25 May 2021

Restrisiken der Kultur

Es sind eigentlich gute Tage für die Kultur. Die Wiedereröffnung der Museen, Theater, Konzerthäuser und Kinos hat in einigen Bundesländern begonnen oder ist, zumindest für Open-Air-Veranstaltungen, in greifbare Nähe gerückt. Und doch gibt es einen Wermutstropfen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Mai 2021 als Teil einer Reihe von Beschlüssen, mit denen Eilanträge und Verfassungsbeschwerden gegen die „Bundesnotbremse“ abgewiesen wurden, auch bestätigt, dass Kultureinrichtungen in Kreisen mit einer 7-Tage-Inzidenz von über 100 je 100.000 Einwohner geschlossen bleiben müssen (§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 IfSG). Im Gegensatz zu einigen der zeitgleich verkündeten Beschlüsse hat die zuständige Kammer in der Entscheidung dabei nicht nur den Eilantrag abgewiesen, sondern die Verfassungsbeschwerde prominenter Musiker:innen, unter anderem der Geigerin Anne-Sophie Mutter, von vornherein nicht zur Entscheidung angenommen. Dass die hohen Erwartungen, die mit den vielen Verfassungsbeschwerden gegen die „Bundesnotbremse“ verbunden waren, abermals enttäuscht werden, kommt nicht überraschend. Dennoch ist der Beschluss eine verpasste Chance. Die Kammer wagt es nicht, von der Politik einzufordern, künstlerische Entfaltung (jenseits digitaler Formate) auch unter Pandemiebedingungen bei Anwendung umfassender Schutzkonzepte zu ermöglichen. Wie weit die Kunstfreiheit ausgeübt werden kann, bestimmt sich danach, was die Politik für infektionsschutzmäßig vertretbar hält. Unbeanstandet bleibt damit auch das Gesamtkonzept, wonach dem weitgehend einschränkungslosen Weiterlaufen der Wirtschaft Vorrang vor der offenbar verzichtbaren Kultur zukommt.

Substantiierungs- und Beweisfragen

Die Kammer begründet den Nichtannahmebeschluss damit, dass die Beschwerde nicht hinreichend substantiiert sei. Insbesondere hätten die Beschwerdeführer:innen sich nicht hinreichend mit einschlägiger fachgerichtlicher Rechtsprechung, namentlich einem Beschluss des BayVGH vom April zum Kultur-Lockdown nach der bayerischen Infektionsschutzverordnung auseinandergesetzt. Das scheint mir die Anforderungen des Substantiierungskriteriums zu überspannen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Kammer einen Weg gesucht hat, einer vertieften Auseinandersetzung zu entgehen. Der Vorwurf fehlender Substantiierung betrifft darüber hinaus aber auch den zentralen inhaltlichen Punkt der Beschwerde: Sie habe mit den angeführten Studien zur Wirksamkeit von Schutzkonzepten nicht aufgezeigt, dass die Beschränkungen der Kunstfreiheit bei anhaltend hohen Infektionszahlen nicht erforderlich seien. Mit anderen Worten: Die Beschwerdeführer:innen haben den ihnen obliegenden Beweis der Ungefährlichkeit von Kulturveranstaltungen bei Anwendung umfassender Schutzkonzepte nicht erbracht. Das ist aber keine Frage der Zulässigkeit der Beschwerde, sondern eine der Begründetheit und hätte folglich nicht lediglich durch drei Richter:innen in einem knapp begründeten Nichtannahmebeschluss entschieden werden dürfen.

