04 March 2019

Restitution und Kolonialismus: Wem gehört die Witbooi-Bibel?

„Baden-Württemberg stellt sich seiner historischen Verantwortung. Die Rückgabe der ‚Witbooi-Bibel‘ und der Peitsche Hendrik Witboois an Namibia ist ein bedeutendes Signal und wichtiger Schritt im Prozess der Versöhnung.“

Mit diesen Worten begründete Ministerpräsident Winfried Kretschmann die letzte Woche durchgeführte Restitution zweier kolonialzeitlicher Objekte an den Staat Namibia. Die Rückgabe an die nationale Regierung hat hohen Symbolwert, ist aber in Namibia selbst nicht unumstritten. Eine Vereinigung der Nama-Stammesältesten protestierte und beantragte vor zwei Wochen beim Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg, die Restitution auszusetzen.

Bibel und Peitsche gehörten Hendrik Witbooi, dem Anführer des Nama-Aufstands, der sich 1904 dem genozidalen Vorgehen der deutschen „Schutztruppen“ unter General Lothar von Trotha zur Wehr setzte. Mindestens 80.000 Herero und Nama kamen in diesem Kolonialkrieg ums Leben. Auch Hendrik Witbooi selbst verblutete an einer deutschen Gewehrkugel. Sein Regierungssitz war schon 1893 von der Deutschen „Schutztruppe“ geplündert worden. Der Intendant der deutschen Schutztruppe Hofrat Wassmannsdorf überließ nach der Plünderung annotierte Bibel und seine Peitsche zusammen mit anderen privaten Gegenständen der Witbooi-Familie dem Linden-Museum Stuttgart. Baden-Württemberg wollte mit der Rückgabe ein Zeichen setzten in der aktuell hitzig geführten Restitutionsdebatte. 

Kurz nachdem sich die Landesregierung letztes Jahr durchgerungen hatte, die Objekte zurückzugeben, hatte der viel beachtete Restitutionsbericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr (Savoy/Sarr-Bericht)((B. Savoy & F. Sarr, The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethic, Nov. 2018 (Savoy/Sarr-Report); siehe für einen Kommentar des Berichts T. Thiemeyer, Restitution und Kolonialismus, Zeitschrift für Volkskunde 2/2019 (im Erscheinen).)) die Frage, welche kolonialzeitlichen Objekte aus europäischen Museen restituiert werden sollen, eindeutig beantwortet: nämlich alle! Die während der Kolonialherrschaft aus den untersuchten afrikanischen Kolonien nach Europa verbrachten Objekte seien sämtlich durch einen „transgressive act“, d.h. durch einen Unrechtsakt in die Museen gekommen. Die genaue Provenienz einzelner Objekte sei insofern unerheblich. Wenn der kolonialzeitliche Kontext gegeben sei, müsse grundsätzlich restituiert werden. Völlig unabhängig von der Frage, wie sich diese generalisierende Forderung nach Restitution völkerrechtlich begründen ließe, leitet der Bericht damit eine neue Phase für die Restitution kolonialzeitlicher Objekte ein. Es wird nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa in den nächsten Jahren zu einer großen Anzahl von Restitutionen kommen. Herleiten ließen sich rechtliche Besitzansprüche europäischer Staaten an den kolonialzeitlichen Objekten ja ohnehin nur durch Rückgriff auf Rechtsnormen, die in ihrer völkerrechtlichen oder staatsrechtlichen Gestalt den kolonialisierten Gesellschaften seinerzeit einseitig und von außen gewaltsam aufgezwungen worden waren.((Der Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten des Deutschen Museumsbunds e.V. (DMB), Mai 2018 (DMB-Leitfaden) sieht das noch ganz anders und hält Rückgabeansprüche nach deutschem Privatrecht weitestgehend und auf völkerrechtlicher Grundlage beinahe vollumfänglich für ausgeschlossen, S. 71 ff.)) Macron, der den Bericht in Auftrag gegeben hatte, ordnet in einem bislang präzedenzlosen Schritt den Handlungskomplex des europäischen Kolonialismus inzwischen unter der völkerrechtlichen Kategorie „crimes against humanity“ ein.((Bestätigend Savoy/Sarr-Report, S. 1 f.)) Will und kann man in den außenpolitischen Beziehungen dieselben europäischen Normen, die das koloniale Unrechtssystem begründet und aufrechterhalten haben, heute wirklich weiter zur Grundlage einer Ablehnung von Restitutionsverhandlungen machen? Denn die Anwendung der Maßstäbe des alten kolonialzeitlichen Europäischen (!) Völkerrechts auf die Plünderungsakte, auch wenn dies über das Konzept der Intertemporalität gut begründbar ist, weist eben gerade keinen Weg aus der Eurozentrismusfalle. Die traditionelle Rechts- und Besitzordnung der Namas bliebe ebenso unberücksichtigt, wie die Tatsache, dass dieses kolonialzeitliche Europäische Völkerrecht mit einem diskriminierenden doppelten Standard für die sog. „nicht-zivilisierten“ Gemeinschaften operierte. In den Kolonien durften die Europäer bei Kriegshandlungen plündern, unter „zivilisierten“ Völkern dagegen handelte es sich im späten 19. Jahrhundert dabei um einen Völkerrechtsverstoß.  Das „ob“ einer Restitution wird insofern in der neuen postkolonial geprägten Diskursformation voraussichtlich immer weniger zur Disposition stehen, das „wie“ dagegen rückt derzeit stark in den Vordergrund. Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die völkerrechtlich heikle Frage, an wen innerhalb des Herkunftslandes restituiert werden soll oder muss.

