Religion am Arbeitsplatz: EGMR hat für alle ein bisschen was
Airlines dürfen ihren Angestellten nicht das Tragen von Kruzifixen verbieten, Krankenhäuser dagegen schon: Denn anders als Hygiene und Sicherheit in der Klinik ist das bloße Interesse der Airline an einheitlich feschen Stewardessen keines, das die Freiheit derselben, sich zu ihrem Glauben zu bekennen, aufwiegen könnte. Das hat der EGMR heute entschieden.
So sehr mir die Religionsfreiheit sonst am Herzen liegt: Im Fall der Stewardess mag in mir keine rechte Empörung über British Airways aufkommen.
Ich weiß nicht, welche Motive sie tatsächlich angetrieben hatten, nach jahrelangem Zurechtkommen mit den Regularien plötzlich darauf zu bestehen, das Kruzifix über der Kleidung zu tragen, alle Brückenbauversuche des Arbeitgebers auszuschlagen, sich den Einkommensausfall durch Spenden skandalisierter Mit-Christen überkompensieren zu lassen und schließlich auf Schadensersatz in Höhe von bis zu 30.000 Pfund zu klagen.
Aber jedenfalls kann ich keine rechte Notwendigkeit erkennen, Großbritannien anhand dieses Falles den Vorwurf zu machen, sein Schutzniveau für die Religionsfreiheit sei menschenrechtswidrig niedrig. Zwei der Richter, darunter der Brite Nicholas Bratza, halten den Fall dafür denn auch für entschieden ungeeignet.
Viel interessanter als diese Kreuz-am-Kettchen-Problematik finde ich aber die anderen beiden Fälle, die in dem Urteil gleich mitentschieden wurden. Da geht es um eine Standesbeamtin und einen Eheberater, die jeweils einer Form des christlichen Glaubens anhingen, der Homosexualität verdammt. Beide wollten keine Homo-Paare verheiraten bzw. beraten und verloren deshalb ihren Job.
Die Konstellation ist deshalb heikel, weil hier der geschützte Glaube eine Diskriminierung impliziert. Die beiden sind entschieden der Meinung, dass Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung ungleich behandelt werden sollten.
Die Kammermehrheit zieht sich damit aus der Affäre, dass sie darin eine Art Kollision erkennt: Hier sei der Beurteilungsspielraum besonders weit und die Klagen daher unbegründet.
Aber stimmt das? Auch hier erweist sich das Minderheitsvotum, geschrieben vom montenegrinischen und vom maltesischen Richter, als nahrhafterer Food for Thought als das Mehrheitsvotum. Es verweist darauf, dass kein Homo-Paar in dem Londoner Stadtbezirk, in dem die Standesbeamtin gearbeitet hat, unverheiratet bleiben musste. Die Überzeugungen der Standesbeamtin hatten gar keine Gelegenheit, in Taten zu münden; es war eine reine Sache zwischen Arbeitnehmerin und Arbeitgeber. Der Bezirksverwaltung scheint es gar nicht um den Schutz ihrer Kundschaft vor Diskriminierung gegangen zu sein, sondern vielmehr darum, die eigenen Reihen von Leuten mit komischen Überzeugungen clean zu halten.
Ich bin nicht ganz sicher, ob diese Unterscheidung zwischen Überzeugungen und Taten wirklich der Komplexität dieses Falls gerecht wird. Aber jedenfalls kommt dem Minderheitsvotum das Verdienst zu, überhaupt zum Kern des Problems vorgestoßen zu sein.
Kruzifces verbieten ist okay, aber Homosexuelle soll man munter diskriminieren dürfen? seltsame Anschauung…
@Pascal Das, glauben Sie, ist es, was ich sagen wollte? Also, einer von uns beiden steht total auf dem Schlauch.
Ich muss gestehen, dass ich auch noch einmal lesen musste, weil ich nach der ersten Lektüre die Sache wie Pascal verstanden hatte. Liegt wohl daran, dass die Kritik am Minderheitenvotum nicht ausformuliert ist.
Jedenfalls kann das Argument der Richter in der Minderheit nur solange geleten, wie die Ansicht der Entlassenen ihrerseits nur eine Minderheitenmeinung ist. Sind viele der Standesbeamten davon infiziert, trägt das Argument nicht mehr. Dann stellt sich die Frage, wie hoch die Homophobiequote im Standesamt sein darf. Das kann wohl auch nicht die Lösung sein.
Auch Fereshta Ludin hätte Kopftuch tragen dürfen!
Das sehr erfreuliche Urteil des EGMR zur Religionsfreiheit (an den Beispielen Kreuz und Kopftuch) gibt nachträglich der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin Recht, welche früher viele Jahre in Baden-Württemberg vergeblich darum gekämpft hatte, während des Unterrichts ein Kopftuch tragen zu dürfen. Sie hatte glaubhaft versichert, dass es zu ihrer Form des Islam gehört, ein Kopftuch zu tragen.
