09 September 2015

Rechtsgebrauch oder Rechtsfortbildung? Die jüngsten Anti-Terror-Einsätze des Vereinigten Königreichs und das Völkerrecht

Am 7. September 2015 hat sich der britische Premierminister David Cameron u.a. zum jüngsten Vorgehen des Vereinigten Königreichs im Rahmen der Terrorismusbekämpfung öffentlich geäußert. Dabei sprach er insbesondere die gezielte Tötung zweier britischer Staatsbürger in Syrien an:

[I]n recent weeks it has been reported that 2 ISIL fighters of British nationality who had been plotting attacks against the UK and other countries have been killed in airstrikes. Both Junaid Hussain and Reyaad Khan, were British nationals based in Syria who were involved in actively recruiting ISIL sympathisers and seeking to orchestrate specific and barbaric attacks against the West, including directing a number of planned terrorist attacks right here in Britain, such as plots to attack high profile public commemorations, including those taking place this summer.

Bei weitem nicht jede gezielte Tötung eines mutmaßlichen Terroristen dürfte so herausgehoben dokumentiert werden. Cameron sah sich diesmal womöglich zu einer Stellungnahme verpflichtet, weil es sich bei den getöteten Kämpfern um britische Staatsbürger handelte. Dieser Umstand hat allerdings bemerkenswerte Begleiterscheinungen ausgelöst, die einen tiefen Einblick in die völkerrechtliche Bewertung des britischen Anti-Terror-Kampfes gegen den „IS“ gewährt.

Die Dramaturgie der britischen Stellungnahme

Das Interessante an Camerons Stellungnahme ist nämlich mitnichten die Staatsangehörigkeit der Zielpersonen, sondern die Begründung ihrer Tötung. Dazu bedient sich Cameron einer bemerkenswerten Dramaturgie, die er zunächst wie folgt einleitet:

Today I can inform the House that in an act of self-defence and after meticulous planning Reyaad Khan was killed in a precision air strike carried out on 21 August by an RAF remotely piloted aircraft while he was travelling in a vehicle in the area of Raqqah in Syria. […]The US administration has also confirmed that Junaid Hussain was killed in an American airstrike on 24 August in Raqqah.

Bereits aus dieser Tatsachenfeststellung sticht eine völkerrechtliche Bewertung hervor; die Tötung der Zielpersonen soll als Akt der Selbstverteidigung („act of self-defence“) gerechtfertigt sein. Dies führt Cameron im Anschluss unter ausdrücklich rechtlichen („legal basis for action“) Gesichtspunkten näher aus. Dabei spielt er wohl bewusst die gesamte Klaviatur des in Art. 51 UN-Charta festgeschriebenen völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts ab; im Einzelnen:

We were exercising the UK’s inherent right to self-defence. There was clear evidence of the individuals in question planning and directing armed attacks against the UK. These were part of a series of actual and foiled attempts to attack the UK and our allies.

Hier werden die Voraussetzungen einer Selbstverteidigungslage beschrieben. Das Vokabular (vor allen inherent right to self-defence, armed attacks) entspricht ziemlich genau dem Wortlaut von Art. 51 UN-Charta. Cameron geht davon aus, dass die beiden Zielpersonen mit bewaffneten Angriffen gegen das Vereinigte Königreich und deren Verbündete (ein Hinweis auf auch kollektive Selbstverteidigung) gezielt hätten. Diese tatsächliche Feststellung – ihre Richtigkeit unterstellt – wirft allerdings in ihrer rechtlichen Bewertung brisante völkerrechtliche Fragen auf: Gilt das Selbstverteidigungsrecht überhaupt auch gegen Individuen? Ab wann können kleinere Schädigungshandlungen als „bewaffneter Angriff“ qualifiziert werden? Darf das Selbstverteidigungsrecht auch vorbeugend ausgeübt werden, d.h. bevor ein Angriff stattgefunden hat? Darauf wird sogleich näher einzugehen sein; doch zunächst zurück zu Cameron:

And in the prevailing circumstances in Syria, the airstrike was the only feasible means of effectively disrupting the attacks planned and directed by this individual. So it was necessary and proportionate for the individual self-defence of the UK.

Dies bezieht sich auf die Selbstverteidigungshandlung, die – nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen – nur gestattet ist, wenn sie notwendig und verhältnismäßig ausfällt. Dies bedeutet, dass kein milderes gleichwertiges Mittel zur Angriffsabwehr verfügbar gewesen sein darf und dass die Ausübung der gezielten Tötung nicht im Missverhältnis zur Angriffsabwehr gestanden haben darf. Beides wird man Cameron hier zumindest nicht widerlegen können.

The United Nations Charter requires members to inform the President of the Security Council of activity conducted in self-defence. And today the UK Permanent Representative to the United Nations is writing to the President of the Security Council to do just that.

