt auf das Feld der moralischen Bewertung und damit zur Immunisierung der eigenen Position. Wenn ein bestimmter Mindestlohn „in Respekt“ vor der geleisteten Arbeit geschuldet sein soll, wie lässt sich dann noch eine Gegenposition vertreten?
Hier deutet sich die besondere Problematik der Verwendung des Respektbegriffs durch den Staat an, deren eigentliche Dimension erst aus verfassungstheoretischer und -rechtlicher Perspektive in Gänze vor Augen tritt. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Grundrechtskataloge seit Beginn der Verfassungsstaatlichkeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts Freiheit und Gleichheit, mitunter auch Würde garantieren, nicht aber Respekt durch den Staat. Wenn das Volk die staatliche Hoheitsgewalt demokratisch einsetzt, um in kollektiver Verbundenheit über sich selbst zu bestimmen und in Freiheit und Gleichheit zu leben, dann ist der Staat das Instrument des Volkes zu ebendiesem Zweck. Der Staat ist dem Volk und den einzelnen Menschen in ihrer Würde, Freiheit und Gleichheit nicht ebenbürtig, sondern ihnen zu dienen bestimmt. Die Freiheits- und Gleichheitsgewährleistungen sichern diese Dienlichkeit ab und bewahren vor einem Machtexzess des Staates. In diesem Verhältnis, das ein Auftragsverhältnis ist, kommt es dem Staat schlicht nicht zu, den Menschen zu respektieren oder auch nicht zu respektieren. Er ist nicht in der Position, darüber zu befinden. Ihm fehlt dafür die Voraussetzung des eigenen Personseins, der eigenen personalen Würde. Denn Respekt ist eine Kategorie des Zwischenmenschlichen.
Den Anspruch einer solchen Würde des Staates, die zu einer gegenseitigen Respektbeziehung im Verhältnis zu den Menschen qualifizieren könnte, erhebt Scholz selbstverständlich nicht. Dann sollte er den Begriff des Respekts aber auch mit Vorsicht verwenden und jedenfalls nicht, um eine Haltung des Staates den Menschen gegenüber zu beschreiben. Bei genauerer Betrachtung lässt sich das, was er meint und will, durchweg in der Sprache des Grundgesetzes formulieren. Jeder und jede verdient die gleiche Anerkennung in Ansehung seiner und ihrer gleichen Würde. Stets sind Freiheit und Gleichheit zu einem Ausgleich zu bringen, sind die Ergebnisse der Freiheitsausübung nach dem Maßstab der Sozialstaatlichkeit zu prüfen. Freiheit, Gleichheit und Sozialstaatlichkeit sind die verfassungsrechtlichen Koordinaten, in denen sich die staatliche Politik zu bewegen hat. Es sind Koordinaten, die den Respekt vor dem Menschen in seiner Würde und Berechtigung voraussetzen. Die politische Aushandlung muss auf dem Fundament dieses Respekts aufsetzen, kann und darf das Fundament aber nicht als solches thematisieren. So stellen sich politische Verweise auf einen erforderlichen oder auch fehlenden „Respekt“ letztlich als Instrumentalisierungen ohne eigenen Gehalt dar. Der – um ein Beispiel zu benennen – im Zusammenhang mit der Einführung der Grundrechte bewusst eingesetzte Begriff der „Respektrente“ lenkt vielmehr von den erheblichen verfassungs-, insbesondere gleichheitsrechtlichen Problemen ab, die die Grundrente in Wirklichkeit aufwirft. Auf den Punkt gebracht: Ist die Einführung dieser Rente „respektvoll“ gegenüber der Rentnerin, die 34, nicht aber 35 Beitragsjahre einbringt, oder auch gegenüber dem Rentner, der jahrelang weit mehr eingezahlt hat als der Grundrentner, nun aber die gleiche Rente erhält wie dieser? Derartige Fragen lassen sich nicht in der zugrundeliegenden Kategorie des Respekts beantworten, sondern verlangen eine differenzierende und abwägende Prüfung auf Ebene der Freiheit, Gleichheit und Sozialstaatlichkeit.
Gegenseitiger Respekt ist wesentlicher Bestandteil des sozialen Kitts, der die Gesellschaft zusammenhält. Scholz kommt das Verdienst zu, dies und die insoweit begleitende und unterstützende Rolle des Staates zu betonen. Demgegenüber ist der demokratisch eingesetzte Staat aber nicht in der Position, den Bürgern von seiner Warte aus Respekt zu erweisen, nicht zu erweisen oder ein bestimmtes Handeln oder Nichthandeln als durch Respekt geboten zu bezeichnen. Der Staat hat den Menschen zu dienen, er hat ihre verfassungsrechtliche Freiheit und Gleichheit auszugestalten und zu schützen, aber er hat die Menschen nicht zu beurteilen.
Schöner Kommentar! An der angeführten “Respekt”-Problematik zeigt sich wieder einmal, wie die Politik positiv konnotierte Schlagworte benutzt, um die eigene Position vermeintlich zu rechtfertigen. Selbiges wurde auch bereits im Rahmen von Gesetzen versucht. Man denke an das “Gute-Kita-Gesetz” oder das “Geordnete-Rückkehr-Gesetz”. Jeglichem Gegenargument wird entgegenhalten, dass man doch nicht ernsthaft was gegen gute Kitas, eine geordnete Rückkehr oder eben Respekt haben könne. Wer ernsthafte Diskussionen möchte, sollte sich von dieser Art der “Argumentation” so fern wie möglich halten.
Lieber Hanno Kube,
in der Grundrechtsdogmatik hat es in den vergangenen Jahrzehnten viele Ansätze gegeben, der Menschenwürdegarantie eine staatsstrukturelle Bedeutung zuzumessen: Gegenseitige Achtung als Grundlage einer solidarischen Gemeinschaft sollte nicht nur die Menschen, sondern insbesondere den Staat verpflichten. Im beharrlichen Festhalten an der Objektformel in subjektivierenden Erweiterungen hat das BVerfG solche Interpretationsversuche in die Sphäre des Politischen verwiesen. Wenn dieser alte Wein nun in neuen Schläuchen begegnet – im Begriff des Respekts – sollte er nicht in den verfassungsrechtlichen Diskurs zurückfließen. Olaf Scholz hat sich auch nicht im verfassungsrechtlichen Seminar geäußert, sondern als ein Kanzlerkandidat im Wahlkampfmodus. Doch ist es in Zeiten zunehmender Begriffsverwirrung – ich verweise nur auf “Sonderrechte für Geimpfte” statt Aufhebung von Freiheitsbeschränkungen – fraglos wichtig, die Sphären von Recht und Politik auch in der Terminologie abzugrenzen. Herzliche Grüße
Anna Leisner-Egensperger