Worum geht es in der Sache? Der Bundesgesetzgeber geht nachvollziehbar davon aus, dass es bei hohen Infektionszahlen effektiver Bekämpfungsmaßnahmen bedarf. Offen ist jedoch, ob nicht auch umfassende, von Fachleuten entwickelte Schutzkonzepte (u.a. die Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken, die Gestaltung der Sitzordnung, eine ausreichende Belüftung und tagesaktuelle Schnelltests) die Infektionsgefahr in Kultureinrichtungen ausreichend mindern. Der Bundesgesetzgeber hält dies offenbar nicht für ebenso effektiv wie eine völlige Schließung. Eine Begründung, gar unter Heranziehung von Studien, findet sich im Gesetzesentwurf aber nicht. Die Beschwerde tritt dieser Einschätzung unter Vorlage von Studien (hier, hier und hier) entgegen. Danach seien „Super-spreading“-Ereignisse bei Anwendung umfassender Schutzkonzepte auszuschließen. Der Kammer genügt das nicht. Eine empirische Studie zur Aerosolausbreitung im Konzerthaus Dortmund soll für andere Häuser nicht aussagekräftig sein. Die Studie hatte freilich gerade darauf hingewiesen, dass eine Übertragung bei vergleichbaren Rahmenbedingungen sehr wohl möglich ist. Die Kammer meint zudem, Studien, die während einer niedrigeren Inzidenz erstellt wurden, könnten für Inzidenzen von über 100 nicht herangezogen werden. Diese Aussage überrascht, geht es doch um die Wirksamkeit der Schutzkonzepte, die Infektionen verhindern sollen – das ist nicht von der Inzidenz abhängig. Was sich freilich auf Grundlage der Studien nicht sicher ausschließen lässt, ist, dass es überhaupt zu einzelnen Infektionen kommt. Es dürfte sich also um ein non liquet handeln. Die Kammer erlegt die materielle Beweislast hier den Beschwerdeführer:innen auf. In der Tat ist eine weite Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in empirischen Fragen aus guten demokratietheoretischen Gründen anerkannt. Dass der Gesetzgeber seine Einschätzung nicht näher begründet, mag zumindest mit Blick auf den Zeitdruck verzeihlich sein. Das eigentliche Problem liegt jedoch im Beweismaß. Dass die Infektionsgefahr durch umfassende Schutzkonzepte drastisch gesenkt wird, ist klar. Den Beschwerdeführer:innen wird aber aufgebürdet, die völlige Ungefährlichkeit ihrer Freiheitsausübung zu beweisen. Der Nachweis, dass ambitionierte Schutzkonzepte das Risiko auf Null senken, ist jedenfalls derzeit kaum zu führen.

Die normative Frage: Komplettverbot der Kunstausübung wegen Restrisiken?

Darf nun die Ausübung zentraler Grundrechte komplett verboten werden, nur weil sich Restrisiken nicht ausschließen lassen? Die Kammer beantwortet die Frage für die Kunstfreiheit bei einer Inzidenz von über 100 mit einem klaren ja. In der schwierigen Abwägung zwischen Infektionsschutz und Freiheit ist es natürlich plausibel, bei einer höheren Inzidenz zur Vermeidung eines Kollapses des Gesundheitssystems strengere Maßnahmen zu ergreifen. Das zentrale Problem ist aber, ob mehr Infektionsschutz nicht nur strengere Auflagen, sondern ein Komplettverbot bedeuten darf. Die Kammer verweist zwar darauf, dass Kunst nicht wegen ihrer Inhalte verboten wird und der „Werkbereich“ und digitale Formen des „Wirkbereichs“ übrig bleiben. Das ändert aber nichts daran, dass das Auftreten vor Publikum elementarer Bestandteil der Kunstfreiheit ist, der durch nichts ersetzt werden kann.