Damit untermauert Cameron sein Bekenntnis zum Völkerrecht, auf dessen Beachtung er in diesem Fall besonders hohen Wert zu legen scheint. Er lässt keine Zweifel daran, sich an die Voraussetzungen von Art. 51 UN-Charta gebunden zu fühlen. Das Vereinigte Königreich nimmt nämlich demonstrativ die darin festgeschriebenen prozeduralen Folgen der Selbstverteidigung ernst, indem es den UN-Sicherheitsrat über die Maßnahmen informiert.

Aus Camerons Stellungnahme lassen sich einige interessante Rechtsüberzeugungen des Vereinigten Königreichs ableiten, deren Wirkung sich über die beschriebene Situation hinaus entfaltet.

Der Vorrang des Völkerrechts und der Konflikt um den „IS“

Es dürfte außer Zweifel stehen, dass das Vereinigte Königreich das Völkerrecht als Gradmesser für seine Handlungen (nicht nur) in Syrien angewandt wissen möchte. Dies ist ausgesprochen positiv und fördert die oft schon verloren geglaubte Stärke des Rechts in den internationalen Beziehungen. Vor allem aber ist dies ein leuchtendes Signal in den düsteren und diffusen Konflikten des „Arabischen Herbstes“: Rechtliche Maßstäbe gelten auch gegen Terroristen, die sich ihrerseits keinen rechtlichen – und schon gar nicht menschenrechtlichen – Mindeststandards verpflichtet fühlen.

Auch im Konflikt um den „IS“ in Syrien und im Irak weiß Cameron völkerrechtlich zu differenzieren. Die hier relevanten Militärschläge hat er bewusst nach den (strengeren) friedenssicherungsrechtlichen Maßstäben (nämlich der UN-Charta) bewertet, obwohl im Einsatzgebiet ein bewaffneter Konflikt tobt, für dessen Teilnehmer die (weniger strengen) Maßstäbe des Konfliktsvölkerrechts (früher auch „Kriegsrecht“ genannt) gelten:

I want to be clear that this strike was not part of coalition military action against ISIL in Syria – it was a targeted strike to deal with a clear, credible and specific terrorist threats to our country at home.

Cameron betont damit, dass das Vereinigte Königreich gerade keine Partei des bewaffneten Konflikts in Syrien ist, den er gleichwohl als solchen erkennt. Dies mag auch innenpolitisch motiviert sein, doch es verdeutlich vor allem: Selbst in den asymmetrischen, unübersichtlichen und von Terrorismus durchzogenen Konflikten das Nahen Ostens ist eine Trennung der beiden Völkerrechtsregime möglich. Mit anderen Worten: das Völkerrecht ist auch diesen Entwicklungen gewachsen.

Das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht

Spannend ist dabei zu sehen, wie Cameron die betonte Kraft des Völkerrechts umgesetzt wissen will. Dies gilt namentlich für das Selbstverteidigungsrecht, dessen Ausprägung seit jeher umstritten ist, aber sich doch anhand der von Rechtsüberzeugung getragenen Staatenpraxis – nicht zuletzt auch im Kampf gegen den „IS“ – nach und nach konturieren lässt.

Die erste dazu oben aufgeworfene Frage betrifft die Selbstverteidigung gegen private Akteure. Nach herrschender und richtiger Ansicht gibt es keinen Grund, ein solches Recht nur gegenüber Staaten zuzulassen. Eine solche Beschränkung statuiert weder die UN-Charta noch das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht; im Gegenteil: Spätestens seit dem sog. „Caroline-Vorfall“ 1837, dem Ausgangspunkt der gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigung, ist ein Vorgehen auch gegen Private anerkannt. Die jüngere Staatenpraxis bestätigt diese Rechtsüberzeugung ebenso wie der hier gegenständliche Militärschlag.

Spannender sind die beiden weiteren Fragen nach der Qualität eines „bewaffneten Angriffs“ sowie nach der zeitlichen Dimension auch vorbeugender Selbstverteidigung. Dazu ist in der Völkerrechtswissenschaft schon viel publiziert worden, etwa von Christian Tams oder auch dem Verfasser dieses Beitrags. Zum einen spricht die zunehmende Staatenpraxis inzwischen deutlich dafür, dass Selbstverteidigung jedenfalls auch gegen unmittelbar bevorstehende Angriffe statthaft ist; vorbeugende Selbstverteidigung ist also nicht per se verboten, wie es auch Camerons Worte suggerieren. Zum anderen spricht vieles dafür, eine Schwelle zum „bewaffneten Angriff“ jedenfalls nicht zu hoch anzusetzen, zumal dieser Terminus in der gewohnheitsrechtlichen Variante des Selbstverteidigungsrechts keine Rolle spielt und sich dann die Frage stellen müsste, in welchem Verhältnis UN-Charta und Gewohnheitsrecht zueinander stehen. Im Lichte des (auch) völkerrechtlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit würde es jedenfalls dem Text der UN-Charta nicht widersprechen, wenn man das Ausmaß der zulässigen Selbstverteidigungshandlung spiegelbildlich am Ausmaß ihres Auslösers misst. Camerons Äußerungen lassen sich auch in diese Richtung deuten.

