Rechtswissenschaft in Japan: Interessiert an uns, interessant für uns
Wer an einem Montagabend nach 18 Uhr in einem Geschäftshaus der Osaker Innenstadt in den vierten Stock gerät, mag dort auf eine erstaunliche Versammlung treffen. Hier in Räumen der städtischen Universität sitzen unter der Leitung von Kenichi Moriya, Professor dort, und Atsuhi Takada, Professor an der staatlichen Universität Osaka, Studenten, Doktoranden und Emeriti zusammen und lesen Savignys Schrift gegen die Kodifikation, langsam und gründlich Satz für Satz aus dem deutschen Original übersetzend und in seiner Bedeutung drehend und wendend. Seit fünf Jahren findet dieses Seminar extracurricular statt. Gelesen werden wichtige deutschsprachige rechtswissenschaftliche Texte, die nicht ins Japanische übersetzt werden – wie die 2. Auflage von Kelsens Reiner Rechtslehre. So viele unübersetzte kanonische deutsche Rechtstexte gibt es freilich in Japan nicht mehr: Nur wenige Blocks weiter findet sich in der größten Buchhandlung Osakas nicht nur eine gewaltige Auswahl philosophischer Schriften aus aller Welt, die es so in keiner deutschen Buchhandlung mehr gibt (es stehen da etwa auch die Schriften Karl Kautskys frisch übertragen im Regal, hierzulande allenfalls etwas für eine Staatsbibliothek oder ein Kreuzberger Antiquariat); vielmehr sind hier auch viele Bücher deutscher Verfassungsrechtler zu entdecken von den Weimarer Klassikern bis zu Konrad Hesse und Rainer Wahl. Dass in dieser Reihe bald auch ein co-autorisiertes Buch des Verfassers stehen soll, ist da natürlich eine besondere Freude.
Japanische Rechtswissenschaft wird von den meisten Forschern auch im Kontext einer ausländischen Rechtsschule betrieben. Für ein gutes Drittel der japanischen Rechtsprofessoren stellt die deutsche Rechtstradition diesen Kontext, für einen etwas größeren Anteil die amerikanische und für deutlich weniger die französische. Viele japanische Professoren haben im Ausland promoviert. Die juristische Fakultät der Universität Osaka ist heute im Gebiet des öffentlichen Rechts die Hochburg des Interesses an der deutschen Juristerei. Alle Verfassungs- und Verwaltungsrechtler hier sprechen exzellent deutsch und kennen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ebenso wie die wissenschaftlichen Diskussionen und die Genealogie der Schulenbildung in Deutschland – all dies in einer Genauigkeit, die man nicht allen hiesigen Kollegen nachsagen kann. Als deutscher Besucher ist man zunächst erstaunt und dann beschämt vor so viel Aufmerksamkeit, Interesse und Kenntnis an der eigenen Disziplin. Wo sonst hat man Gelegenheit, mit Doktoranden über die eigenen Texte zu diskutieren und auf systematische Unebenheiten vielleicht auf übersehene Argumente aufmerksam gemacht zu werden? Die Diskussionen sind hart und kritisch. Das Gespräch mit den Doktoranden steht immer im Vordergrund, wie überhaupt die Nachwuchsförderung sehr ernst genommen wird. Von einer besonderen Ritualisierheit der wissenschaftlichen Kommunikation bemerkt der Besucher nichts. Eher erkennt man dieselben Gelehrtentypen und eine ähnliche Abfolge von Verhaltensmustern in Wissenschaftlergenerationen wieder wie zu Haus.
Das große Interesse der japanischen Rechtswissenschaft an uns ist nicht so misszuverstehen, wie es zumindest implizit von deutscher Seite nicht selten getan wird: Denn es ist natürlich kein Ausdruck unserer Überlegenheit, wenn sich andere für uns interessieren. Für die Japaner ist die Auseinandersetzung mit einer anderen Rechtskultur erst einmal eine Form, per Vergleich und Genealogie etwas auch über sich zu lernen, die gar nichts mit einem Mangel an intellektuellem Selbstbewusstsein zu tun hat. Eher wäre an uns die Frage zu richten, warum wir denn meinen, bloß mit der eigenen Tradition auszukommen und auf eine so genaue Kenntnis irgendeiner anderen Rechtsordnung verzichten zu können. Und warum wir – anders als in besseren Zeiten unseres Fachs – weitgehend damit aufgehört haben, rechtswissenschaftliche Texte aus anderen Sprachen ins Deutsche zu übersetzen.