Dass die Ausübung dieses wesentlichen Bereichs der Kunstfreiheit trotz bestmöglicher Bemühungen zum Infektionsschutz kompromisslos untersagt werden darf, wirft gerade angesichts des starken Schutzes der Kunstfreiheit im Grundgesetz Fragen auf. Anders als bei den meisten Grundrechten ist hier eben kein Gesetzesvorbehalt vorgesehen. Heute ist zwar – was es nicht immer war – allgemein anerkannt, dass vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte aus Gründen kollidierenden Verfassungsrechts eingeschränkt werden dürfen. Damit ist aber nicht gesagt, dass der Gesetzgeber unter Verweis hierauf beliebige Einschränkungen vornehmen darf. Zum einen spricht normtheoretisch viel dafür, dass die Pflicht zur Unterlassung von Eingriffen nur suspendiert sein kann, wenn die Verfassung eine gegenläufige Handlungspflicht enthält, die bei Unterlassen des Eingriffs verletzt wäre (vgl. hier, S. 264 ff.). Da, wie der Erste Senat jüngst erneut bekräftigt hat, Schutzpflichten nur ein Mindestmaß an Schutz verlangen, wäre von einer Verletzung auszugehen, wenn Kultureinrichtungen ohne Schutzkonzepte weiterbetrieben werden dürften; für den Verzicht auf eine vollständige Schließung gilt dies nicht. Zum anderen ist mit dem Gedanken der Einheit der Verfassung, auf den die Einschränkbarkeit vorbehaltloser Grundrechte gestützt wird, seit Konrad Hesse die Idee der praktischen Konkordanz verbunden: Konflikte zwischen Verfassungsgeboten sollen nicht einseitig aufgelöst werden; vielmehr sollen beide bestmöglich zur Geltung kommen. Das fordert zu Kompromissen auf. Ein klassisches Beispiel ist die Verpflichtung muslimischer Schülerinnen, zumindest mit einem „Burkini“ am Schwimmunterricht teilzunehmen.

Hier hätte die Kunstfreiheit besser zur Geltung kommen können, wenn von Schutzkonzepten eine bestmögliche Effektivität, aber kein Ausschluss jedes Restrisikos gefordert worden wäre. Es spricht zwar vieles dafür, dass die Frage, welche Risiken eine Gesellschaft einzugehen bereit ist, weitgehend im demokratischen Gesetzgebungsprozess entschieden wird. So stand es der Politik auch frei, das Restrisiko der Atomkraft nicht länger hinzunehmen und daher eine bestimmte gewinnorientierte Nutzung von Grundeigentum zu untersagen. Der besondere Schutz der vorbehaltlos gewährleisten Kunstfreiheit könnte sich jedoch darin zeigen, dass Restrisiken für Komplettverbote nicht genügen. Dies würde politische Gestaltungsspielräume sicherlich einschränken. Aber wenn bestimmte Grundrechte auch gegenüber dem Gesetzgeber besonders stark geschützt werden, ist dies Ausdruck einer vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen aus plausiblen Gründen gewählten Verfassungskonzeption, die nicht zugunsten bloßer Berücksichtigungspflichten nivelliert werden sollte.

Damit sollen die besonderen Herausforderungen der Pandemie nicht in Abrede gestellt werden. Die Sorge, bei einem dynamischen Infektionsgeschehen durch zu weitgehende Öffnungen eine Katastrophe zu verursachen, ist verständlich. Dennoch wird stets betont, die Grundrechte seien keineswegs außer Kraft gesetzt. Es müsse immer wieder neu geprüft werden, ob die Eingriffe noch erforderlich sind. Dann darf aber nicht unberücksichtigt bleiben, dass mittlerweile deutlich bessere Schutzkonzepte zur Verfügung stehen. Während man es in Berlin im Oktober noch für vertretbar hielt, nach Einnahme des Sitzplatzes auf das Tragen einer Maske zu verzichten, sind nun FFP2-Masken flächendeckend Standard. Erst seit diesem Frühjahr stehen Schnelltests massenhaft zur Verfügung. Mit diesen Maßnahmen erscheint es vor dem Hintergrund der zum Entscheidungszeitpunkt günstigen Entwicklung (wachsender Impffortschritt besonders unter den Risikogruppen, sinkende Infektionszahlen und geringere Auslastung der Intensivstationen) umso schwieriger zu rechtfertigen, Kulturveranstaltungen allein wegen des Überschreitens der 100er-Inzidenz weiterhin komplett zu verbieten.

Mit keinem Wort verhält sich die Kammer zu der Frage, ob nicht wenigstens eine inzidenzunabhängige Öffnung für Geimpfte grundrechtlich geboten ist. Dies mag eine Konsequenz der schiefen Debatte um die Ungerechtigkeit angeblicher „Privilegien“ sein (hier, hier und hier). Die Politik hat sich nun immerhin dazu durchgerungen, Geimpfte von Ausgangssperren, Kontaktverboten und Quarantänepflichten auszunehmen. Aber auch ein „Anspruch auf Öffnung“ betrifft nicht etwa ein Leistungsrecht auf Schaffung eines kulturellen Angebots, sondern die Aufhebung eines nicht mehr gerechtfertigten Eingriffs.