Beide Fragen lassen sich aber auch miteinander verknüpfen: Können etwa mehrere Ereignisse, die für sich genommen noch nicht die Qualität eines „bewaffneten Angriffs“ (wenn man sie denn fordert) haben, zusammengefasst werden? Oder können sie als Indikatoren für weitere Nadelstiche dienen? Dies hätte zur Konsequenz, dass nach der ersten Variante ein kumulierter „bewaffneter Angriff“ stattgefunden hätte und auf diesen reagiert werden dürfte. Nach der zweiten Variante dürfte angesichts der Indikatorwirkung dieser Ereignisserie ein Angriff als unmittelbar bevorstehend betrachtet werden, sodass vorbeugende Selbstverteidigung zulässig wäre. Die Grundlage dieser beiden möglichen Konsequenzen ist im Völkerrecht unter der Bezeichnung accumulation of events doctrine geläufig. Cameron scheint genau darauf anzuspielen, indem er auf „part of a series of actual and foiled attempts to attack the UK and our allies“ rekurriert. Der völkerrechtliche Status der accumulation of events doctrine ist noch nicht abschließend geklärt. Die britischen Militärschläge und die darauf folgende Stellungnahme Camerons sind aber geeignet, hier ein Stück relevante, von Rechtsüberzeugung getragene Staatenpraxis zu manifestieren.


One Comment

  1. ars cogitandi Fri 18 Sep 2015 at 14:56 - Reply

    Sehr geehrter Herr Schiffbauer!

    Sie konfrontieren Ihre Leser mit einem insofern interessanten Artikel, als dieser bei näherer Betrachtung doch einige problematische Fragen aufwirft.

    Erstens scheint schon der Titel “Rechtsgebrauch oder Rechtsfortbildung?” nur ein Segment des gesamten Analysebogens abzudecken. Die Begriffe “Gebrauch” sowie “Fortbildung” sind eindeutig positiv besetzt. Darf man denn einen möglichen “Rechtsbruch” seitens eines staatlichen Akteurs nicht diskutieren? Gerade diese Frage beschäftigt viele Menschen, die der aktuellen Praxis gezielter Tötungen kritisch gegenüberstehen.

    Zweitens beginnt Ihre völkerrechtliche Einordnung erst an jenem Punkt, der die Tatsachenfeststellung zur mutmaßlichen Bedrohung für das Vereinigte Königreich hinter sich lässt. Bis auf einen kurzen Hinweis (“ihre Richtigkeit unterstellt”), vernachlässigen Sie dieses Thema. Offensichtlich aber steht und fällt die Rechtmäßigkeit des britischen Vorgehens sowohl mit der Zuverlässigkeit der Informationen über eine konkrete Gefahr, als auch mit der rechtsstaatlichen Verfasstheit jener Institution, der die Beurteilung darüber zufällt. Die Legitimität von “Todesurteilen” kann wohl kaum aus dem Gutdünken einer intransparenten Gruppe von Geheimdienstmitarbeitern abgeleitet werden. Es besteht noch nicht einmal die Pflicht, entsprechende Beweise nachreichen zu müssen, nachdem eine verständliche Notwendigkeit der Geheimhaltung durch die Beseitigung der Gefahr offensichtlich nicht mehr gegeben ist.

    Dies führt mich zu einer bemerkenswerten Aussage Ihrerseits zur Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer Selbstverteidigungshandlung: “Beides wird man Cameron hier zumindest nicht widerlegen können.”

    Wiederum zwingen Sie den Leser, einen entscheidenden Punkt zu umschiffen. Ihre Analyse verweist durchgehend auf Camerons Referenz an das Völkerrecht, missachtet aber die grundlegend zu klärenden Fragen, die erst zu einer Inanspruchnahme des Völkerrechts führen können. Kurz gesagt: Das Einhalten eines bürokratischen Prozederes (Information an den UN-Sicherheitsrat) oder die formale Erfüllung der Kriterien zur Ausübung von Selbstverteidigung sagen absolut nichts darüber aus, ob eine Notwendigkeit und in der Folge auch Verhältnismäßigkeit in solchen Fällen vorliegt. Ich gehe davon aus, dass kein Mob dieser Welt in Ihrem Sinne handelt, selbst wenn er sich streng an die Standards einer staatlichen Hinrichtung halten würde.

    Auch Ihr Hinweis, dass rechtliche Maßstäbe auch gegen (sic!) Terroristen gelten, vermeidet konsequent das zugrunde liegende Problem: Wer als Terrorist gilt bzw. wer daher mit der süßen Verlockung des neu entdeckten Feindstrafrechts beglückt werden darf, entscheidet sich jenseits aller etablierten und kontrollierten Rechtsinstitutionen.

    Abschließend möchte ich festhalten, dass sich eine beunruhigende Tendenz vom Tat- zum Täterstrafrecht bemerken lässt, die gerade deutsche Juristen aufschrecken müsste. Leider kann ich Ihre Zuversicht bezüglich der Entwicklung des kontinental-europäischen, geschweige denn des anglo-amerikanischen Staatswesens nicht teilen.

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