Japan sollte für uns auch deshalb von besonderem Interesse sein, weil sich die japanische Verfassung – entstanden unter den uns wohlbekannten Bedingungen einer im zweiten Weltkrieg besiegten Nation auf Druck der amerikanischen Besatzungsmacht – so ganz anders entwickelt hat als das Grundgesetz. Obwohl ihr Text ein Prüfungsrecht des Supreme Court ausdrücklich vorsieht, fasste diese Befugnis in der Rechtsprechung niemals wirklich Fuß. In den letzten sechzig Jahren hat das Gericht nur eine Handvoll Gesetze aufgehoben, die allermeisten verwaltungs- und verfassungsrechtlichen Fälle scheitern an der Zulässigkeit, namentlich an einer extrem restriktiven Prüfung der Klagebefugnis und des Rechtsschutzinteresses. Dies erklärt das große Interesse der japanischen Wissenschaft an prozessualen Fragen.
Freilich ist die Sache mit der Feststellung der Unzulässigkeit einer Klage häufig nicht zu Ende. Denn häufig ist das Gerichtsverfahren unabhängig von seinem Ausgang Anlass für den Staat, Beschwerden abzuhelfen. So erging das geltende Nachtflugverbot am Flughafen Osaka Itami als Reaktion auf eine erfolglose Klage gegen die Flugzeiten. In solchen Mechanismen gewinnt das öffentliche Recht seine ganz eigene Bedeutung für die japanische Gesellschaft – eine Bedeutung von Recht, die gerade nicht in der Form des Rechts zum Ausdruck kommt.
Andere Beispiele bestätigen diesen Eindruck: Art. 9 der japanischen Verfassung verbietet es ausdrücklich, eine bewaffnete Streitmacht zu halten. Dieses Verbot wird seit langem politisch umgangen. Der japanische Supreme Court weigert sich die Vorschrift zu überprüfen. Trotzdem wäre es falsch, die Norm für irrelevant zu halten. Sie ist der Kristallisationspunkt der verfassungsrechtlichen wie der gesellschaftlichen Debatte. Sie stellt jeden Einsatz mit Militär unter einen ganz spezifischen politischen Rechtfertigungsdruck.
Sie dürfte schließlich auch einer der maßgeblichen Gründe dafür sein, dass sich politische Diskussionen in Japan sehr häufig an der Frage der Reform der Verfassung entzünden – einer Verfassung freilich, die seit ihrem Inkrafttreten noch keinmal geändert wurde. Es sind solche Verschlungenheiten von Recht und Politik, von Form und Informalität, die die verfassungsvergleichende Forschung hierzulande mehr interessieren könnte, ihre Phantasie beflügeln und ihre Fixiertheit auf einen methodischen Justizlegalismus lösen könnte.
Wenn das japanische Verfassungsgericht am Meer stehen würde, hätte man dann bei uns das Bundesverfassungsgericht abgeschaltet?
Dieses mangelnde Wissen deutscher Rechtswissenschaftler vom japanischen Recht und der Wissenschaft davon liegt sicherlich auch maßgeblich an der Sprach/Zeichen-Barriere. Während Japaner ohnehin unser Zeichensystem lernen, um unter anderem Schriftenglisch zu behrerrschen und damit auch die deutsche Sprache erlernen können, gibt es umgekehrte Effekte bei Deutschen nicht. Japanische Schriftzeichen lernt nur, wer auch Japanisch lernen will. Und da Japaner auch englisch können, wird das nicht so oft der Fall sein.
Verallgemeinern kann man das sicher nicht. Gerade unter Zivil- und Prozessrechtlern findet ein durchaus reger Dialog in beide Richtungen statt. Das Intensivierungspotenzial ist aber gerade im Bereich des Öffentlichen Rechts immens.
Stellvertretend sei hier auf die von der Deutsch-Japanischen-Juristenvereinigung (www.djjv.org) herausgegebene Zeitschrift hingewiesen, in der Beiträge zum Öffentlichen Recht deutlich unterrepräsentiert sind.