Aber ihr wurde von den Behörden und Gerichten nicht nur dieses elementare Freiheitsrecht abgesprochen, sondern sie wurde zugleich massiv diskriminiert, indem sogar ausdrücklich christlichen Lehrerinnen erlaubt wurde, ein deutlich sichtbares Kreuz zu tragen.
Ich fordere die neue baden-württembergische Landesregierung auf, sich für das krasse Unrecht der früheren, sich „christlich“ nennenden CDU-Regierung zu entschuldigen, welche sich so völlig entgegengesetzt zur christlichen Nächstenliebe und den Menschenrechten verhalten hatte.
Frau Ludin steht eine öffentliche Wiedergutmachung zu, inklusive finanzieller Entschädigungen!
Ich kann mich dem Eindruck nicht verwehren, dass “Homosexuelle darf man diskriminieren, Kruzifixe nicht” aber genau die Ansicht ist, die hinter dem Minderheitsvotum steht. Anders kann ich mir nämlich nicht erklären, wie man “gay rights” und “fundamental human rights” voneinander abtrennt. Das hört sich doch sehr nach einer Unterscheidung zwischen “echten” und “nicht so wichtigen” Menschenrechten an. Und diese Unterscheidung findet in der EMRK noch nichteinmal Rückhalt, weil selbst ohne explizite Erwähnung man ja sexuelle Orientierung unter Art. 14 schützt.
@Johannes: Ich weiß nicht, wie diese beiden Richter drauf sind, kann ich gar nicht sagen. Möglich, dass sie beide hartgekochte Homophobe sind, keine Ahnung. Ich kenne nur ihr Votum, und dem kann man, glaube ich, eine solche Unterscheidung nicht entnehmen. Diese angebliche Unterscheidung bezieht sich auf die angebliche “blinkered political correctness of the Borough of Islington”. Sie werfen dem Bezirk vor, vor lauter Bemühen um ein gay-friendly image die Gewissensfreiheit der Klägerin missachtet zu haben. Zu einer Diskriminierung wegen sexueller Orientierung sei es ja in keinem Fall gekommen, wenn man nicht die bloße Überzeugung der Klägerin schon als Diskriminierung wertet.
»Kern des Problems« @Max Steinbeis
»Aber jedenfalls kommt dem Minderheitsvotum das Verdienst zu, überhaupt zum Kern des Problems vorgestoßen zu sein.«
Das kann man so sagen. Der Kern des Problems scheint mir zu sein, dass das Bestreben des Bezirks, Homosexuelle nicht zu diskriminieren, im Minderheitsvotum als „blinkered political correctness“ abgetan wird.
Kaum vorstellbar, dass es dieses Minderheitsvotum gegeben hätte, wenn es statt um Homosexuelle um Farbige oder Behinderte gegangen wäre. Eine Diskriminierung von Homosexuellen ist nach Meinung dieser Richter offenbar dann zulässig, wenn dies aus Gewissensgründen geschieht.
»Es [das Minderheitsvotum] verweist darauf, dass kein Homo-Paar in dem Londoner Stadtbezirk, in dem die Standesbeamtin gearbeitet hat, unverheiratet bleiben musste.«
Na klar, wenn die eine Beamtin sich weigert, übernimmt eben eine andere. Und wenn in einem Lokal ein Behinderter nicht erwünscht ist, gibt es ja noch andere Lokale. Kein Behinderter bleibt unversorgt. Wo also ist das Problem?
Von der EMRK sind ja nicht nur Religionen sondern im gleichen Ausmaß auch Weltanschauungen geschützt. Folglich müsste auch Anhängern nichtreligiöser Weltanschauungen das gleiche Recht zuerkannt werden ihre Überzeugungen in der Arbeitszeit optisch sichtbar auszudrücken. Kommunisten hätten demnach ein Recht mit einer Hammer-Und-Sichel-Plakette am Arbeitsplatz zu erscheinen, auch für Atheisten gäbe es bereits ein breites Sortiment an T-Shirts als passende Berufsbekleidung.
http://www.shirtcity.at/atheismus-t-shirts?gclid=CMSO9aSq_rQCFcpZ3god3x8ADQ
Tatsächlich scheint für ein gutes Zusammenleben aller Religionen und Weltanschauungen am Arbeitsplatz das konsequente optische Neutralitätsprinzip die beste Lösung zu sein. Überhaupt keine sichtbaren reliösen und weltanschauliche Zeichen betrifft alle gleich, ist nicht diskriminiernd und dient dem Interessenausgleich.
Näheres dazu:
http://www.reuter-arbeitsrecht.de/alltag-im-arbeitsrecht/kopftuch-und-sichtbare-religiose-oder-weltanschauliche-zeichen-am-arbeitsplatz.html