So auch bei Henrik Witboois Bibel und seiner Peitsche. Kurz vor der geplanten feierlichen Rückgabezeremonie in Namibia, focht die Vereinigung der Nama-Stammesältesten die geplante Rückgabe der Witbooi Bibel mitsamt Peitsche an den Staat Namibia an. Die Vereinigung, die für sich beansprucht, die Volksgruppe der Nama zu vertreten, stellte einen Eilantrag auf Aussetzung der Rückgabe vor dem Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg. Die Gegenstände seien an sie als legitime Vertreter der Familie Witbooi und nicht an die namibische Regierung zurückzugeben; die Nama-Vertreter sahen sich darüber hinaus in die Verhandlungen mit Deutschland von der namibischen Regierung nicht ausreichend eingebunden. Der Verfassungsgerichtshof wies den Antrag auf einstweilige Anordnung in einem kurz gefassten Beschluss als unzulässig ab. Grund waren diverse Form- und Begründungsdefizite im Antrag der Nama-Vereinigung, die nach ständiger Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts zu einer Unzulässigkeit des Antrages führen mussten. Es bestand insofern auch für das Gericht kein Anlass, sich über die Zulässigkeitsfrage hinaus substanziell zu der behaupteten Rechtsverletzung durch die geplante Rückgabe zu äußern. Das Gericht ließ sich zur Substanz des Rechtsstreits einzig zu der pauschalen Aussage hinreißen, dass es sich der Sache nach wohl um eine rein inner-Namibianische Streitfrage ohne Bezüge zum Landesverfassungsrecht handele.  

Dabei wirft das Anliegen der Nama-Vereinigung eine rechtlich komplexe Fragestellung auf, die auch für staatliche Stellen in Deutschland durchaus heikel ist: an wen müssen aus Sicht von einschlägigen auch die Landesregierung bindenden Völkerrechtsnormen staatliche Stellen restituieren, wenn zwischen der nationalen Regierung und Vertretern von Herkunftsgesellschaften Streit über den Verbleib des zurückgegebenen Objektes besteht? Das völkerrechtliche Souveränitätsprinzip verpflichtet europäische Regierungsstellen grundsätzlich immer, die ausländische Regierung an Restitutionsverhandlungen maßgeblich zu beteiligen, wenn es sich um ein Objekt von nationaler Bedeutung handelt.((Case concerning the Temple of Preah Vihear, Merits, ICJ Reports 1962, 6, 36 (“implicit in, and consequential on, the claim of sovereignty itself”);  R. Higgins, The Taking of Property by the State: Recent Developments in International Law, 176 Recueil des Cours 259, 280 (1982); R. Streinz, Handbuch des Museumsrechts 4: Internationaler Schutz von Museumsgut, 1998, 69.)) Dies ist bei den Witbooi-Objekten ohne Zweifel der Fall. Das Konterfei Hendrik Witboois findet sich auf Geldscheinen der namibischen Landeswährung.