Schlüssiges Konzept?

Ein echtes verfassungsrechtliches Problem wirft eine andere Ungleichbehandlung auf. Während den Künstler:innen seit Monaten sämtliche Auftritte verboten werden, laufen andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nahezu unbeschränkt weiter. Die Verfassungsbeschwerde macht hier insbesondere eine Ungleichbehandlung gegenüber Gottesdiensten geltend, für die das Bundesverfassungsgericht schon früh Möglichkeiten zur Grundrechtsausübung bei Einhaltung von Schutzkonzepten eingefordert hatte. Die Kammer lässt das nicht gelten. Bei einem Gottesdienst könnten sich alle Teilnehmenden auf die Religionsfreiheit berufen, wohingegen die Besucher von Kulturveranstaltungen nicht selbst Träger der Kunstfreiheit sein dürften. Der Gottesdienst gilt als gemeinsames religiöses Erlebnis, das nur in Präsenz so richtig stattfinden kann, Kultur soll dagegen ohne wirkliche Verluste in den digitalen Raum verlegt werden können. Kultur erscheint, als ein bloßer „Genuss, auf den man bei Bedarf oder im Notfall auch leicht verzichten kann“. „Das ist jetzt nicht notwendig“, ist die Botschaft der Politik. Unverzichtbar scheint es demgegenüber zu sein, weiterhin Autos und – infektionsschutzrechtlich äußerst relevant – Billigfleisch zu produzieren oder in Großraumbüros zu arbeiten. „Ist das Kunst? Dann kann das weg!“ – an dieser Einordnung hat sich seit November nichts geändert. Bei den Kulturschaffenden führt dies verständlicherweise zu Frustration. Ob jede Aktion, in der sich diese Frustration entlädt, zielführend und im Ton angemessen ist, steht auf einem anderen Blatt.

Verfassungsrechtlich führt hier Art. 3 Abs. 1 GG wegen der bloßen Willkürprüfung kaum weiter. Der Gleichheitssatz verpflichtet nicht dazu, entweder alles zu schließen oder alles offenzuhalten. Jedenfalls der Gesetzgeber kann politische Vorrangentscheidungen jenseits infektionsschutzrechtlich begründeter Differenzierungen und überragend wichtiger Gemeinwohlgründe wie der Aufrechterhaltung des Lebensmittelhandels treffen (restriktiver zum Verordnungsgeber der VGH Baden-Württemberg). Weiterführend erscheint es demgegenüber, Grenzen des politischen Spielraums aus dem Schutzgehalt der einzelnen Freiheitsrechte stärker zu konturieren, der sich eben auch in der Pflicht zur Hinnahme von Restrisiken äußern kann. Neben der Religions- und Versammlungsfreiheit verdient auch die vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit einen hervorgehobenen Schutz – insbesondere im Vergleich zur Berufsfreiheit, die die Berufsausübung unter einen weiten Regelungsvorbehalt stellt. Diesen besonderen Schutz auch in schwierigen Zeiten zur Geltung zu bringen, hätte dagegen gesprochen, Kunstausübung in diesem Maße gegenüber der Wirtschaft zu benachteiligen.

Die Zeiten werden nun besser. Bei der absehbaren Wiedereröffnung dürfte sich zeigen, dass viele Menschen in diesem Land nicht ohne Kultur leben wollen. Zu hoffen bleibt, dass eine neu erwachte Begeisterung für die Kultur keine Eintagsfliege wird. Spätestens, wenn wieder einmal über Einsparungen diskutiert wird, besteht die Gelegenheit zu zeigen, dass die der Kultur in diesem langen Pandemie-Winter auferlegten Sonderopfer nicht Ausdruck einer allgemeinen Geringschätzung sind.


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