Ob darüber hinaus auch Herkunftsgesellschaften an den Restitutionsverhandlungen zu beteiligen sind, hängt ebenfalls von der Bedeutung ab, die die jeweiligen Objekte für die Herkunftsgesellschaften, im vorliegenden Fall die Nama, haben. Das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe für Minderheiten und Indigene Völker schließt ein völkerrechtlich geschütztes Interesse von Herkunftsgesellschaften an einem Zugang zu restituierten Objekten mit ein; ein solches ist zumindest immer dann anzunehmen, wenn diese Objekte für deren „Identität“ von zentraler Bedeutung sind. Art. 15 (1)(a) des Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt)((Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 16. Dezember 1966, 993 UNTS 3, BGBl. 1973 II S. 1569.)) beinhaltet das Recht jedes Einzelnen, „am kulturellen Leben teilzunehmen“. Hiervon mit umfasst ist ein Recht auf Zugang, Kontrolle und Verfügbarkeit kulturell bedeutender Objekte als Verkörperung von Identität, Wert und Bedeutung für den Träger des Rechts.((WSK-Ausschuss, General Comment No. 21, Right of Everyone to take part in cultural life (Article 15), UN Doc E/C.12/GC/21 (21. Dezember 2009), S. 4, 5, 12; Menschenrechtsrat, Report of the Independent Expert in the Field of Cultural Rights, A/HRC/17/38 (21. März 2011), S. 15 f.)) Diese kulturellen Teilhaberechte können vom Einzelnen, zusammen mit anderen und von einer Gemeinschaft geltend gemacht werden.((WSK-Ausschuss, General Comment No. 21, S. 3.)) Indigene Völker haben unter dem UN Sozialpakt zudem das Recht, als Kollektiv dafür zu sorgen, dass ihr Recht auf Bewahrung und Kontrolle ihres kulturellen Erbes nicht beeinträchtigt wird.((WSK-Ausschuss, General Comment No. 21, S. 9.)) Auch Art. 27 des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte (UN Zivilpakt)((Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 19. Dezember 1966, 999 UNTS 171, BGBl. 1973 II 1533.)) untersagt es nationalen Regierungen, Angehörigen ethnischer Minderheiten((Die ethnischen Gruppen der Nama (4% der Gesamtbevölkerung) und Ovaherero (6%) sind Minderheiten in Namibia, vgl. Minority Rights Group International, Country Report: Namibia, 2018.)) das Recht vorzuenthalten, ihr kulturelles Leben individuell und auch im Kollektiv zu pflegen. Dies schließt ein Recht auf Zugang zu kulturellen Stätten und Objekten mit ein. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte stellte in Yatama v. Nicaragua die Pflicht der Staaten fest, die Partizipation der betroffenen Gesellschaft in einer Weise sicherzustellen, dass deren Werte, Gebräuche und Praktiken geachtet werden. Hinzu kommen spezielle Normen aus der unverbindlichen UN Indigenenerklärung, die indigenen Völkern das Recht zusprechen, ihr kulturelles Erbe aufrechtzuerhalten, zu kontrollieren und zu entwickeln. 

Im Übrigen gehen weitere Dokumente im Bereich des Kulturvölkerrechts davon aus, dass die Belange indigener Völker und Stammesgruppierungen zu berücksichtigen sind. Die Präambel der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes vom 17. Oktober 2003 erkennt an, dass insbesondere indigene und andere Gemeinschaften für die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes((UNESCO Convention for the Safeguarding of intangible Cultural Heritage, 17. Oktober 2003, 2368 UNTS 3.)), welches untrennbar mit materiellen Kulturobjekten verbunden ist, eine zentrale Rolle spielen. Art. 15 verpflichtet die Vertragsstaaten, die Partizipation dieser Gemeinschaften sicherzustellen. Die UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt vom 20. Oktober 2005((UNESCO Convention for the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions, 20. Oktober 2005, 2440 UNTS 311, BGBl. 2007 II 234.)) betont die Bedeutung des Schutzes des kulturellen Erbes von Minderheiten und indigenen Gruppen für die globale kulturelle Vielfalt (s. Art. 2(3), 7(1)(a)). Die UNIDROIT-Konvention über gestohlene oder rechtswidrig ausgeführte Kulturgüter vom 24. Juni 1995((UNIDROIT Convention on stolen or illegally exported cultural objects, 24. Juni 1995, 2421 UNTS 457 (UNIDROIT-Konvention von 1995).)), die Einzelpersonen und Gruppierungen Rechtsbehelfe vor nationalen Gerichten garantieren soll, bezieht ausdrücklich Belange nationaler, indigener, Stammes- und anderer Gemeinschaften ein.((UNIDROIT-Konvention von 1995, Prmb. § 3.)) Art. 3 (8) trifft besondere Regeln für die Restitutionsverlangen von Stammes- oder indigenen Gesellschaften bzgl. für sie zentraler kultureller Objekte.

Wenn also kolonialzeitliche Objekte restituiert werden, sollte aus Sicht völkerrechtlicher Standards darauf geachtet werden, dass ein mit der Regierung des Staates vereinbarter späterer Verbleib der Objekte den Zugang der Herkunftsgesellschaft zu diesem Objekt nicht ausschließt.((Eine ausführliche Erörterung und Herleitung von völkerrechtlichen Ansprüchen von Herkunftsgesellschaften und menschenrechtlichen Bindungen deutscher staatlicher Stellen erscheint demnächst von den Autoren unter dem Titel „Wer spricht für die Kolonisierten?“.)) Es erscheint demnach normativ geboten, bei Restitutionsverhandlungen mit staatlichen Stellen im Ausland auch legitime Vertreter der Herkunftsgesellschaften hinzuzuziehen. Politisch erscheint ein solches Vorgehen ohnehin sinnvoll. Ähnlich wie für den postkolonialen Theoretiker Achilles Mbembe((Siehe A. Mbembe, Restitution ist nicht genug, FAZ vom 9.10.2018, S. 11; ders., „Sie gehören uns allen“, Zeit 11/2018. )) ist im Savoy/Sarr-Bericht die Rückgabe immer nur der Anfang bzw. ein „Angebot“ Europas, damit zu beginnen, die durch den Raub nachhaltig beschädigten Beziehungen zu den Herkunftsgesellschaften wiederherzustellen (S.8).((Savoy/Sarr-Report, S. 40 f.)) Es geht um ein Gespräch zur Aufarbeitung von kolonialem Unrecht, über den unwiederbringlichen Verlust von symbolischen und religiösen Welten, den Verlust von Gemeinschaft und Zukunft in den Herkunftsgesellschaften, und über die Veränderung und Beschädigung der Objekte nach über 100 Jahren europäischer Klassifizierungen und Bedeutungszuschreibungen. Ein solches Gespräch muss, wenn es etwas Neues und Gemeinsames hervorbringen soll, insbesondere auch mit den Herkunftsgesellschaften geführt werden.

Nach Informationen der Landesregierung Baden-Württemberg war dies bei den Verhandlungen über die Witbooi Objekte in Form der Beteiligung einer bestimmten Nama-Gruppe der Fall, die der Restitution an den Staat auch explizit zugestimmt hatte. Die Frage wer die Nama nach außen repräsentieren darf, ist offensichtlich derzeit innerhalb der Herkunftsgesellschaft selbst umkämpft, auch über die Modalitäten der Rückgabe gibt es Streit. Die Herkunftsgesellschaft ist also wie häufig in solchen Fällen selbst keine homogene Gruppe, wer legitimerweise für sie sprechen kann unklar: ein schwieriges Umfeld selbst für restitutionswillige Regierungen, aber wer hatte versprochen, dass es ein einfaches Gespräch würde. 


One Comment

  1. Prof Reinhart Kößler Fri 8 Mar 2019 at 21:25 - Reply

    Here as elsewhere, a fundamental confusion exists concerning the action before the constitutional court (lawyers may enlighten me why such a case is filed at a constitutional court).
    The fundamental fact is that no Witbooi Authority has ever been a member of the Nama Traditional Leaders Association. The Association’s claim to ownership is therefore (as far as my lay perception goes) spurious at best.
    At the same time, the Witbooi Royal House has indeed laid claim to ownership, citing serious historical reasons. However, they have at no stage contested the return of the bible and the whip which they declared as long overdue.
    The Witbooi Royal House did, however, raise demands about the modalities of the handover which led to intense negotiations and needed sustained efforts at finding a modus vivendi between them and the Namibian State. This has eventually been possible.

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